In den zwei letzten Predigten haben wir im Zusammenhang mit dem Kommens Christi am Ende der Zeit über eines der Vorzeichen Seines Kommens gesprochen, nämlich über den Antichrist.
In dieser letzten Predigt zum Thema Antichrist wollen wir uns auf Grund von Voraussagen mit der Zeit befassen, in der der Antichrist erscheint. Dabei stütze ich mich nochmals auf die Ausführungen der beiden John Henry Newman (1801-1890) und Henry Edward Manning (1808-1892). Die eine oder andere Wiederholung möge man gütigst entschuldigen.
Der Antichrist und seine Zeit
Was wissen wir über den Antichrist und seine Zeit? Erinnern wir uns des Wortes des hl. Apostels Paulus aus dem 2. Brief an die Gläubigen in Thessalonich. Es lautet:
“Zuvor (d. h. vor der Wiederkunft Christi. Red.) muss der Abfall kommen. Der Mensch der Gesetzlosigkeit muss offenbar werden, er, der Sohn des Verderbens; der Widersacher, der sich über Gott und alles Heilige erhebt. Er setzt sich sogar in den Tempel Gottes und gibt sich für Gott aus” (2,3 f.).
Gemäss der Hl. Schrift ist der Antichrist der Gesetzlose, der Mann der Sünde und der Sohn des Verderbens. Die Kirchenväter sowohl des Morgen- als auch des Abendlandes beziehen die Aussagen der Hl. Schrift über den Antichrist auf eine individuelle, menschliche Persönlichkeit. Der Antichrist ist also nicht ein geistiges, gottloses System, wie heute vielfach angenommen wird, sondern eine menschliche Person. Die Persönlichkeit des Antichrist leugnen heisst demnach, das klare Zeugnis der Hl. Schrift und die Lehre der Kirchenväter ablehnen.
Die Zeit des Antichrist ist gezeichnet durch eine furchtbare Apostasie, durch einen schrecklichen Glaubensabfall. Gemäss dem hl. Paulus tritt der Antichrist selbst auf
“in satanischer Macht mit allerlei trügerischen Krafttaten, Zeichen und Wundern und mit allem sündhaften Trug bei denen, die verlorengehen” (2 Thess 2,9).
Es ist eine Zeit beispielloser Not. Christus spricht von einer
“Drangsal, wie es von Anbeginn der Welt bis jetzt keine gegeben hat noch je geben wird. Ja, würden diese Tage nicht abgekürzt, so würde kein Mensch gerettet werden” (Mt 24,21 f.).
Christus allein kann diese Zeit beenden und den Antichrist vernichten. Wiederum sagt der hl. Paulus:
“Ihn wird der Herr Jesus mit dem Hauche Seines Mundes vernichten und durch den Lichtstrahl Seiner Wiederkunft verderben” (2 Thess 2,8).
Der Geist des Antichrist ist am Werke
Der Geist des Antichrist ist bereits am Werke. Dies bezeugt der hl. Apostel Johannes:
“Jeder Geist, der sich nicht zu Jesus bekennt, ist nicht aus Gott. Das ist der Geist des Antichrist, von dem ihr gehört habt, dass er kommt, ja, er ist bereits in der Welt” (1 Joh 4,3).
Im Verlaufe der Geschichte hat sich dieser Geist des kommenden Antichrist in immer stärkeren und mächtigeren Wogen ausgebreitet bis hin zu unserer Zeit. Newman spricht von Männern, die aufgetreten sind als “bemerkenswerte Schatten” des Antichrist. Denn der Antichrist habe genauso seine Vorläufer wie Christus ihn gehabt habe. Als “bemerkenswertesten Schatten” des Antichrist, als “Typus jenes noch schrecklicheren Feindes der Kirche”, der am Ende der Zeiten kommen wird, nennt Newman den heidnischen König Antiochus zur Zeit der Makkabäer. “Dieser Antiochus war der wütende Verfolger der Juden ..., wie der Antichrist es für die Christen sein wird.”
