Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck
Wort des Bischofs zum 1. Januar 2019
(Wortgetreue Abschrift)
Zu verlesen in allen Sonntagsgottesdiensten im Jahreskreis C.
12./13. Januar 2019
Liebe Schwestern und Brüder!
I.
„Die alte Zeit ist zu Ende!“
Diesen Satz habe ich nach der Veröffentlichung der wissenschaftlichen Studie über das Ausmaß an sexueller Gewalt durch Priester und Diakone in den zurückliegenden Jahrzehnten formuliert. Deutlich wird darin aufgezeigt, dass der sexuelle Missbrauch mit vielen grundsätzlichen Problematiken in unserer Kirche zu tun hat. Dies bestätigt sich auch dadurch, dass inzwischen in immer mehr Ländern der Weltkirche ähnliche Missbrauchsfälle an die Öffentlichkeit kommen. Es ist klar, dass es grundlegende Missstände in unserer Kirche gab und immer noch gibt, die es dringend zu überwinden gilt. Die Unruhe und der Zorn vieler Menschen zeigen, dass wir vor einer kirchlichen Zeitenwende stehen.
Viele Themen stehen auf der Tagesordnung, die schon seit Jahren kontrovers diskutiert werden. Angefangen vom Verständnis des Weiheamtes und den damit verbundenen hierarchischen Strukturen, vom Zölibat über eine männlich dominierte und priester-orientierte Kultur bis hin zum Ausschluss der Frauen von den Ämtern sowie nicht zuletzt viele Fragen der Sexualmoral.
Die Ereignisse und Diskussionen in den letzten Wochen und Monaten zeigen: Es gibt keine „Tabus“ mehr und keine Fragen, die nicht gestellt werden dürfen. In vielen Gesprächen, aber auch in zahlreichen Zuschriften wird mir von Gläubigen signalisiert, dass eine breite Mehrheit der Gläubigen und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit eine ernsthafte Erneuerung unserer Kirche erwartet. Wir Bischöfe und unsere Kirche insgesamt haben inzwischen einen dramatischen Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlust erlitten, der christliches Leben in der Kirche ernsthaft bedroht, weil immer mehr Gläubige aus unserer Kirche austreten und selbst diejenigen einen Kirchenaustritt erwägen, die sich das bislang nie hätten vorstellen können.
Diese schwere Krise fällt zusammen mit den ohnehin schon schwierigen Veränderungsprozessen, denen wir uns in unserem Bistum seit vielen Jahren stellen müssen. Aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklungen der zurückliegenden Jahrzehnte sind wir dabei, eine deutlich kleinere Kirche zu werden, die mit weniger finanziellen Mitteln auskommen muss. Zugleich spüren wir, dass unsere Art und Weise, den Glauben zu verkünden und zu leben, für die Menschen von heute ganz anders werden muss, um verstanden und für das eigene Leben relevant zu werden. So erleben wir vielfache Herausforderungen, die schnell zu Überforderungen werden.
Die Pfarrentwicklungsprozesse führen viele Gemeinden und Pfarreien in schwierige Auseinandersetzungen, die oft auch persönliche Konflikte hervorrufen und im schlimmsten Fall zu Misstrauen, gegenseitigen Vorwürfen und schweren Zerwürfnissen führen. Ich kann nur darum bitten und an uns alle appellieren, dass wir in diesen schwierigen Zeiten achtsam und behutsam miteinander umgehen. Niemand von uns, auch nicht Ihr Bischof, hat Patentrezepte, um die richtigen Wege für die Zukunft zu finden. Wir alle machen Fehler und treffen sicher auch nicht immer die richtigen Entscheidungen – ich schließe meine Mitarbeitenden und mich selbst bewusst mit ein. Umso wichtiger ist es, dass wir uns unsere grundsätzliche Verbundenheit als Christinnen und Christen in der Kirche nicht nehmen lassen. Wir brauchen den Zusammenhalt in diesen Zeiten, weil es darum geht, gemeinsam den Glauben an das Evangelium Jesu Christi zu bezeugen und auch kommenden Generationen in unserer gesamten Region zu ermöglichen, den christlichen Glauben als Fundament und Orientierung für ein glückendes Leben zu entdecken. Es geht nicht darum, eine bestimmte Gestalt der Kirche zu retten, wie sie uns vertraut geworden ist, sondern nach Wegen zu suchen, wie die Menschen von heute und morgen mit dem Gott Jesu Christi in Berührung kommen können.
Wir befinden uns also in einer vielfachen Krisensituation, die sich nun zuspitzt und viel Enttäuschung, Ärger und Zorn mit sich bringt. All das ist zugleich auch Ausdruck einer großen Traurigkeit und Ohnmacht über das unwiderrufliche Aus einer kirchengeschichtlichen Epoche. Die alte Zeit ist tatsächlich zu Ende.
