25. Betrachtung: Die Armut
Text
"Ein vornehmer Mann fragte Jesus und sprach: Guter Meister, was soll ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?
Jesus sprach zu ihm: Was heißest du mich gut? Niemand ist gut als nur Einer: Gott. Die Gebote kennst du: Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, kein falsches Zeugnis geben; ehre deinen Vater und deine Mutter.
Er sprach: Das alles habe ich beobachtet von meiner Jugend auf.
Jesus hörte das und sprach: Eines fehlt dir noch: Verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen und du wirst einen Schatz im Himmel haben und komm' und folge mir nach." (Luc. 18, 18-22]
1. Anbetung
Siehe hier die große Liebe Jesu zur Armut. — Armut von Bethlehem. — Armut auf seinen beschwerlichen Reisen: Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester. — Wie schwer ist es, so nichts sein eigen nennen können; keine Heimat haben. — Und am Kreuz? — Alles genommen; seine Kleider verlost. — In seinen Schmerzen fehlt jede Pflege; in seinem Durste reichen sie Essig. — Kein Samaritan, der Öl und Wein in die Wunden gießt. — Er will alle Folgen der Armut tragen; bewundernswert in seiner Armut.
2. Dank
Kostbare Güter will der Herr denen geben, welche die heilige Armut treu halten. "Du wirst einen Schatz im Himmel haben", spricht Jesus. Und anderswo heißt es: "Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz."
Wenn also unser Schatz nicht auf Erden, sondern im Himmel ist, dann ist unser Herz im Himmel, unser Wandel ist himmlisch, unser Leben ist geistlich, unsere Gedanken sind bei Gott, andauernd, immerwährend.
Was können wir Edleres eintauschen als dieses Leben der Heiligkeit und Vollkommenheit? Und welch unüberwindliche Kraft verleiht mir dieser Gedanke an diese himmlischen Schätze!
St. Paulus denkt an die Krone, die ihm hinterlegt ist; darum weiß er, daß ihn nichts von der Liebe Christi scheiden wird, und darum schreitet er ungehindert voran auf dem Weg, den Gott ihm vorgezeichnet hat, mögen Kerker oder Bande oder Tod seiner warten.
Und Hundertfaches will der Herr schon hier auf Erden denen geben, die aus Liebe zu ihm arm geworden sind. Und dazu das ewige Leben. Er selbst will unser übergroßer Lohn sein (Gen. 15, 1). Was kann uns also die Erde gelten, wenn wir Gott unser eigen nennen dürfen?
Freigebig ist der Herr gegen die, welche ihm alles opfern. Wir wollen der Gaben dankbar gedenken, die der Herr an die heilige Armut geknüpft hat.
3. Sühne
Dafür müssen wir aber auch die heiligen Verpflichtungen recht treu halten, die uns das Gelübde der Armut auferlegt. Durch das feierliche Gelübde der Armut wird jedes Eigentumsrecht aufgehoben; das einfache Gelübde gestattet den Besitz, verbietet aber den freien Gebrauch der irdischen Güter. Ich darf also ohne Erlaubnis nichts empfangen oder weggeben, ich darf über nichts nach meinem freien Ermessen verfügen, ich darf nichts Überflüssiges behalten, soll nur mit dem Notwendigen ausgestattet sein. Ich muß alles Klostergut schonend behandeln, als wären es heilige Altargeräte.
Die Tugend der Armut verlangt, daß ich das Einfache dem Kostbaren, das Grobe dem Feinen vorziehe, wo mir die Wahl gelassen wird, und sie verlangt, daß ich die Folgen und Wirkungen der Armut willig trage, wenn es dem Herrn gefällt, sie mich fühlen zu lassen.
Siehe, das ist ein weiteres Gebiet. Wie hast du dich bisher hierin verhalten? Welche Fehler hast du gemacht? Laß keinen durchgehen. Bedenke es, wie unumgänglich notwendig für dich die Armut ist. Ohne sie kannst du nicht vollkommen werden, ohne sie kannst du Gott nicht gefallen. Die Anhänglichkeit an die Geschöpfe versperrt jenen Gnaden den Zugang zu deiner Seele, die du nötig hast, um zu Gott zu kommen. Gott verlangt mit aller Strenge die vollständige Losschälung deines Herzens vom Irdischen und er wird dich empfindlich züchtigen, wenn du nicht alle diese Forderungen erfüllst. Es bleibt sein Wort bestehen: "Wer nicht allem entsagt, was er hat, kann mein Jünger nicht sein" (Luc. 14, 29).
Das Übel des Sonderbesitzes und die Anhänglichkeit an das Irdische muß mit der Wurzel ausgerottet werden, sagt St. Benediktus. Und wie entschieden hat er darnach gehandelt! Er hat den Mönch streng bestraft, der von den frommen Frauen ein paar Taschentüchlein angenommen hat; er ließ das Ölfläschchen durch das Fenster werfen, das der Hausverwalter von Monte Cassino gegen seinen Befehl zurückbehalten wollte. Selbst das stille Grab nahm den Mönch nicht auf, bei dem sich Eigenbesitz fand. Prüfe dich streng, meine Seele, und entferne rücksichtslos, was gegen die heilige Armut verstößt.
4. Bitte
Ach Herr, die List des Feindes ist so groß und die Vorspiegelungen der Eigenliebe sind so fein, daß ich ohne deine Gnade den Täuschungen der Hölle gar nicht entrinnen kann. Bald ist es ängstliche Sorge um Leib, Gesundheit und Leben, das mich verleitet, mir etwas anzueignen, bald scheint es mir zu gering, um die nötige Erlaubnis zu bitten, bald halte ich etwas für notwendig, was in deinen Augen überflüssig ist, bald kämpfe ich nicht entschieden genug gegen die Bequemlichkeit und Eigenliebe an, die das Opfer der vollendeten Armut scheut.
Und so kommt es, daß ich immer wieder einen Fehler mache und nicht vorwärts komme. Schau', wie groß mein Elend ist und hilf mir heraus. Gib mir einen scharfen Blick, der sofort erkennt, was ich nicht haben darf; gib mir einen festen Mut, der keine Rücksicht kennt und mit starker Hand entfernt, was mir nicht nötig ist; gib mir ein weites Herz, das nichts anderes erstrebt, als dir ähnlich sein in gänzlicher Losschälung von allem, gib mir flammende Liebe, die alles verzehrt, was mich noch trennt von dir. Du allein sei mein Alles, mein höchstes Gut, mein ganzer Besitz, all meine Liebe. Amen