29. Betrachtung: Die zweite Stufe der Demut

 

Text

Die zweite Stufe der Demut ist es, wenn einer den eigenen Willen nicht liebt und keine Freude daran hat, seine Gelüste zu erfüllen, sondern wenn er in seinen Werken das Wort des Herrn zum Ausdruck bringt: "Ich bin nicht gekommen, meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat" (Jo. 6, 38). Desgleichen sagt eine Schrift: "Der eigene Wille bringt Pein und heiliger Zwang schafft die Krone."

 

1. Anbetung

Eines der größten und einschneidensten Opfer, das wir bringen können, ist das Opfer des Eigenwillens. Es ist nur der Seele möglich, welche kein anderes Verlangen mehr hat, als sich mit Gott zu vereinigen und alle Hindernisse wegzuschaffen, die diesem Ziele entgegenstehen. Das größte davon ist der Eigenwille. Den Eigenwillen nicht mehr lieben und keine Freude an seinen Gelüsten mehr haben, setzt also den unersättlichen Hunger nach Gott voraus. Dieser Hunger entsteht aus der Erkenntnis des höchsten Gutes. Nichts, was Gott geschaffen hat, ist wert, daß der Mensch sein Herz daran hängt; nur Gott.

Seine Freude nicht haben, daß der eigene Wille geschieht, heißt, von seinem eigenen Throne herabzusteigen und sich frei machen für den Dienst Gottes. In der ersten Stufe wird Gott als unser Herr im allgemeinen anerkannt; in der zweiten Stufe wird daraus die erste Folgerung gezogen.

Ich bin erst dann wirklich frei und durchaus bereit, dem Herrn zu dienen, wenn es nicht mehr meine Freude ist, daß mein Wille geschieht. Ich muß das recht deutlich einsehen lernen, wie Gott in seiner Größe und Majestät es unendlich würdig ist, daß ich die Krone meines Eigenwillens ihm zu Füßen lege und ihm dadurch die höchste Huldigung entgegenbringe.

Dann tue ich dasselbe, was die Engel im Himmel tun und die 24 Ältesten vor dem Throne Gottes, von denen es heißt: "Die vierundzwanzig Ältesten fielen nieder vor dem, der auf dem Throne saß, und beteten den an, der da lebt in alle Ewigkeit, und legten ihre Kronen nieder vor dem Throne" (Apocal. 4, 10).

Ja noch mehr; wer das tut, tut dasselbe, was Jesus getan hat, da er sprach: "Ich bin nicht gekommen, meinen Willen zu tun." Das ist wohl eines der größten Werke, das Jesus in seinem Leben verrichtet hat. Dafür gebührt ihm unsere ganz besondere Huldigung.

 

2. Dank

In dieser Hinopferung des eigenen Willens liegen für uns die größten Güter verborgen. Wir werden dadurch Gott besonders eigen; wir werden die Seinen. Und wunderbar ist, was die Geheime Offenbarung von denen sagt, die Gott gehören. Es ist vor allem die liebevollste Gnadengemeinschaft; alles Verlassensein, alle trostlose Vereinsamung hat aufgehört.

Es heißt: "Ich hörte eine starke Stimme vom Throne her sagen: Siehe, das Gezelt Gottes bei den Menschen! Er wird bei ihnen wohnen und sie werden sein Volk sein und Er, Gott, wird bei ihnen sein als ihr Gott. Und Gott wird alle Tränen von ihren Augen trocknen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer, noch Klage, noch Schmerz wird mehr sein. Und der auf dem Throne saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich werde dem Dürstenden aus der Quelle des Lebens Wasser umsonst geben. Wer überwindet, soll dies ererben, und ich werde ihm Gott sein und er wird mir Sohn sein" (Apoc. 21, 3 ff).

Diese Verheißungen erfüllen sich zum Teil schon hier auf Erden in denen, die keine Freude mehr haben, ihren eigenen Willen zu tun. Gott ist ihnen nahe und die Welt mit ihren Sorgen, ihrem Kummer und ihren Tränen hat nicht mehr so viel Gewalt über sie, selbst der Tod hat seine Schrecken verloren; denn wer dem eigenen Willen entsagt hat, der ist von all diesen Dingen losgeschält und hat eine wunderbare Freiheit erlangt: er ruht in den Armen des ewigen Vaters. Und da ist er geborgen gegen alles Leid. Meine Seele, sage ihm Dank für solche Güter und ruhe nicht, bis du ihrer teilhaftig geworden bist.

 

3. Sühne

Sind wir schon so weit? Prüfe dich! Hast du wirklich keine Freude mehr, wenn du deine Wünsche erfüllt siehst? Das ist ja schließlich noch nicht sehr schlimm. Aber, wie steht es, wenn es nicht nach deinen Wünschen geht? Bist du nicht für ganze Tage verstimmt und mürrisch und nimmst es denen übel, die gegen dich waren? Das ist schon eine böse Sache.

Und wenn du von einer liebgewonnenen Beschäftigung hinweggerufen wirst, bereitet es dir schweres Unbehagen? — Bedenke, was du dadurch alles verlierst: du kannst deinem Gott nicht jene Ehre erweisen, welche ihm gebührt.

Und wenn du betest: Ich weihe mich dir rückhaltlos, so ist das nicht wahr. Und zu den höheren Gütern seines vertrauteren Umgangs kannst du nicht gelangen, bevor du diese Anhänglichkeit an den eigenen Willen aufgibst.

 

4. Bitte

Aus eigener Kraft kannst du dich nicht so, wie es nötig ist, vom eigenen Willen und von den Gelüsten des Herzens frei machen. Bitte den Herrn um seinen Beistand; dann wird es gelingen. Ja, Herr, nimm alles hin, was mich trennt von dir, und laß' mich ganz dein sein. Amen.