„Meine Prognose für die Theologie in Deutschland ist düster."
Ein Gespräch mit Prälat Prof. Dr. Georg May
Georg May wurde am 14. September 1926 in Liegnitz/Schlesien geboren. Nach Versetzung des Vaters, der Reichsbahnbeamter war (1933), wuchs er auf in Reichenbach/'Eulengebirge, wo er die Volks- und die Oberschule besuchte. Nach Zwangsarbeit in einer Rüstungsfabrik und Wehrdienst begann er im Herbst 1945 das Studium der Philosophie und der Theologie in Breslau. Ersetzte es fort in Fulda und in München sowie in Neuzelle/Oder. Dort wurde er am 1. April 1951 zum Priester geweiht. Er leistete in der DDR Dienst in der Seelsorge (1951-1953) und war anschließend Assistent am Priesterseminar in Erfurt (1953-1955). Sein Oberhirte hatte ihn zum Offizial ausersehen. So promovierte er 1955 im Kirchenrecht in München. Doch sein Lehrer Klaus Mörsdorf bewog die kirchlichen Autoritäten, May zur Habilitation freizugeben. In München wurde er nach dem kanonistischen Spezialstudium Privatdozent an der Universität (1957) und danach in Freising Professor für Kirchenrecht (1958). 1960 folgte er einem Ruf an die Universität Mainz. Dort lehrte er bis 1994. Rufe an die Universitäten Bochum und Regensburg lehnte er ab. May blieb die ganze Zeit über Seelsorger, der die priesterlichen Dienste der ausnahmslosen täglichen Meßfeier, der ständigen ununterbrochenen Verwaltung des Bußsakraments und der selbstverständlichen sonntäglichen Predigt vornahm. Am 1. April 2016 konnte er auf 65 Jahre priesterlichen Wirkens zurückblicken. Papst Benedikt XVI. verlieh ihm die Würde eines Apostolischen Protonotars.
Sein neuestes Buch „300 Jahre gläubige und ungläubige Theologie" hat über 1.100 Seiten. Es zieht eine ernüchternde Bilanz. Der Verfasser erhofft das Eintreten einer Besinnung, daß die modernistische Theologie zur Selbstzerstörung der Kirche führt und daß eine Wende zu glaubenstreuer Theologie unerläßlich ist. Die KU sprach mit dem Autor.
Kirchliche Umschau: Hwst. Herr Prälat May, Sie treten mit einem Buch an die Öffentlichkeit, das den auf den ersten Bück merkwürdigen Titel trägt: ,,300 Jahre gläubige und ungläubige Theologie". Kann man ohne Glauben denn Theologie betreiben? Wie würden Sie den Inhalt des Buches zusammenfassen?
Prälat Georg May: Man kann sehr wohl ohne - übernatürlichen - Glauben „Theologie" betreiben. Das geschieht dadurch, daß man die von gläubigen Theologen ausgebildeten Begriffe und Formeln weiterverwendet und ihnen einen ungläubigen Sinn unterlegt. Man kann an die Gegenstände des Glaubens und an die Quellen der Offenbarung als Atheist, Agnostiker oder Indifferenter herangehen und die „Ergebnisse" solcher Beschäftigung als Theologie ausgeben. Solange der Geldhahn offen ist, läuft die ungläubige Theologie wie geschmiert. Ungläubige Theologie ist gefragt. Sie bedient die libertinäre Wohlstandsgesellschaft und macht sich bezahlt. Ungläubige Theologie ist selbstverständlich ein Zerrbild der Theologie. Theologie als Rede von Gott setzt notwendig den Glauben voraus. Der christliche Glaube umfaßt den gesamten Inhalt der Offenbarung Gottes. Er kulminiert in gewisser Hinsicht in der metaphysischen Gottessohnschaft Jesu Christi. Daher mache ich den Unterschied zwischen gläubiger und ungläubiger Theologie vornehmlich an der Stellung eines jeden Theologen zu Jesus Christus aus. Gläubige Theologie bekennt ihn als den präexistenten Gottessohn, ungläubige Theologie bestreitet seine seinshafte Gottessohnschaft. Der Mainzer Katechismus von 1926 stellte lapidar fest: „Wer nicht glaubt, daß Jesus Christus wahrer Gott ist, hat keinen Anspruch auf den Namen eines Christen." Diese Aussage trifft zu.