Auch zur Zeit der Makkabäer fand zuerst der Abfall vom Glauben und der Sitte in furchtbarer Weise statt. Dann kam der Feind der Wahrheit in Person des Antiochus. Ein paar Stellen aus den Makkabäern sollen zeigen, was er war:
“Als Antiochus in Ägypten gesiegt hatte, ... kam er nach Jerusalem mit einem grossen Heere und ging selbstherrlich in das Heiligtum und liess wegnehmen den goldenen Altar, die Leuchter und was dazu gehört, den Tisch, darauf die Schaubrote lagen, die Becher, Schalen, goldenen Rauchfässer, den Vorhang, die Kränze und den goldenen Schmuck an der Vorderseite des Heiligtums und zerschlug alles. Und er liess viele Leute töten und lästerliche Gebote ausrufen ...” Dann heisst es weiter: “Und Antiochus liess ein Gebot ausgehen durch sein ganzes Königreich, dass alle Völker zugleich einerlei Gottesdienst halten sollten. Da verliessen alle Völker ihre Gesetze und willigten in die Weise des Antiochus ein. Und viele aus Israel willigten auch darein und opferten den Göttern und entheiligten den Sabbat.” Es wird hinzugefügt: “Aber viele vom Volke Israel waren beständig und wollten nichts Unreines essen und liessen sich lieber töten, als dass sie sich verunreinigten, und wollten nicht vom heiligen Gesetz Gottes abfallen, darum wurden sie umgebracht” (vgl. 1 Makk 1. Kap.).
Nach Newman wird uns hier die Art und Weise des Antichrist gezeigt, der so sein wird wie Antiochus und schlimmer noch. Eindringlich aber macht Newman darauf aufmerksam, dass vor dem Auftreten des Antichrist ein furchtbarer Glaubensabfall stattfinden wird, gemäss dem Pauluswort. “Mit anderen Worten”, sagt Newman, “der Mann der Sünde wird aus einer Apostasie (Glaubensabfall. Red.) geboren oder kommt wenigstens zur Macht durch eine Apostasie oder folgt einer Apostasie oder würde doch nicht sein ohne eine Apostasie. So spricht der inspirierte Text (des hl. Paulus. Red.); und nun beachte man, wie bemerkenswert der Gang der Vorsehung, wie wir ihn in der Geschichte sehen, diese Vorhersage kommentiert hat.”
Wir folgen den Beispielen Newmans: “Die Israeliten, oder wenigstens ein grosser Teil von ihnen, hatten ihre Religion aufgegeben, und dann wurde es zugelassen, dass der Feind eindringe.”
Des weiteren nennt er Kaiser Julian (361-363) mit dem Beinamen der Apostat, “der durch List die Kirche überwältigen und das Heidentum wieder einführen wollte; es ist beachtenswert, dass ihm eine Häresie vorherging, ja dass sie ihn genährt hatte: jene erste große Häresie, die den Frieden und die Reinheit der Kirche verwirrte. Ungefähr vierzig Jahre, bevor er Kaiser wurde, entstand die Pest der arianischen Häresie, welche leugnete, dass Christus Gott ist. Sie frass sich ihren Weg unter den Lenkern der Kirche wie ein Krebs, und was immer der Verräterei der einen, den Missgriffen der andern zuzuschreiben sein mag eines Tages nahm sie in der ganzen Christenheit eine beherrschende Stellung ein. Die paar heiligen und getreuen Menschen, die damals für die Wahrheit zeugten, schrieen es hinaus mit Schaudern und Schrecken über die Apostasie, dass der Antichrist komme. Sie nannten sie ‘den Vorläufer des Antichrist’. Und wirklich, sein Schatten kam. Julian wurde im Schosse des Arianismus erzogen von einigen seiner hauptsächlichen Anhänger ... Aber zu gelegener Zeit fiel er ab zum Heidentum, wurde ein Hasser und Verfolger der Kirche ...”
