Das Lamm in Menschenhand

Wilhelm Schallinger

GEWISSENSENTSCHEID

Im Herbst 1974 traf ich im Alter von 33 Jahren eine unwiderrufliche Gewissensentscheidung, die fortan meine gesamte priesterliche Existenz und Zukunft bestimmte. Sie markiert den Anfang einer »vierzigjährigen Wüstenwanderung« und ist bis heute gültig.

Am 18. November verlas ich diese schriftlich verfaßte Entscheidung in der Pfarrgemeinderatssitzung:

»Nach jahrelanger Prüfung meiner Motive, die wesentlich von meiner persönlichen Erfahrung her bestimmt sind, und nach eingehendem Studium aller vorliegenden Dokumente gebe ich heute vor dem Herrn Stadtpfarrer und dem versammelten Pfarrgemeinderat von St. Andreas, München, als Gewissensentscheid folgende verbindliche Erklärung ab:

Ich werde in Zukunft aus Gewissensgründen keine Handkommunion mehr austeilen. Ich bitte alle Anwesenden, diesen Gewissensentscheid eines Priesters, der um seine Verantwortung weiß, zu respektieren und mich nicht gegen meine innerste Überzeugung zu zwingen.

Nachstehende Gründe führten zu dieser Entscheidung:

 

I. Religiöser Niedergang durch die Handkommunion

Ganz allgemein hat die Handkommunion zu einer verheerenden Ehrfurchts- und Glaubenslosigkeit hinsichtlich der realen Gegenwart des Herrn in der Eucharistie geführt. Gerade Gleichgültigkeit und das verantwortungslose Streben nach Anpassung sind heute vielfach der Grund zum Kommunionempfang: >Man kann sich ja nicht aus der Gemeinschaft ausschließen !<

Der Empfang der Sakramente — Taufe, Beichte, Firmung und Ehe — geht in seinen Zahlen besorgniserregend zurück; nur der Kommunionempfang steigt in einer geradezu inflationären Bewegung. Es wird auf eine Vorbereitung kein Wert gelegt; auch der Zustand schwerer Sünde ist für die Kommunizierenden weithin bedeutungslos geworden. Nur wenige sind sich bewußt, daß vor der Kommunionbank der Beichtstuhl steht!

Wir Katholiken wurden von den Lehrern der Kirche als >mündige Partner< Gottes ausgewiesen. Für diese neuen Menschen ziemen sich nicht mehr die Zeichen der Abhängigkeit, der Demut und der Kinder: der neue und aufgeklärte Mensch der Kirche darf jetzt seine Hand nach Gott ausstrecken, darf ihn greifen wie ein Geldstück.

Sobald aber die Ehrfurcht verlorengeht, schwindet auch der Glaube! Handkommunion und ein glaubensleugnerischer Geist bedingen sich gegenseitig. Gewöhnlich wird in den Katechesen nicht mehr vom >Leib des Herrn< gesprochen, sondern nur noch vom >heiligen Brot< — als einem unbestimmten Etwas, das dem Einzelnen keinen Glauben mehr abfordert, das nur noch mitmenschliche Gemeinschaft zum Ausdruck bringt.

Aus vielen Gesprächen, vor allem mit Jugendlichen weiß ich es: für sie bedeutet die Kommunion nur ein an Jesus erinnerndes Zeichen der Einheit im Gottesvolk.

Wo sich die Handkommunion mit ihrem Geist durchsetzt, verdrängt sie die liebende und kindliche Hingabe der Danksagung und Anbetung.

 

II. Die Hintergründe der Einführung der Handkommunion

Auch wenn viele gutwillige und gläubige Katholiken in einer würdigen inneren und äußeren Haltung die Handkommunion empfangen, so geht eben doch die Entwicklung auf der ganzen Linie gegen die Ehrfurcht und gegen den Glauben — vor allem bei den Kindern, denen man gerechterweise nicht verwehren kann, was auch die Erwachsenen dürfen.

Als im Schreiben vom 6. Juni 1969 Kardinal Gut im Namen des Heiligen Vaters der Deutschen Bischofskonferenz die Einführung der (in Deutschland bereits praktizierten) Handkommunion erlaubte, verlangte er als ausdrückliche Bedingung dafür: es muß >jede Gefahr der Ehrfurchtslosigkeit gegenüber der Eucharistie vermieden werden<.

Diese Bedingung wurde nicht erfüllt, — sie konnte gar nicht erfüllt werden!

