12. Betrachtung: Das Gegrüßet seist du Maria
„Der Herr ist mit dir“ (Luk. 1, 28)
1. Anbetung
Der Herr ist mit dir durch seine wunderbare Gegenwart, durch seine unaussprechliche Liebe und durch die unvergleichlichen Wunder, die er in deinem Schoße wirkt. Wir beten ihn in all diesen Geheimnissen an voll Demut.
Ach, wie herrlich muß dieser vertraute Verkehr zwischen Gott und Maria gewesen sein! Sie hatte noch jenes wunderbare Glück, das Adam vor dem Sündenfalle besaß, und sie besaß es in höherem Grade. Sie war ja auch von Adams Sünde frei. Außer dieser seligen Vereinigung sehen wir noch einen besonderen Schutz, den Gott ihr angedeihen ließ.
Zu seinem Volke hatte er einst tröstende Worte gesprochen: "Fürchte dich nicht; denn ich habe dich erlöst und dich gerufen bei deinem Namen: mein bist du. Wenn du dahinschreitest durch das Wasser, werde ich mit dir sein; denn ich bin der Herr dein Gott, der Heilige Israels, dein Erlöser" (Is. 43, 1) Ja, solange Israel zum Herrn hielt, war der Herr mit ihm und keine Macht der Welt konnte Israel überwinden; einer vermochte tausend zu verfolgen und zwei waren stark genug, um zehntausend in die Flucht zu schlagen (Deut. 32, 30.
Wer diente Gott treuer als Maria? Ihr ward im höchsten Maße jener Schutz zuteil, den Gott seinem Volke immer verheißen hat. Demütig beten wir hier seine Macht und Treue an.
2. Dank
Es ist Pflicht der Liebe, daß wir Gott herzlich danken für alle Huld, die er über Maria ausgegossen hat, für den vertraulichen Verkehr, zu dem er sie erhob, für das unvergleichliche Wohlgefallen, das er an ihr offenbarte, für den wunderbaren Schutz, den er über sie ausbreitete. Weil wir die Mutter lieben, darum ist uns jede Gnade, die sie empfangen, für uns selbst eine Wohltat und eine Quelle heißen Dankes.
Auch wir haben ähnliche Wohltaten aus seiner Hand empfangen: ihrer müssen wir in Dankbarkeit gedenken. Dürfen nicht auch wir mit dem Propheten sprechen: "Dominus prope est, der Herr ist nahe?" Ja, in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir. Wir dürfen zu ihm rufen "Vater" und vertraulich dürfen wir alle unsere Angelegenheiten mit ihm besprechen, alles, was uns begegnet und was uns bewegt. Siehe, das ist eine große Wohltat; vergiß nicht, dafür zu danken. — Hat er uns nicht ein unschätzbares Geschenk verliehen, das uns seines Wohlgefallens würdig macht? Es ist die heiligmachende Gnade, jenes Gewand, das uns seinen Glanz verleiht, der unsere Augen blenden würde, wenn wir ihn unverhüllt schauen könnten, einen Glanz, der den der Sonne und des Mondes weit übertrifft.
Und wer dieses Gewand trägt, auf dem ruht das Auge des himmlischen Vaters mit unendlichem Wohlgefallen. Und seinen väterlichen Schutz haben wir von Jugend auf jeden Tag erfahren: er war bei uns in den Versuchungen, welche uns die Unerfahrenheit brachte, er war bei uns in all' den harten Kämpfen des Lebens; er ist unsere Zuversicht in allen Stürmen. Und getrost dürfen wir sprechen: Dominus protectorvitae meae; a quo trepidabo (Ps. 27, 1)? Der Herr ist der Beschützer meines Lebens; vor wem soll ich mich fürchten? Ja, der Herr ist mit uns; wir wollen ihm herzlich dafür danken.
3. Sühne
Die ewige Weisheit spricht: meine Freude ist es, bei den Menschenkindern zu sein. Meine Seele, ist es auch deine Freude, bei Gott zu sein? Sind deine Gedanken untertags oft bei ihm? Liebst und pflegst du den vertrauten Umgang mit dem Herrn? Oder kannst du noch stundenlang dahinleben, ohne des Herrn zu gedenken, der dir so nahe ist, der jeden Augenblick deine Hand mit Gaben füllt? Prüfe dich und bedauere es tief, wenn du bisher gefehlt darin.
Und kann sein Auge wohlgefällig auf dir ruhen? Ist dein Benehmen so, daß es die Gegenwart des Königs nicht beleidigt? Kann sein heiliges Auge jeden Augenblick bis in die Tiefe deiner Seele dringen, ohne von Abscheu erfüllt zu werden? Selbst die Engel sind nicht rein vor ihm; darum müssen wir um so tiefer uns verdemütigen und beschämt unser Angesicht verhüllen.
Und — sind deine Absichten rein und Gott wohlgefällig? Wirf jede Stunde einen prüfenden Blick in dein Inneres und frage dich, warum du diese Handlung vollbringst und welches Ziel du dabei verfolgst. Das sei heute dein Vorsatz; dann wird es besser werden. Und wenn der Herr dich schützt in den Gefahren, dann darfst du dich denselben auch nicht mutwillig aussetzen und mußt den Versuchungen und Gelegenheiten, so viel du kannst, aus dem Wege gehen. Hast du das immer getan? Dann bist du des Schutzes des Herrn würdig und der Herr wird mit dir sein.
4. Bitte
Wenn du bei mir bist und ich bei dir, dann fehlt mir nichts; dann bist du mein alles. Schenke mir die Gnade, daß ich nichts mehr suche außer dir, daß auch ich mit den Propheten in aller Aufrichtigkeit sprechen kann: "Was habe ich im Himmel und was suche ich außer dich noch auf Erden? Du bist der Gott meines Herzens und mein Anteil, Gott, in Ewigkeit" (Ps. 72, 25) Und wenn du bei mir bist und huldvoll für mich sorgst, in Kampf und Leid, dann bin ich geborgen; dann kann ich mit dem heiligen Paulus in aller Zuversicht sprechen: "Si Deus pro nobis, quis contra nos! (Röm. 8,31.) Ja, Herr, diese Gnade schenke mir, mehr verlangt dein Diener nicht, schenke mir dies um der Liebe und der Verdienste Marias willen, an der du dein Wohlgefallen hast. Amen.