Als weiteres Beispiel nennt Newman eine andere Häresie, “in ihren Folgen um vieles dauernder und weiterreichend. Sie hatte einen doppelten Charakter; mit zwei Köpfen, wenn ich so sagen darf: Nestorianismus und Eutychianismus, scheinbar einander entgegengesetzt, jedoch auf ein gemeinsames Ziel hinarbeitend: sie leugnete in der einen oder anderen Form Christi gnadenreiche Menschwerdung und neigte dazu, den Glauben der Christen zu zerstören, nicht weniger sicher, wenn auch heimtückischer als die Häresie des Arius. Sie verbreitete sich im Osten und durch Ägypten, jene Kirchen zerstörend und vergiftend, die einst, ach!, die blühendsten gewesen waren, die frühesten Schutzstätten und Festungen offenbarter Wahrheit. Aus dieser Häresie oder wenigstens vermittelst ihrer kam der Betrüger Mohammed und formte seine Religion. Er ist ein anderer besonderer Schatten des Antichrist.”
Nach Newman geben uns diese Beispiele die Warnung, dass der Feind Christi und der Kirche aus einem furchtbaren Glaubensabfall hervorgehen wird.
Die heutige Situation der Kirche
Gibt es nicht Gründe zu der Annahme, wenn wir die heutige Lage der katholischen Kirche betrachten, dass eine furchtbare Apostasie, ein nie dagewesener Abfall stattfindet? Um mit Newman zu sprechen: “Es gibt heute eine Verschwörung des Bösen, die ihre Heere ordnet, in allen Teilen der Welt sich organisiert, ihre Massnahmen trifft, die Kirche Christi wie in ein Netz einschliesst und den Weg bereitet für einen allgemeinen Abfall von ihr. Ob gerade diese Apostasie den Antichrist gebären wird, oder ob er noch aufgeschoben wird, wie er so lange schon aufgeschoben worden ist, können wir nicht wissen; aber in jedem Falle sind die Apostasie und alle ihre Zeichen und Werkzeuge von dem Einen Bösen und schmecken nach Tod.” Zur satanischen List, diesen Glaubensabfall vorzubereiten, gehört nach Newman u. a. dazu die Verspottung vergangener Zeiten und jener Institutionen, welche jene Zeiten in Ehren halten.
Dann zitiert Newman den Bischof Samuel Horsley (1802-1806), dessen Worte gerade für unsere Zeit eine ungeheure Aktualität besitzen: “Die Kirche Gottes auf Erden wird der Zahl ihrer Anhänger nach stark reduziert werden in den Zeiten des Antichrist ... durch die offene Desertion der Mächte der Welt. Diese Desertion wird beginnen mit einer erklärten Gleichgültigkeit gegenüber irgendeiner besonderen Form des Christentums unter dem Vorgeben einer allgemeinen Toleranz; diese Toleranz wird nicht der Ausfluss eines wahren Geistes der Liebe und der Geduld sein, sondern einer Absicht, das Christentum zu unterminieren. Die vorgegebene Toleranz wird weit hinausgehen über eine gerechte Toleranz ... Denn die Regierungen werden gegenüber allen Gleichgültigkeit vorgeben und keinen im Vorzug beschützen ... Von der Toleranz der verruchtesten Häresie werden sie weiterschreiten zur Toleranz des Mohammedanismus, des Atheismus und schliesslich zu einer positiven Verfolgung der Wahrheit des Christentums. In jenen Zeiten wird der Tempel Gottes reduziert werden fast auf die Heilige Stätte, das heisst, auf die kleine Zahl wirklicher Christen, welche den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit ... Die blossen Namenschristen werden alle das Bekenntnis der Wahrheit im Stiche lassen, wenn die Mächte der Welt es im Stiche lassen. Und ich halte dafür, dass dieses tragische Ereignis vorgebildet wird durch den Befehl an den heiligen Johannes (in der Geheimen Offenbarung. Red.) , den Tempel und den Altar zu ‘messen’ und den äusseren Hof ... den Heiden zu überlassen, dass sie ihn mit ihren Füssen zertrampeln (Off 11,1 f.) Das Eigentum des Klerus wird geplündert werden, der öffentliche Gottesdienst beschimpft und erniedrigt von diesen Deserteuren des Glaubens, die ihn einst bekannten, die aber doch nicht Apostaten genannt werden können, weil sie niemals ernstliche Bekenner waren. Ihr Bekennen war nichts weiter als ein Mitmachen mit Mode und öffentlicher Autorität. Im Prinzip waren sie immer, was sie nun offenbar sind, Heiden. Wenn dieses allgemeine Desertieren vom Glauben stattfindet, dann wird der Dienst der Zeugen beginnen in Sack und Asche ... Da wird nichts mehr von Glanz sein in der äusseren Erscheinung ihrer Kirchen; sie werden keine Unterstützung finden von Regierungen, keine Ehren, keine Gehälter, keine Privilegien, keine Autorität, sondern das, was keine irdische Macht wegnehmen kann, was sie von Ihm (Christus. Red.) bekamen, der ihnen den Auftrag gab, Seine Zeugen zu sein.” Soweit Bischof Horsley!