Kirchliche Umschau: Das Buch hat über 1100 Seiten und hat eine vertikale und eine horizontale Perspektive. Sic gehen in die Geschichte, bis ins 18. Jahrhundert zurück, dann beleuchten Sie die aktuellen protestantischen und katholischen „Strömungen" nach Namen und Themen.
Was war Ihre Absicht, eine solche Standortbeschreibung zu geben?
Prälat Georg May: Der Ausgangspunkt meiner Arbeit an dem Buche ist die seit dem Konzil immer katastrophaler werdende innere Verfassung der katholischen Kirche. Sie läßt sich an zahlreichen Phänomenen ausmachen, vielleicht am spürbarsten am Mangel an Priestern und deren zunehmender Labilität, aber auch am Verschwinden der klösterlichen Gemeinschaften bzw. an deren Zusammenbruch, letzterer besonders deutlich nachweisbar bei den Jesuiten. Die Ursachen für diese Lage sind viele, aber eine überragt alle; Es ist der Kollaps des Glaubens. Ich habe fast mein ganzes aktives Priesterleben als Priestererzieher zugebracht und in dieser Eigenschaft das religiöse (und sittliche) Befinden der jungen Männer, die das Priestertum anstreben, aufmerksam und gründlich beobachtet. Dabei habe ich die verheerenden Auswirkungen falscher und zersetzender Theologie festgestellt. Nicht die Forderung des Zölibats läßt Priesterkandidaten (und Priester) in ihrem Lebensplan scheitern, sondern der Verlust oder die Unsicherheit im Glauben. Wer von lebendigem Glauben erfüllt ist, bejaht und beobachtet die lebenslange Enthaltsamkeit als eine Selbstverständlichkeit. Die Kirche will Diener haben, die großmütig genug sind, sogar ihr Leben für ihre Schafe herzugeben. Wie könnte sie dies von den Schwachen erwarten, die nicht einmal eine Neigung besiegen können? Die Krise der Kirche ist eine Krise des Glaubens. Wir befinden uns in Deutschland seit geraumer Zeit in einer Lage, in der es schwierig, vielleicht unmöglich ist, auf jede religiöse und sittliche Frage eine zuverlässige, mit der Lehre der katholischen Kirche übereinstimmende Antwort zu erhalten. Man wird zugeben, daß dies vom Standpunkt eines gläubigen Bewußtseins unerträglich ist. Meine Absicht bei der Abfassung des Buches bestand nun darin, den unsicher gemachten, aber gutwilligen Christen eine Hilfe für die Bewahrung und das Verständnis des wahren Glaubens zu bieten. Ich habe versucht, sie bei der dringend erforderlichen Unterscheidung Produkten zu unterstützen. Zu diesem Zweck mußte in die Geschichte zurückgegriffen werden, weil dort die Wurzeln der unchristlichen und unkatholischen Ansichten zu finden sind. Es mußten Namen und Schulen genannt werden, die für diesen erschreckenden Vorgang verantwortlich sind. Gleichzeitig durften jene Theologen nicht übergangen werden, die richtig lehren und auf die — ohne Rücksicht auf verflossene Zeiträume - mit Nutzen zurückgegriffen werden kann. Die Wahrheit veraltet nicht.
Kirchliche Umschau: Sie beginnen mit der Aufklärung, ihrer Rezeption im Protestantismus und ihrem Ausgreifen auf die katholische Theologie. Kann man sagen, Sic konstatieren einen späten Sieg Luthers?
