11. Betrachtung: Das Gegrüßet seist du Maria
„Du bist voll der Gnaden“ (Luk. 1, 28)
1. Anbetung
Papst Pius IX. sagt in seiner Bulle von der Unbefleckten Empfängnis: "Gott, der Unaussprechliche, dessen Wege Barmherzigkeit und Treue sind, dessen Wille allmächtig ist und dessen Weisheit von einem Ende der Welt zum anderen reicht und alles kraftvoll und sanft ordnet, hat von Ewigkeit her seinem Sohn eine Mutter auserwählt und bestimmt und hat ihr weit mehr als allen übrigen Kreaturen seine Gnadenhuld zugewendet, so daß er in ihr allein das höchste Wohlgefallen fand."
Ja, die höchste Auserwählung, dieses Erbarmen und diese Treue, diese Allmacht und Weisheit verdient unsere demütigste Anbetung. Die erste große Gnade war ihre unbefleckte Empfängnis; sie allein war schon so groß, daß Maria voll der Gnaden zu werden verdient, hoch erhaben über alle Gerechten und Heiligen. Diese Gnadenfülle macht sie einer neuen großen Gnade würdig: nämlich der unaussprechlichen Gnade, Mutter Gottes zu werden. Dadurch steigt sie hoch über alles Geschöpfliche empor und übertrifft die höchsten Engel an Gnadenherrlichkeit.
Und diese Gnadengaben, die ihr Gott im ersten Augenblick ihres Daseins verliehen, hat sie mit unvergleichlicher Treue bewahrt und mit dem Eifer der glühendsten Liebe von Augenblick zu Augenblick verdoppelt, so daß sie am Schluß ihres Lebens einen solchen Grad von Liebe erreicht und einen solchen Schatz von Verdiensten erworben hatte, daß Gott sie mehr liebte als alle Engel und Heiligen zusammen.
Neige dich, meine Seele, in aller Ehrfurcht vor einer solchen Größe und preise den Herrn, der ein solches Wunderwerk geschaffen, und freue dich, daß sie so groß und herrlich ist, und liebe sie von ganzem Herzen und mit aller Glut. Schaue, ihr Diener zu sein, ist ein so großes Glück, daß du dafür alle Schätze der Welt ruhig hingeben darfst.
Weihe dich heute ihr ganz und übergib dich und all das Deine ihren Händen und unterwirf dich vollständig ihrer milden Herrschaft. Ihr Lob verkünden und ihre Vorzüge preisen und zu ihr deine Andacht verrichten, sei deine liebste Beschäftigung. Schau', wie eifrig die Heiligen darin waren, und suche es ihnen gleich zu tun.
2. Dank
Welche Fülle von Wohltaten von diesem Gnadenreichtum Marias über die Welt ausströmte, erklärt uns der heilige Petrus Chrysologus in begeisterten Worten, wenn er sagt:
"Das ist die Gnade, welche dem Himmel Glorie brachte, der Erde Gott schenkte, den Heiden das Glück des Glaubens, die den Lastern ein Ende machte, ins Menschenleben Ordnung brachte und das sittliche Verhalten gottgefällig regelte" (Sermo 143).
Welche von diesen Wohltaten hast du schon besonders empfunden? Zähle sie und preise Gott dafür!
3. Sühne
Prüfe heute nur die eine Frage, ob du mit den vielen Gnaden, die Gott dir gegeben hat, immer treu mitgewirkt hast. Zu welcher Fülle von Gnaden, zu welcher Höhe von Vollkommenheit hättest du es bis heute bringen können, wenn du sie alle gut benützt hättest! Warum stehst du erst am Anfang? warum noch an der untersten Stufe?
Sieh', der Mißbrauch der Gnade rächt sich betrübend in deinem Leben. Gott mahnt dich vielleicht manchmal zum Empfang der heiligen Sakramente; du hast die Mahnung überhört. Es wurde von dir verlangt, deinem Bruder schnell zu verzeihen; du hast gezögert. Es wurde dir eine Demütigung nahegelegt; du hast dich dagegen gesträubt. Es bot sich Gelegenheit zu einem Liebesdienst; du hast sie nicht benützt.
Sieh', das heißt man nicht, mit der Gnade mitwirken. Wie ganz anders hätte sich die gnadenvolle Gottesmutter in all' diesen Fällen verhalten! Opfere ihre Treue in der Benützung der Gnade heute Gott auf zum Ersatz für deine Vernachlässigungen und laß heute noch Besserung da eintreten, wo es am meisten fehlt. Wo ist der Punkt, wo du zuerst einsetzen mußt?
4. Bitte
O Mutter, möge doch dein Bild, das Bild deiner Größe und Gnadenfülle immerfort vor meiner Seele stehen und sich ganz in mein Herz einprägen, so daß meine Liebe zu dir tägliche wachse. Sieh', ich will mich ganz deinem Dienste weihen; nimm mich auf und laß mich dir ganz ergeben sein. Und dann bitte ich dich ganz besonders, daß ich aufhöre, die Gnaden, die Gott mir gibt, zu mißbrauchen.
Wenn ich einmal das erreicht habe, dann bin ich geborgen, dann sind meine Wünsche gestillt, dann wird der Herr mich auch mit seiner Gnadenfülle heimsuchen, und ich werde sein Wohlgefallen finden. Amen.