II.
Diese alte Zeit war von einer großen Selbstverständlichkeit geprägt, mit der christlicher Glaube und die Zugehörigkeit zur Kirche das Leben vieler Menschen bestimmte. Nachfolgende Generationen wuchsen in unsere Gemeinden schnell hinein und übernahmen viele kirchliche Traditionen und Strukturen. Spätestens in den 1960-er Jahren begann jedoch ein radikaler Wandel, der zu einer neuen Freiheit in unserer Gesellschaft führte. Alte Traditionen und Autoritäten werden in Frage gestellt, Glaube wird zu einer Frage der persönlichen Entscheidung, und mehr und mehr entfernen sich sehr viele Menschen von unserer Kirche. Das ist traurig für alle, denen christlicher Glaube und Kirche nach wie vor am Herzen liegen. Umso schlimmer ist es dann, wenn sie jetzt den Eindruck haben, dass unsere Kirche durch eigenes Versagen einen Abwärtstrend beschleunigt.
Vor einigen Wochen erhielt ich einen Brief eines Katholiken, der mit unserer Kirche sehr verbunden ist. Darin bekannte er: „Lange bin ich mit einer unverbrüchlichen katholisch-kirchlichen Sozialisierung durch mein Leben gegangen. Die ist nunmehr so erodiert, wie ich es mir hätte niemals vorstellen können. Auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis verlassen scharenweise Menschen, von denen ich es nie geglaubt hätte, die Kirche mit sehr wohlgewogenen Argumenten. Ich kann es mittlerweise sehr gut nachvollziehen und bin selbst mehr als hoch gefährdet.“ Diese Worte stehen stellvertretend für die Zweifel und die Verzweiflung vieler gläubiger Menschen. Auch das bestätigt meine Überzeugung: Unsere Kirche kann und darf nicht bleiben, wie sie ist.
Ich weiß, dass in den zurückliegenden Jahren immer wieder von Reform- und Veränderungsnotwendigkeiten in der Kirche die Rede war. Viele von Ihnen mögen solche Reden kaum noch hören und haben die Hoffnung längst aufgegeben, dass unsere Kirche überhaupt noch ein Potenzial zur Erneuerung in sich trägt. Manche haben vielleicht aber auch die Sorge, dass durch den Druck der gegenwärtigen Krise zu viel verändert werden könnte und unsere Kirche sich in eine falsche Richtung entwickelt. So gehen manche Auffassungen unter uns weit auseinander und drohen uns zu zerreißen.
III.
Ich wage darum aus Überzeugung am Beginn dieses neuen Jahres an eine biblische Ermutigung zu erinnern. Mir kam sie in den letzten Wochen in den Sinn. Sie stammt aus der Zeit, in der das Volk Israel in der babylonischen Gefangenschaft saß und die Hoffnung auf eine eigenständige Zukunft zu verlieren drohte. Der Prophet Jesaja ahnte jedoch, dass mit dem an die Macht gekommenen Perserkönig Kyros ein historischer Wandel möglich werden könnte. Er sollte recht behalten – aber zunächst war es wichtig, im Volk Israel die Resignation zu vertreiben, damit im entscheidenden Moment die Kräfte frei würden, um die Chance des Wandels auch zu ergreifen. So appellierte er mit eindrucksvollen Worten, den Blick nach vorn zu richten und nicht an dem festzuhalten, was zu Ende gehen sollte. – Wörtlich spricht Jesaja:
„Denkt nicht mehr an das, was früher war,
auf das, was vergangen ist, achtet nicht mehr.
Siehe, nun mache ich etwas Neues,
schon sprießt es,
merkt ihr es nicht?“
(Jesaja 43,18f)
Der große Prophet des Alten Testaments ermutigt heute, in der gegenwärtigen Krise nicht nur auf die Abgründe und Ausweglosigkeiten zu blicken, sondern vor allem die Anfänge einer Erneuerung zu entdecken und wahrzunehmen: „Schon sprießt es, merkt ihr es nicht?“, fragt Jesaja geradezu eindringlich und fordert dazu auf, heute danach zu schauen, was an Neuem bereits „sprießt“. In den gegenwärtigen Auseinandersetzungen und der damit verbundenen traurig–zornigen Stimmungslage kann leicht übersehen werden, was sich bereits neu entwickelt und Wege aufzeigt für eine Kirche, die neu wird.