Prälat Georg May: Die geistige Atmosphäre Europas und Amerikas ist zutiefst von den Vorstellungen und Maximen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts geprägt. Damals wurden die Denkmodelle ausgebildet, die heute noch herrschend sind. Die Diskussion um die Aufklärung und ihre sehr verschiedenen Richtungen ist mir geläufig. Ihre Entstehung in protestantischen oder Protestantisierenden Umfeldern ist gewiß. Die Aufklärung, und zwar auch die offenbarungsfeindliche Aufklärung hat zweifellos ihre Prämissen in der Theologie Luthers. Kant und Lessing sind ohne dessen Vorstellungen nicht zu erklären. Das Schrifttum Luthers ist außerordentlich reich an Widersprüchen und Gegensätzen. So kann man auch einen Strang ausmachen, der zu der rationalistischen Aufklärung fuhrt. Die Aufklärung vermachte der Theologie vor allem zwei „Errungenschaften": die Bibelkritik und die Dogmenkritik. Sie werden heute wie selbstverständlich gehandhabt. Im protestantischen Bereich führte die Einebnung der christlichen Offenbarung bis zu deren Preisgabe. Dennoch wird munter weiter „Theologie*' betrieben. Nach dem Vorgang im Protestantismus gab es auch in der katholischen Theologie destruktive Tendenzen, die sich einerseits als Tolerantismus, Indifferentismus, Febronianismus, Antikurialismus und Josephinismus darstellten, andererseits aber in Rationalismus und Naturalismus mündeten. Die Abhängigkeit vom Protestantismus hat seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine neue Dimension erreicht. Der entfesselte sogenannte katholische Ökumenismus biedert sich ungescheut den protestantischen Verirrungen an und verkauft sie als „ökumenische Theologie". Für die (in der nachkonziliaren Kirche aufgegebene) Disziplin der Apologetik wurde sich hier ein weites Arbeitsfeld eröffnen.
Kirchliche Umschau: Kann man als Katholik das „Reformationsjubiläum" feiern?
Prälat Georg May: Die sogenannte Reformation ist die Urkatastrophe des Christentums in Europa und darüber hinaus. Von ihr leiten sich der Untergang des Katholizismus in vielen Ländern sowie die Entkirchlichung und die Entchristlichung des sogenannten Abendlandes her. Das „Reformationsjubiläum" ist für jeden Christen, erst recht für jeden katholischen Christen ein Anlaß zu Schmerz und Gram. Da gibt es nichts zu feiern. Die deutschen Bischöfe wären gut beraten, wenn sie für 2017 ein Trauerjahr angekündigt hätten. Aber was ist von denen zu erwarten, die ihre Anvertrauten in die protestantischen Hürden treiben? Ein gläubiger katholischer Christ kann die heute zu beobachtenden Sympathieausbrüche für Martin Luther und sein Werk nur als eine tiefgehende, verhängnisvolle Verirrung betrachten. Seit dem Schrifttum von Adolf Herte und Joseph Lortz (übrigens beide Mitglieder der NSDAP) hat die Verzeichnung der sogenannten Reformatoren immer groteskere Ausmaße angenommen. Die großen Werke von Deniflc und Grisar über Luther sind mitnichten überholt. Hier wird der ehemalige Augustinermönch so dargestellt, wie er wirklich war, nicht, wie es die Legende will. Die genannten Bücher hätten eine Neuauflage verdient. Die Quellen, die seit ihrem Erscheinen bekannt geworden sind, ändern an dem Bild des „Reformators" nichts. Die Theologie, die aus dem Auftreten Luthers entstanden ist, verkehrt und verzerrt die Heilsbotschaft des Evangeliums. Der Protestantismus ist eine (verurteilte) Irrlehre. Auch als deutscher Patriot kann man das Auftreten Luthers nur mit Betrübnis und Wehmut betrachten. Die religiöse Spaltung unseres Volkes, der Dreißigjährige Krieg, die jahrhundertelange Diffamierung und Zurücksetzung der katholischen Bevölkerung, der offene und latente Kulturkampf (der bis heute anhält) sind die bleibenden Schäden aus dem Abfall des 16. Jahrhunderts. Allein die Rückkehr der Protestanten zu der Mutterkirche, die sie zu ihrem eigenen Schaden verlassen haben, kann unserem Volk zum Heile werden.
Kirchliche Umschau: Ihr Buch gibt auch eine spannende Vorgeschichte des Modernismus. Hier legen Sie den Fokus auf die Reaktion der verschiedenen Fakultäten. Welche Topographie der akademischen Gottesgelehrtheit im 19. Jahrhundert würde sie skizzieren?
