22. Betrachtung: Psalm 119

 

Text:

"Zum Herrn, da ich bedrängt war, rief ich und er erhörte mich. — O Herr, befreie meine Seel' von frevlen Lippen und von tück'cher Zunge! Was wird dir (Frevler) wohl gegeben und was vergolten dir für deine Trugeszunge? — Geschärfte Pfeile des Gewaltigen samt Kohlen, die versengen. — Weh' mir, daß meine Fremdlingschaft so lange währt! Ich wohne bei Bewohnern Cedars. Ach lange schon ist in der Fremde meine Seele! Mit jenen, die den Frieden hassen, bin ich friedlich! Red' ich mit ihnen, so bekriegen sie mich ohne Grund!"

 

1. Anbetung

Das Lied ist ein Klageseufzer der einem unerträglichen Druck und der schnödesten Verhöhnung und Verdächtigung ausgesetzten Juden in der Gefangenschaft. Es wendet sich an Gottes Güte, Gerechtigkeit und Macht.

Besonders deutlich kommt darin die rührende Sanftmut und Friedfertigkeit des leidenden Heilands und seiner Mutter zum Ausdruck. Dreiunddreißig Jahre hat Jesus friedfertig inmitten des trotzigen, verleumderischen, unfriedsamen Judenvolkes gelebt. Er hat mit einer Anmut, Milde und Kraft zu ihnen geredet wie niemand zuvor und doch bekriegen sie ihn unablässig ohne Ursache. Des Verräters Frevellippen, die trügerischen Zungen der falschen Zeugen, die lästervoll lügenhaften Anklagen, Beschimpfungen, Schmähungen der Pharisäer und Volksfürsten dringen wie Mordpfeile, wie Glühkohlen auf ihn ein.

Und Jesus? Er betet: "Vater, verzeih' ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun." Wehe mir, wenn solche Übermacht der Liebe mich nicht rührte und mein Herz härter wäre als der Fels der Schädelstätte!

Und Maria? Ist nicht auch sie wie ein leuchtender Stern der Barmherzigkeit und Friedfertigkeit über der Welt aufgegangen? Nachdem sie das Heil der Welt geboren, flüchtete sie in die Verbannung, hinaus in die Fremde, so daß auch sie sagen kann: Ich wohne bei Bewohnern Cedars, d. i. bei barbarischen Räuberhorden, die an roher Gefühllosigkeit und Mordlust den wildesten Söhnen der Wüste gleichkommen, die unter schwarzen Zelten wie im Lande der Finsternis hausen.

Und auf Golgatha peinigten die spitzigen Pfeile der Lästerung und Schmähung, des Hasses und des Undankes, die Jesu Herz quälten, auch das ihrige. Doch ihre mütterliche Fürbitte hüllt um die nächtliche Erde einen Lichtmantel und wandelt tausende von schwarzen Zelten in helle Gnadenwohnungen um. Unzählige Sünder drückt sie mitleidsvoll an ihr mütterliches Herz.

 

2. Dank

Habe ich nicht auch schon geklagt: Herr, befrei' mich doch von frevlen Lippen! Habe ich auch schon gefühlt, wie bitter es ist, von lieblosen Reden verfolgt zu werden, zu wohnen bei Bewohnern Cedars, bei denen, die den Frieden hassen?

Und der Herr hat mir geholfen, er gab mir Kraft, es zu tragen und schenkte mir die Gnade und die Tugend der Friedfertigkeit. Ist mir nicht die Erinnerung an eine spitze Rede, die ich gelassen hingenommen habe, heute noch eine süße Erinnerung? Siehe, das war eine Gnade des Herrn, eine wunderbare Wohltat.

Vergiß nicht, ihm heute dafür deinen Dank auszusprechen, daß er seine Hand über dich gehalten und dich nicht in Verbitterung und Feindseligkeit versinken ließ. Wie herrliche Schätze schließt die Friedfertigkeit in sich: "Selig sind, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich."

 

3. Sühne

Aber wie, meine Seele, wenn du selber einmal durch lieblose Reden gefehlt hättest! Prüfe dich recht ernst, gar schnell ist ein hartes Wort den Lippen entschlüpft! Bedenke es heute, wie schlimm das ist! Wie beurteilt doch der heilige Sänger solche Rede? "Frevellippen", "tückische Zunge" sagt er: "Bewohner Cedars" sind ihm jene harten Gemüter; ein Schrecken ist es ihm, bei den schwarzen Zelten Cedars zu wohnen, in der unheimlichen Nachbarschaft jener grausamen Leute, denen es nur um Gewalttat und Frevel zu tun ist, jenen wilden Friedenshassern, die nur um so grimmer werden, je freundlicher und sanfter man zu ihnen redet. Ihr Bild ist abstoßend.

Und siehe, so erscheinst du vor Gottes Augen, wenn du dich zu bösen Reden verführen läßt. Und was wird der Lohn dafür sein? Was wird man dir geben dafür? Vernimm die Antwort: "Geschärfte Pfeile des Gewaltigen samt Kohlen, die versengen." Ja, die scharfgespitzten Pfeile des Allmächtigen, des Rächers der Unschuld. Von dem Bogen der ewigen Gerechtigkeit fliegen seine Zornesblitze, die Schuldigen zu zerschmettern. Und versengende Kohlen hier auf dieser Welt schon, heftig brennende Schmerzen der Seele, und drüben die Gluten der Hölle, die unauslöschlich brennenden, oder die Flammen des Fegfeuers. Bitter ist der Lohn, den die böse Zunge erntet.

Prüfe dich und hüte dich vor jedem bösen Wort! Laß dich nicht reizen, sondern sei friedfertig auch mit denen, die den Frieden hassen. Bitte den Herrn um Verzeihung für jeden Fehler, den du gemacht. Opfere zum Ersatz deines Heilands und seiner gebenedeiten Mutter Sanftmut und Friedfertigkeit dem Herrn auf und triff ernste Vorsorge, daß du nie mehr in einen solchen Fehler fällst.

 

4. Bitte

Das sei heute deine flehentliche Bitte, daß der Herr dich bewahren wolle vor dem Unheil, daß du jemals über deinen Bruder lieblos redest. Beschwöre das heiligste Herz Jesu bei seiner Milde und Sanftmut, daß es dir diese Gnade schenken wolle; beschwöre den Heiland bei seinen Verdiensten, die er sammelte, als er gegen die bösen Reden und Anklagen, seiner Feinde friedfertig schwieg.

Rufe zur sanften Gottesmutter, sie möge dein Herz mild sein lassen wie das ihrige, so daß du bereit bist, lieber böse Reden zu ertragen, als je ein böses Urteil zu fällen. Siehe, dann bist du ein wahrer Christ, ein Nachfolger Jesu, ein Kind Gottes, der seine Sonnen aufgehen läßt über Gute und Böse.

Mache es wie St. Vinzenz von Paul, der von sich selbst sagt: "Ich wandte mich an den Herrn, bat ihn inständigst, meine trockene, abstoßende Gemütsart umzuwandeln und mir den Geist der Sanftmut und des Wohlwollens zu verleihen. Und mit der Gnade unseres Heilandes, mit etwas Aufmerksamkeit, welche ich auf die Unterdrückung meiner aufwallenden Natur verwendete, habe ich die finstere Gemütsart verloren." (Vergl. Psall. sap. IV. 174 ff.)