So begegne ich am Rande oder außerhalb unserer Kirche immer wieder Menschen, die ein großes Interesse an den Werten und Inhalten des christlichen Glaubens zeigen. Bei vielen spüre ich eine Sehnsucht nach religiöser Erfahrung. Auch unter jungen Menschen gibt es eine Offenheit für die großen Fragen des Lebens und des Glaubens. Wer an unseren kirchlichen Schulen, im Religionsunterricht oder in der Jugendpastoral mit jungen Menschen zusammenkommt, kann das sicher bestätigen.
Es ist befreiend, wenn in unserer Kirche in der Krise eine neue Offenheit und Ehrlichkeit wachsen. Frühere Tabus zu vielen Glaubens- und Kirchenthemen lösen sich auf, die Wirklichkeit wird nüchtern wahrgenommen, Fragen und Zweifel dürfen ausgesprochen werden. Das mag zwar verunsichern und löst auch Konflikte aus – aber Gottes Geist wirkt gerade dort, wo Menschen ihrer inneren Unruhe folgen, um dann in Gespräch und Auseinandersetzung neue Einsichten zu finden.
Es wächst die Sehnsucht nach spürbarer Erfahrung Gottes. Vertrauliche kirchliche Formen lösen sich zwar auf, aber gerade dann wird auch spürbar, was für das persönliche Leben und auch für unser Miteinander wirklich von Bedeutung ist: Die Berührung mit Gott; das Wissen um eine Lebensquelle, die tiefer reicht als alles Irdische; die Faszination der Kernbotschaften des Evangeliums, die Beziehung zu Jesus Christus. Die Kirche ist kein Selbstzweck, sie ist einzig und allein dafür da, um zwischen uns Menschen und Gott eine Verbindung zu schaffen und für die Wahrheit sowie Verbindlichkeit unseres Glaubens einzustehen. Deshalb ist auch nicht die „Rettung“ der Kirche und ihrer äußerlichen Institutionen um ihrer selbst willen wichtig – vielmehr geht es darum, neue Wege zu finden, wie der Glaube an Gott für heutige und künftige Generationen ermöglicht werden kann.
Es wächst der Mut zu Experimenten: In Pfarreien und Gemeinden, in unseren Einrichtungen und Gemeinschaften werden neue Weisen des christlichen Lebens erprobt. Wer hätte noch vor ein paar Jahren gedacht, dass Wortgottesdienste selbstverständlich von Frauen und Männern geleitet werden, auch wenn sie nicht geweiht sind? Wer hätte gedacht, dass ehrenamtliche Frauen und Männer auf berührende und eindrucksvolle Weise unsere Verstorbenen begraben? Unsere Zukunftsbild-Projekte zeigen beispielhaft, welche Anziehungskraft christlicher Glaube nach wie vor haben kann: Die Segensfeiern für Neugeborene sind ein großer Erfolg, der neue Pilgerweg findet guten Anklang, und die sozialpastoralen Initiativen an vielen Orten unseres Bistums sind ein großer Segen.
Der Wunsch nach der Überwindung der konfessionellen Grenzen wächst weiter und hat mit dem Reformationsgedenken 2017 neuen Schwung erfahren. Ich habe den Unmut vieler von Ihnen über den Streit unter uns Bischöfen wahrgenommen, als wir uns in der Frage der Zulassung konfessionsverbindender Paare zur Eucharistie nicht verständigen konnten. Das zeigt mir, wie groß die Sehnsucht nach der Gemeinschaft unter uns Christen geworden ist. Wir werden diesem Ziel immer näher kommen und es auch erreichen, wenn wir in unserem Bistum weiterhin konsequent das Miteinander suchen und auf das Wirken von Gottes Geist setzen. Ganz besonders freut mich, dass es im Rahmen der Pfarreientwicklungsprozesse auch den Mut gibt, sich auf die gemeinsame Nutzung von Gebäuden oder sogar Kirchen einzulassen. So wird deutlich, dass wir Christen zusammengehören und nur gemeinsam ein glaubwürdiges Zeugnis für Jesus Christus ablegen können. Je mehr wir miteinander leben und handeln, umso besser wachsen wir zusammen und werden dann auch eines Tages die Gemeinschaft am Tisch des Herrn feiern können.