Prälat Georg May: Ich gehöre der Generation katholischer Priester an, die mit Zustimmung und Überzeugung den Antimodemisteneid abgelegt hat. Seine Abschaffung ändert nichts an seiner Notwendigkeit. Pius X. hat den Modernismus richtig als „Sammelbecken aller Häresien" beschrieben. Seit geraumer Zeit ist nun im Zeichen des Revisionismus in der katholischen Theologie eine Umwertung in der Beurteilung der modernistischen Bewegung im Gange, in welcher der ehemalige (laisierte) Redemptoristenpater Otto Weiß führend ist. Die modernistischen Theologen werden regelmäßig als wohlmeinende und fundierte, vorwärtsgerichtete Gelehrte ausgegeben, die an der Härte und Uneinsichtigkeit des (römischen) Lehramtes gescheitert sind. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Ansichten, welche die katholischen Modemisten im 20. Jahrhundert vortrugen, stammen aus dem 19. Jahrhundert. Die modernistischen Verirrungen sind ausnahmslos vom Protestantismus bezogen. Die katholischen Modemisten waren (und sind) bar jeder schöpferischen Kraft. Gewöhnlich begannen sie mit der rationalistischen Auslegung der Heiligen Schrift. Luther hatte bekanntlich einem jeden Leser der Bibel die Ermächtigung erteilt, sie nach seiner Einsicht zu interpretieren. Damit war der Auslegung „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft*' die Tür geöffnet. Die Erklärung der Heiligen Schrift durch die Modernisten (und ihre Nachfolger) eliminierte aus ihr alles Übernatürliche. Aus den gewaltigen Machttaten Jesu wurden Propagandamärchen. Seine Auferstehung vom Tode wandelte sich zu einem psychischen Vorgang in den Jungem. Von der Bibelerklärung aus wurde das gesamte Gebäude der Dogmen zum Einsturz gebracht. Die modernistischen Theologen bestritten nicht bloß einzelne Wahrheiten, sondern untergruben die Fundamente des Glaubens und der Erkenntnis. Es ging (und geht) hier um Sein oder Nichtsein des Christentums und der Kirche. Hätten sie ungestört wirken können, hätten sie das Ende des Katholizismus herbeigeführt. Dank des Eingreifens des römischen Lehramtes wurde das Schlimmste verhindert.
Kirchliche Umschau: Kardinal Newmans Position bewerten Sie sehr differenziert, sehen ihn nicht als "dritten Weg" zwischen Modernismus und romtreuer Theologie. Sie sagen: „Die Bemühungen, ihn zu einem theologischen Übervater zu erheben, sind abwegig."
Prälat Georg May: Der englische Konvertit John Henry Newman ist eine verehrungswürdige Erscheinung. Seine Bedeutung für den Katholizismus des 19. Jahrhunderts in Großbritannien ist gesichert. Newman hat seine unbestreitbaren Verdienste um die katholische Theologie. Sie liegen auf dem Gebiet der Apologetik und hier wieder auf der originellen Beschäftigung mit dem Gedanken der Entwicklung. Seine Grenzen sind offensichtlich. Niemand hat sie deutlicher gesehen als er selbst. Newmans Theologie wurde und wird vielfältig verzeichnet und mißbraucht, regelmäßig in durchsichtiger Absicht. Da ihm meist die strenge Begrifflichkeit abgeht, ist es nicht schwer, ihn für theologische Positionen in Anspruch zu nehmen, die seiner katholischen Überzeugung widersprechen. Newman war mit Sicherheit kein Modemist. Er verabscheute den (weltanschaulichen) Liberalismus, der zu seiner Zeit in der protestantischen Theologie die Herrschaft angetreten hatte. Newman stand ohne Vorbehalt zu den am 18. Juli 1870 verabschiedeten Dogmen. Er hatte auch keine Einwände gegen das am 8. Dezember 1854 verkündigte Mariendogma. Newman wird häufig im Zusammenhang mit Henry Edward Manning genannt. Dieser schneidet dabei gewöhnlich nicht gut ab. Ich halte diese Sicht für falsch. Der Erzbischof von Westminster war Newman als Mensch, Seelsorger und Regent überlegen. Er hat den englischen Katholizismus zusammengeführt und ihm Selbstbewußtsein gegeben.
Kirchliche Umschau: Die katholische Theologie des 20. Jahrhunderts sehen Sie bestimmt vom Modernismus. Und dies nicht erst seit 1965. Was ist das „Neue" am Modernismus? Warum konnte er so viele Geister verführen?