Tatsache ist: Die Handkommunion wurde zuerst in Holland illegal — selbst auf die Gefahr einer Kirchenspaltung hin — in Gruppen und Ordensgemeinschaften eingeführt; zum Teil bereits mit der offenen Leugnung der wirklichen Gegenwart Jesu in der Eucharistie. Ungeachtet der Motive des Unglaubens, die dahinterstehen, hat diese Entwicklung auch in Deutschland ihre Fürsprecher gefunden. Daß damals nachträglich Papst Paul VI. notgedrungen und gegen seinen Willen die Erlaubnis zur Handkommunion für die mitteleuropäischen Länder gab, drückt die spätere Erklärung von Kardinal Bengsch, Berlin, vom 3. August 1969 aus:

>Mit dem Hl. Vater und der überwiegenden Majorität des Weltepiskopates empfehle auch ich nachdrücklich den bisherigen Ritus des Kommunionempfanges.<

Papst Paul VI. hat sichtliche Bedenken gegen die Einführung der Handkommunion vorgetragen. Gerade in der Form der Kommunionspendung lag für ihn etwas Bedeutsames. In seiner Umfrage an alle Bischöfe vom 12. März 1969 betonte er die Gefahr,

>daß Änderungen in einer so bedeutsamen Sache eine Verminderung der dem Heiligsten Sakrament schuldigen Ehrfurcht, ja Entweihung und Verfälschung der Glaubenslehre verursachen könnte<.

Die Bischöfe der Weltkirche dachten in ihrer Mehrheit nicht anders. Diese Befragung ergab: 56 Bischöfe stimmten für, 315 mit Vorbehalt und 1233 gegen die Einführung der Handkommunion. Hätte sich die Weltkirche noch klarer ausdrücken können? Mit gutem Grund wird sich das Gewissen des Einzelnen darum an diesem Ergebnis orientieren!

Nicht übersehen werden kann dabei die unheimliche Rolle, welche in der ganzen Frage die Loge der Freimaurer spielt. Die Pariser Zeitschrift des Großorient von Frankreich >L'Humanisme< stellt 1968 offen ihr Zerstörungsprogramm vor:

>Unter den Pfeilern, die am leichtesten einstürzen< wird unter anderem >die reale eucharistische Gegenwart< vermerkt. 1970 bereits legt die französische Zeitschrift >Vers demain< das Vorgehen fest:

1. Etappe: Stehkommunion;

2. Etappe: mit allen Mitteln die Handkommunion durchdrücken, damit Ehrfurcht und Glaube schwinden und die

3. Etappe erreicht wird: die Hostie ist nur noch ein Symbol der freimaurerischen Weltverbrüderung.

Hier spätestens müßten die größten Optimisten begreifen: Die Frage der Handkommunion ist keine Frage der Form! Hier geht es im Zeichen bereits klar um den Inhalt der Eucharistie!

 

III. Persönliche Erfahrung

Im Einzelnen haben meine jetzige Entscheidung wesentlich folgende Vorkommnisse bestimmt: Schon mehrmals haben mir Handkommunikanten die Kommunion, die ich ihnen auf die Hand legen wollte, buchstäblich aus der Hand gerissen. In St. Andreas ist es erst vor wenigen Wochen vorgekommen, daß von einem Handkommunikanten ein großer Partikel (fast halbe Größe einer Hostie) beim Rückwärtsgehen im Kirchenraum verstreut wurde. Ähnliches geschah auch in Hausham: Den Kelch noch vom Kommunionausteilen in der Hand, ging ich mehrere Meter in den Kirchenraum, um den weithin sichtbaren Partikel (ebenfalls eine halbe Hostie) vom Boden aufzuheben. Ein zehnjähriger Bub spielte noch in seiner Kirchenbank mit der Kommunion in seiner Hand. Ich mußte ihn nach dem Kommunionausteilen — wieder mit dem Kelch in der Hand — an seinem Platz von seinem Treiben abbringen.

Diese Auswüchse habe ich zufällig bemerkt. Nur durch die Handkommunion sind sie möglich! Auch wenn hier keine böse Absicht vorliegt, das Böse liegt vielmehr in der fortdauernden Fahrlässigkeit, daß der am Boden zertreten werden kann, der nach der klaren Lehre der Kirche auch im kleinsten Partikel anwesend ist, >mit Leib und Blut, mit seiner Seele und seiner Gottheit (Konzil v. Trient).