Das Neue „sprießt“ für mich auch dort, wo die Debatten um die grundsätzlichen Fragen unserer Kirche lebendig und kontrovers geführt werden. Die Missbrauchsstudie deckt schonungslos auf, dass die schon seit vielen Jahren diskutierten Streitfragen in unserer Kirche auf Problemfelder hindeuten, die wir Bischöfe und andere wohl nicht ausreichend wahrgenommen haben. Gerade die Diskussionen um das Verständnis und die Ausgestaltung des Priesteramtes sind dringend nötig. Das sakramentale Weiheamt in der Kirche hat einen großen Wert, weil es uns mit den Anfängen unserer Kirche und mit Jesus Christus als unserer Mitte verbindet. Dieses so wichtige Amt ist inzwischen nicht nur durch den Skandal des sexuellen Missbrauchs in eine schwere Krise geraten. Die Zahl der Interessenten für das Priesteramt ist dramatisch gesunken. Nur noch sieben junge Männer bereiten sich derzeit auf die Priesterweihe in unserem Bistum vor. Zugleich bleibt offen, wie es gelingen kann, Frauen gleichrangig an den Führungsaufgaben in unserer Kirche zu beteiligen, wenn das Weiheamt für sie nicht möglich bleiben soll. Ich bin überzeugt: Der Heilige Geist drängt uns dazu, mutig und frei darüber nachzudenken, wie das priesterliche Amt in einer neuen Zeit der Kirche gelebt werden kann – deshalb brauchen wir auch keine Angst davor zu haben, bislang Undenkbares zu denken.
Schließlich verstehe ich auch die Forderungen nach Veränderungen in Fragen der kirchlichen Lehre als ein Signal, das etwas Neues „sprießen“ will. Schon lange gehören viele Felder der Sexualmoral dazu. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse provozieren uns zu Recht. Insbesondere die äußerst negative Bewertung der Homosexualität braucht eine dringende Korrektur. Ich selbst bin hier durch meine Persönlichen Begegnungen und eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesem Thema zu neuen Einsichten gekommen. Darum bin ich überzeugt davon, dass sich unsere kirchliche Lehre in dieser und anderen sexualethischen Fragen weiterentwickeln muss.
IV.
In verschiedenen Gremien unseres Bistums haben wir bereits in den letzten Wochen Gespräche darüber geführt, welche Konsequenzen wir für unser Bistum aus den Einsichten der Missbauchsstudie sowie den daraus folgenden Debatten ziehen können. Erste Maßnahmen haben wir schnell ergriffen, wie beispielsweise die Übergabe der Personalakten aller beschuldigten Priester und Diakone aus den zurückliegenden Jahrzehnten an die Staatsanwaltschaft. Zugleich liegt mir daran, dass wir zu vielen Grundsatzfragen eine offene Debatte führen, um herauszufinden, was wir in unserem Bistum tun können und welche Impulse wir in die Gesamtkirche einbringen. In den konkreten Fragen der weiteren Aufarbeitung der Missbrauchsfälle, des Umgangs mit Betroffenen und der Überprüfung und Verstärkung unserer Präventionsbemühungen sind wir auch auf eine gute Zusammenarbeit mit den anderen Diözesen Deutschlands angewiesen.
Unabhängig davon, dass wir nur mit den übrigen deutschen Diözesen oder der Weltkirche tun können, will ich in unserem Bistum den begonnenen Weg fortsetzen und konkrete Handlungsoptionen für uns entwickeln. Viele Anregungen, Vorschläge und Einschätzungen aus diversen Gesprächen in den Gremien unseres Bistums werden in den nächsten Wochen ausgewertet und münden in konkrete Vorschläge, welche Themen mit welchen Zielperspektiven weiter bearbeitet werden sollen. Fortlaufend sollen weitere Impulse aus laufenden Diskussionen aufgenommen werden.
Ich habe dazu eine kleine Projektgruppe unter der Leitung des Generalvikars beauftragt, den Prozess der Auswertung der Missbrauchsstudie für unser Bistum zu steuern und konkrete Initiativen sowie Arbeitsgruppen auf den Weg zu bringen. Die von mir angesprochenen Themen sollen dabei ausdrücklich Berücksichtigung finden.
V.
Liebe Schwestern und Brüder,
ich weiß, dass viele von uns durch die unterschiedlichen Prozesse in unserem Bistum unter großen Druck stehen. Viele, die sich ehrenamtlich und hauptberuflich einsetzen, kommen manchmal an die Grenzen ihrer Kräfte. Darum bitte ich darum, dass wir uns gegenseitig nicht überfordern und uns in Geduld üben, wenn manches nicht so schnell gelingt, wie wir es uns wünschen. In diesen Krisenzeiten ist es wichtig, dass wir aufeinander achtgeben und bei aller Notwendigkeit unseres Engagements auch auf Gottes Geist vertrauen, der unser Mühen mittragen wird. So setze ich daher auch auf die Kraft unseres Betens.
Ich wünsche Ihnen von Herzen ein gesegnetes Neues Jahr, in dem Gott uns begleiten und stärken möge. ER ist es, der uns in eine Zukunft führt, die Neues und Gutes mit sich bringt. Ihnen, Ihren Familien und allen, die zu Ihnen gehören, erbitte ich Gottes reichen Segen und in allem viel Gutes!
Ihr
+ Dr. Franz-Josef Overbeck
Bischof von Essen