Prälat Georg May: Der Modernismus bezeichnet einmal eine bestimmte Periode der katholischen Theologie am Beginn des 20. Jahrhunderts. Aber er ist auch das Prägemal einer gewissen Richtung der „katholischen" Theologie und insofern eine bleibende Versuchung für jeden Theologen. Er unternimmt es, alles Übernatürliche in der Geschichte natürlich zu erklären und damit zu eliminieren; er macht die (irrige) Voraussetzung des Immanentismus. „Neu" am (katholischen) Modernismus ist sein Abweichen von der kirchlichen Lehre. Was „neu" ist, pflegt regelmäßig Beifall zu finden; es gilt als „modern" und „fortschrittlich". Die modernistischen Meinungen „kommen an", weil sie eingängig sind, die Geheimnisse des Glaubens auflösen und der Spaßgesellschaft ein Alibi verschaffen. Was aus gläubiger Sicht als Auflösungserscheinung eingestuft werden muß. gilt als zeitgemäß. Die Verführung von Theologen zur modernistischen Theologie erklärt sich aus mehreren Ursachen. Einmal ist es der stark ausgebildete Trieb zur Nachahmung. Was vorangehende akademische Lehrer vortragen, wird von ihren Schülern leicht übernommen. Diese Genealogie verhilft regelmäßig zu Förderung der Karriere. Sodann gilt die modernistische „Methode" als modern und fortschrittlich. Nur wenige besitzen den Mut und das Rückgrat, gegen gängige Modelle immun zu bleiben. Trends und Mainstreams sind mächtige Realitäten, leider auch in der katholischen Theologie. Weiter bietet der Modernismus den aufmüpfigen und ressentimentgeladenen Theologen (deren es nicht wenige gibt) die Gelegenheit gegen das kirchliche Lehramt auszuschlagen und ihre gläubigen Kollegen herabzusetzen. Schließlich klinkt man sich mit modernistischen Gedanken und Vorstellungen in die Woge des Ökumenismus ein. Was im Protestantismus seit langer Zeit eine Heimstatt hat, wird übernommen; man wird zu einem „ökumenischen" Theologen, was heute als Ideal angesehen wird.
Kirchliche Umschau: Sie geben einen Überblick über die verschiedenen Disziplinen, von der Dogmatik über die Moral und Kanonistik bis hin zur Liturgie und Pastoraltheologie?
Prälat Georg May: Die Theologie umfaßt zahlreiche Einzelfächer. Ein jedes kann gläubig oder ungläubig betrieben werden. Im 19. Jahrhundert war beispielsweise die Wissenschaft des katholischen Kirchenrechts überwiegend eine Domäne protestantischer, liberaler Gelehrter, denen die katholische Sicht der Kirche und ihrer Einrichtungen abging. Ich wollte die einzelnen Disziplinen in ihren Leistungen und ihren Gefährdungen darstellen, freilich mit unterschiedlicher Gewichtung. Es war mir bewußt, daß dieses Feld uferlos ist. Die Zahl der Gelehrten und der Veröffentlichungen in jedem Fach ist unübersehbar. Angesichts meines Alters und meines Alleingangs mußte ich mich bei der Darstellung der theologischen Disziplinen beschränken. Aus der Fülle der Autoren war eine Auswahl zu treffen. Mein Bemühen war, einen repräsentativen Überblick zu bieten. Ein Priester, der ja Verkündiger ist, muß grundsätzlich in allen theologischen Fächern Bescheid wissen. In seinem Studium hat er sie ja alle kennengelernt. Aber auch im kirchlichen Dienst darf er den Kontakt mit der Theologie insgesamt nicht verlieren, wenn immer er sich gehalten weiß, Rechenschaft über seine Hoffnung zu geben (1 Petr 3,15). Erst recht ist es für den Fachtheologen erforderlich, die Entwicklung der theologischen Disziplinen im Auge zu behalten. Es ist mir bewußt, welchen Einsatz dieses Erfordernis verlangt. Aber ich habe stets versucht, ihn zu leisten. Ein Ausdruck dieser Absicht ist das vorliegende Buch. Ich bin mir der Unzulänglichkeit meines Unternehmens bewußt. Es müßte ein universaler Geist diese Aufgabe in Angriff nehmen oder ein Team von Fachleuten. Da dies nicht der Fall ist, meinte ich mich der Aibeit unterziehen zu sollen - um der Seelen willen.