Die Kirche hat immer mit größter Sorgfalt auf die kleinsten wahrnehmbaren Teile der Kommunion geachtet. Schon Cyrill von Jerusalem fordert es eindringlich: >Denn was du zugrundegehen läßt, sollst du so betrachten, als ginge eines deiner Glieder verlorene Origenes bestätigt es: >Ihr glaubt — und das mit Recht — euch zu versündigen, wenn aus Nachlässigkeit etwas zu Boden fällt.<

Der Priester ist bei der Spendung der Kommunion der Erstverantwortliche. Die Last dieser Verantwortung kann dem Priester niemand — auch nicht der Bischof — abnehmen! Wenn er fahrlässigerweise Mißstände duldet, dann wird sein Verhalten dem des Pilatus ähnlich, der gegen seine Überzeugung dem Druck der Leute nachgibt und dann seine Hände in Unschuld wäscht.

Daß einer aus guten Gründen seine Haltung in dieser Frage ändern kann, beweist Kardinal Heenan von London, wie die Münchner Katholische Kirchenzeitung vom 18. Juni 1972 schreibt:

>Die Beendigung der Handkommunion hat Kardinal Heenan von Westminster für England angeordnet, obwohl er diese erst kürzlich verteidigt hatte ...<

So glaube auch ich im Sinne der geistgewirkten Tradition der Kirche vor Gott recht zu handeln, auch wenn mich im Augenblick viele nicht verstehen werden! Ich bin aber auch bereit, die Konsequenzen und Nachteile meines Schrittes auf mich zu nehmen!

Mit Rücksicht auf die Gläubigen unserer Pfarrgemeinde, die ich mit meiner persönlichen Entscheidung weder zwingen noch belasten möchte — sie sind ja unfreiwillige Opfer dieser Entwicklung —, und aus Loyalität unserem Stadtpfarrer und unserem Herrn Kardinal gegenüber, werde ich erst vom 1. Adventsonntag an nach einer vorausgehenden Ansprache über meinen Entschluß nach vorliegender Erklärung handeln.

Bis dahin sind es noch 14 Tage — Zeit genug, daß die Verantwortlichen der Pfarrgemeinde handeln können; entweder, daß sie meinen Entscheid anerkennen und mir die Möglichkeit zugestehen, worum ich sie bitte, oder daß sie sich mit dem Erzbischöflichen Ordinariat besprechen. München, den 18. November 1974 Wilhelm Schallinger«

 

Wetterleuchten am Horizont

Die überwiegende Mehrheit des Pfarrgemeinderates von St. Andreas respektiert in geheimer Abstimmung meine Gewissensentscheidung. Diese wird von Stadtpfarrer Ertl, dem späteren Caritasdirektor, am Zweiten Adventssonntag, dem 8. Dezember — zugleich Hochfest Maria Unbefleckte Empfängnis — den Gläubigen bekanntgemacht.

Vorabendmesse um 18.30: »Ich habe heute die unangenehme Pflicht, im Auftrag des Ordinariats zu verkünden: Der Herr Kaplan wird ab sofort keine Handkommunion austeilen aus Gewissensgründen.«

Frühmesse um 7.00: »Ich möchte heute im Auftrag des Ordinariats eine Erklärung abgeben: Der Herr Kaplan wird ab sofort keine Handkommunion mehr austeilen aus Gewissensgründen. Damit Sie aber wissen, wann er in Zukunft die Messe hält: am Sonntag um 7.00 und an Wochentagen um 6.30. Ich schaue, daß ich jedesmal zum Kommunionausteilen kommen kann. Wichtig ist beim Kommunionempfang die innere Einstellung!«

Familiengottesdienst um 10.30: »Schweren Herzens mache ich im Auftrag des Ordinariats bekannt: Unser Herr Kaplan Schallinger wird aus Gewissensgründen keine Handkommunion mehr austeilen. Er hat große Bedenken, daß durch diese Form der Kommunionspendung immer wieder Teile der Kommunion auf den Boden fallen, damit Sie aber wissen, ...«

Abendmesse um 18.30: »Kaplan Schallinger wird ab sofort keine Handkommunion mehr ausspenden. Es könnten dadurch kleine Teile der Kommunion auf den Boden fallen. Wir wollen diesen Gewissensentscheid respektieren! Damit Sie aber wissen, ...«

Bald jedoch wird die Lage für alle Seiten schwierig. Bereits eine Woche darauf verlangt Pfarrer Ertl in der Sakristei: »Am Vierten Adventssonntag müssen Sie die Abendmesse halten! Da aber müssen Sie auch die Handkommunion geben! Sie müssen sich nach den Leuten richten!«

Damit ist schon der Ernstfall eingetreten: der Konflikt ist da! Es bleibt mir keine andere Wahl als diese Antwort: »Herr Stadtpfarrer, wissen Sie, was Sie da von mir verlangen? Ich kann nicht gegen mein Gewissen handeln. Ich werde nichts mehr rückgängig machen!«