Hören wir noch einmal Newman über diese Zeit des Antichrist: “Diese letzte Verfolgung wird schauererregender sein als irgendeine der früheren: ... sie wird begleitet von einem Aufhören der Spendung der Sakramente, des ‘täglichen Opfers’, und von einer öffentlichen und blasphemischen Errichtung des Unglaubens oder irgendeiner anderen solchen Ungeheuerlichkeit in den heiligsten Winkeln der Kirche ...”
Aus diesem Wissen um das Kommen des Antichrist und der großen Drangsal, aber noch viel mehr aus dem Wissen um das endgültige Kommen unseres Erlösers Jesus Christus zieht Newman für uns alle folgenden Schluss: “Was wir brauchen, ist das Verständnis, dass wir auf dem Platze stehen, auf dem die frühen Christen waren mit demselben Bund und Dienst, denselben Sakramenten und Pflichten; mit der Aufgabe, ... uns bewusst zu machen, dass wir in einer sündigen Welt leben, in einer Welt, die im argen liegt; unsere Stellung in ihr ist, klar zu sehen, dass wir Zeugen in ihr sind, dass Angriffe und Leiden unser Teil sind, so dass wir es nicht für ‘seltsam ‘ halten dürfen, wenn sie über uns kommen, sondern für eine gnädige Ausnahme, wenn sie nicht kommen; (es ist unsere Aufgabe), unsere Herzen wach zu halten, wie wenn wir Christus und Seine Apostel gesehen hätten und ihre Wunder wach für das Hoffen und Harren auf Seinen zweiten Advent, Ausschau haltend danach, ja voll Sehnsucht, seine Vorzeichen zu sehen; oft und viel denkend an das kommende Gericht ... Es wird wie ein Zügel wirken auf unsere eigenwilligen, selbstischen Herzen, zu glauben, dass eine Verfolgung aufbewahrt ist für die Kirche, ob sie nun in unseren Tagen kommt oder nicht ... Sicherlich können wir mit dieser Aussicht vor uns nur fühlen, dass wir sind, was alle Christen wirklich im besten Zustand sind: Pilger, Wächter, wartend auf den Morgen; wartend auf das Licht, eifrig unsere Augen anstrengend für die erste Dämmerung des Tages Ausschau haltend nach dem Kommen unseres Herrn, Seinem glorreichen Advent, wenn Er enden wird das Reich der Sünde und der Bosheit, vollenden die Zahl Seiner Erwählten und vervollkommnen jene, die im Augenblick nur mit Schwäche kämpfen, jedoch im Herzen Ihn lieben und Ihm gehorchen.”
Demütig und voll Vertrauen bitten wir den Herrn:
Du, unser Heiland Jesus Christ,
Den wir verhüllt hier schauen:
Wann wird erscheinen jene Frist,
Auf die wir hoffend bauen?
Dann lass Dich schau’n in Deinem Licht
Von Angesicht zu Angesicht!
Amen.
Quellenhinweis:
— Manning H. E., Der Antichrist, oder die gegenwärtige Krisis des heiligen Stuhls, im Lichte der Weissagung betrachtet, Regensburg 1861.
— Newman J. H., Der Antichrist - Nach der Lehre der Väter, München 1951.