Kirchliche Umschau: Ein Kapitel heißt „Zusammenbruch der Moraltheologie". Die aktuelle Debatte wird um „Amoris laetitia" geführt. Der Papst selbst hat Walter Kasper und Bernhard Häring als seine „Maitres à penser" offengelegt. Sind Sie darüber verwundert?
Prälat Georg May: Der Anteil von gläubiger und ungläubiger Theologie in den einzelnen Disziplinen ist unterschiedlich. Nach dem Überblick, den ich mir in jahrelanger Arbeit zu verschaffen suchte, ist in der gegenwärtigen Stunde die Moraltheologie in Deutschland von der Abirrung am meisten betroffen. Es ist nicht übertrieben, vom Zusammenbruch dieses Faches zu sprechen. Dementsprechend ist die Verwirrung der Gläubigen auf dem Gebiet des Sollens und des Dürfens besonders weitreichend und tiefgehend. An diesem Zustand haben die deutschen Bischöfe mit ihrer „Königsteiner Erklärung" und ihrer Würzburger Synode sowie neuerdings mit ihrem Anschluß an die irrigen Passagen des Papiers „Amoris laetitia" ein gerütteltes Maß an Schuld. Ihre Fehler gehen auf falsche Moralvorstellungen zurück, wie sie beispielsweise von Franz Böckle und Bernhard Häring vorgetragen wurden. Die Moral der Autonomie und der Teleologie sind Verirrungen. Die Preisgabe des Prinzips von den in sich schlechten Handlungen ist ein Triumph des sittlichen Relativismus. Die Zerrüttung erreich! ihren Tiefpunkt in der wiederholten Erklärung des Vorrangs des irrigen Gewissens vor den sittlichen Normen. Die Situation hat sich seit der Wahl Bergoglios zum Papst unerhört verschärft. Die Eindeutigkeit der Moralverkündigung seiner Vorgänger ist aufgegeben. Die Auswahl von Walter Kasper und Bernhard Häring zu seinen theologischen Gewährsmännern ist ein Unglück. Diese beiden Autoren sind für zahlreiche irrige Ansichten bekannt. Ich habe in meinem Buche einige benannt. Es hätte dem Papst angestanden, sich von ihnen zu distanzieren, statt sich ihrer zu bedienen. Wir müssen an ihn die Bitte richten, sich von ihnen zu trennen und sich auf solide Autoren zu stützen.
Kirchliche Umschau: Was sagen Sie zur aktuellen Verwirrung um „Amoris laetitia"?
Prälat Georg May: Das Dokument „Amoris laetitia" enthält teilweise treffende und nützliche, aber leider auch viele schiefe, falsche und irreführende Passagen. Die fundamentale Falschaussage bezüglich der Kommunion kommunionunwürdiger Personen entwertet das gesamte Papier. Wer Christen, die in ungültiger Ehe leben und reuelos eheliche Rechte in Anspruch nehmen, zum Empfang des Herrenleibes zulassen will, verstößt gegen göttliche Gebote, verfehlt sich gegen die verbindliche und unabänderliche Lehre der Kirche, verwirrt die Gewissen und macht sich fremder Sünden schuldig. Das Prinzip läßt keine Ausnahmen zu. Der Vorgang ist von grundsätzlicher Tragweite. Er kann durch analoge Anwendung zum Umsturz der gesamten Sittenlehre der Kirche gebraucht werden. Die Berufung auf das Gewissen gegen die Lehre der Kirche ist unzulässig. Es ist ja gerade die Aufgabe der Kirche, die Gewissen zu bilden. Mit der Anrufung des Gewissensurteils läßt sich die gesamte Glaubens- und Sittenlehre der Kirche aus den Angeln heben, d. h. die Auflösung der Kirche betreiben. Luther hat es vorgemacht. Das Gewissen des katholischen Christen ist auch an die Nonnen der Kirche gebunden. Ein Gewissen, das gegen sie steht, ist irrig. Es ist die unbedingte Pflicht der kirchlichen Hirten, es zu korrigieren. Das Wort der deutschen Bischöfe, das die Verwirrung aufnimmt, ist wegen irriger Lehre unbeachtlich. Ihr Schreiben ist genauso falsch wie das seinerzeitige Papier der Bischöfe der Oberrheinischen Kirchenprovinz (Kasper, Lehmann, Saier). Es fallt mir nicht leicht festzustellen: Die Mehrzahl der deutschen Bischöfe sind seit Jahrzehnten keine zuverlässigen Hüter der Glaubenshinterlage mehr.
Kirchliche Umschau: Die Kirche hat die Heiligsprechung von Johannes Paul ll. gesehen, Paul VI. wurde seliggesprochen. Ist „Amoris laetitia'* nicht der Fall einer autoritativ vorgelegten Lehre in der Kirche Gläubigen seit zweitausend Jahren Sittenlehre? Ist hier nicht die päpstliche Unfehlbarkeit involviert?
Prälat Georg May: Das Papier „Amoris laetitia" ist zweifellos eine Verlautbarung des ordentlichen kirchlichen Lehramtes. Unfehlbar ist es nicht und will es nicht sein. Was darin falsch ist, ist unbeachtlich. Es kann nicht zweierlei Lehre in der Kirche geben. Die Kirche hat nicht die Gläubigen seit zweitausend Jahren irregeführt. Ihre Lehre steht fest. Wenn die Exhortation davon abweicht, bringt sie sich selbst um den Anspruch, verbindlich zu sein. Sie sollte baldmöglichst vom gegenwärtigen Papst zurückgezogen werden.
Kirchliche Umschau: Welchen Rat geben Sie den jungen Priestern, den Familien, die katholisch bleiben möchten? Was sollen sie tun in dieser großen Verwirrung?
Prälat Georg May: Für jeden Seelsorger - ich bin es immer geblieben - ist die große Verwirrung durch das lehrmäßige Versagen der Theologie und der Träger des Lehramtes äußerst schmerzlich. Die Gläubigen haben einen unbedingten Anspruch auf die Vorlage gläubiger Lehre. Er wird heute nur noch bedingt eingelöst. Es ist gegenwärtig schwer. die genuine kirchliche Lehre in deutschen Landen zu finden, aber es ist nicht unmöglich. Noch gibt es einige Theologen und noch mehr Priester, die aller Wirrnis zum Trotz an der unveränderlichen Lehre der Kirche festhalten. Wer sich ernsthaft bemüht, kann die Wahrheit finden, aber freilich nur mit erheblicher Anstrengung. Priester und Laien haben sich an die sichere Lehre der Kirche zu halten. Diese findet sich in der ununterbrochenen Tradition, der Glaubensregel. Die kirchliche Lehre über Ehe und Ehegebrauch, über Eucharistieempfang und seine Voraussetzungen ist klar und eindeutig. Wer sich darüber hinwegsetzt, hilft nicht den Menschen, sondern schadet ihnen, ja vergiftet sie in gewisser Hinsicht (1 Kor 11,29).
Kirchliche Umschau: Sie haben vor einigen Monaten einen Brief vom emeritierten Papst erhalten. Was schrieb Ihnen Ihr ehemaliger Studienkamerad und Professorenkollege?
Prälat Georg May: Ich kenne Joseph Ratzinger seit den Jahren meines Studiums in München. Wir knieten in der Kapelle des Priesterseminars auf derselben Bank. Als ich Professor an der Philosophisch-theologischen Hochschule in Freising wurde, fand ich ihn als Kollegen vor. In den folgenden Jahrzehnten bestand nur gelegentlich Kontakt zwischen uns. So traf ich ihn in Tübingen, als ich dort die planmäßige Sitzung des Fakultätentages der katholisch-theologischen Universitätsfakultäten abhielt, und in Rom, als ich an einer ausgedehnten Zusammenkunft von Theologen über Themen des Zweiten Vatikanischen Konzils teilnahm. Seit seiner Erhebung zum Nachfolger Petri haben wir gelegentlich Briefe gewechselt. So viel kann ich sagen: Der ehemalige Heilige Vater Benedikt ist über die Lage in der deutschen katholischen Theologie gut unterrichtet und tief besorgt. Im übrigen sind seine Briefe an mich vertraulich.
Kirchliche Umschau: Sie waren selbst vierzig Jahre Hochschullehrer. Ist die Theologie in Deutschland noch zu retten?
Prälat Georg May: Ich habe mir den Beruf des Hochschullehrers nicht ausgesucht. Mein Ziel als Priester war von Anfang an, Seelsorger, also Pfarrer zu werden. Meine akademischen Lehrer, vor allem Klaus Mörsdorf, waren anderer Ansicht. So wurde ich zur Promotion und anschließend zur Habilitation aufgefordert. Mein Ortsordinarius Ferdinand Piontek stimmte zu. Aber er schrieb mir das ahnungsvolle Wort: „Sie begeben sich auf ein glattes Parkett." Diese Voraussage sollte steh in nicht vorhersehbarer Weise erfüllen. Während meiner Lehrtätigkeit in Mainz erhielt ich zweimal einen Ruf an eine andere Universität: Bochum und Regensburg, wo neue Konzepte interdisziplinärer Zusammenarbeit verwirklicht wurden. Ich lehnte die Rufe ab, weil ich die Unterbrechung der wissenschaftlichen Arbeit durch organisatorische Aufgaben (die an den beiden neuerrichteten Universitäten besonders umfangreich sein mußten) befürchtete. Zwei weitere Fakultäten, die katholisch-theologische in München und die rechtswissenschaftliche in Salzburg, setzten mich an die erste Stelle einer Berufungsliste. Die Erzbischöfe von München und Wien verhinderten durch Intervention bei dem zuständigen Kultusminister das Ergehen des Rufes. Als Begründung gaben sie an: konservative Einstellung. Diese Einstufung reichte ihnen aus zur Ablehnung. Ich blieb also in Mainz, ohne Verbitterung und in Ergebung in Gottes Willen. Meine Lehrverpflichtungen erfüllte ich mit selbstverständlicher Zuverlässigkeit. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Lehrveranstaltung ohne schwerwiegenden Grund ausgelassen zu haben. Unter den Studenten nahm ich mich in besonderer Weise der Priesterkandidaten an. Zeugnis dieser Sorge sind die zahlreichen Primizpredigten, die ich gehalten habe. Meine Forschungen galten den drei Gebieten des (geltenden) Kirchenrechts, der Geschichte des Kirchenrechts und des Staatskirchenrechts. Ich habe viel in Archiven gearbeitet und somit jungfräulichen Boden beackert. Über den Stand in den übrigen theologischen Disziplinen versuchte ich mich auf dem laufenden zu halten. Die wissenschaftliche Arbeit und die Tätigkeit in der Seelsorge füllten mich vollständig aus. Ich habe in den Jahrzehnten meiner akademischen Tätigkeit viele Kollegen kennengelernt oder beobachtet. Mein Vertrauen in die Zunft der Theologen, vor allem der „Staatstheologen" ist begrenzt. Aus der Menge der Mängel und Beschwerden will ich nur einen Punkt erwähnen. Die Listen der Berufungen auf Lehrstühle werden keineswegs immer nach dem Maßstab der Leistungsfähigkeit der Kandidaten erstellt, sondern oft auch oder vornehmlich aufgrund der („fortschrittlichen") Einstellung. Die Berufungsverfahren verkommen so zu Schein Veranstaltungen, weil man von vornherein weiß, auf wen die „maßgebenden" Teile einer Fakultät zielen. Die seit Jahrzehnten anhaltende Unterwanderung und allmähliche ,Machtergreifung" des theologischen Modernismus in den Fakultäten erfüllte mich mit zunehmender Sorge. Ich versuchte, ihr mit meinen schwachen Kräften entgegenzusteuern, begreiflicherweise zu meinem eigenen Schaden. Meine Prognose für die Theologie in Deutschland ist düster. Ich furchte, daß sie mehrheitlich durch menschliche Kraft nicht zu ihrer eigentlichen Aufgabe zurückzuführen ist. Allein Gott weiß Wege, wie ein gläubiger Rest gerettet werden kann.
Kirchliche Umschau: Danke für das Gespräch.
Die Fragen des Interview stellte KU-Redakteur Jens Mersch