33. Betrachtung: Die höchste Stufe der Demut
Text
"Sie besteht darin, daß sich der Mönch nicht nur mit dem Munde für geringer und niedriger als andere bekennt, sondern auch im tiefsten Herzen davon überzeugt ist, indem er sich verdemütigt und mit dem Propheten spricht: "Ich bin ein Wurm und kein Mensch, der Leute Spott und ein Gegenstand der Verachtung des Volkes" (Ps. 21, 7). "Ich bin erhöht worden und dadurch gedemütigt und beschämt" (Ps. 87,16); und ebenso: "Es ist mir heilsam, daß du mich gedemütigt hast, damit ich deine Gebote lerne" (Ps. 118, 7).
1. Anbetung
Um diese Stufe richtig zu verstehen, müssen wir einen tiefen Blick in die Geheimnisse Gottes tun. Wir müssen an Gottes unendliche Heiligkeit denken, vor der selbst die Engel nicht rein genug erscheinen, an seine unendliche Größe und Übergewalt, der gegenüber alles Menschliche und Irdische unsäglich klein und verächtlich ist; wir müssen an den unfaßbaren Abstand denken, welcher zwischen Gott und dem Menschen besteht.
Die Heiligen haben in dem Lichte, das Gott ihnen gab, das alles klar erkannt und darum haben sie sich vor Gott auf das tiefste gedemütigt und haben sich nicht bloß mit dem Munde für geringer und niedriger als alle andern Menschen bekannt, sondern sie waren im tiefsten Herzensgrunde davon überzeugt. St. Bernhard nannte sich das größte Ungeheuer seines Jahrhunderts und die heilige Gertrud sagte, sie wundere sich, daß die Erde ein so unwürdiges Geschöpf wie sie noch trage.
Manchen möchte diese Äußerungen als Übertreibung erscheinen; in Wahrheit sind sie das nicht; die Heiligen glauben wirklich, was sie sagen, Sie sind Gott so nahe gekommen und haben einen so tiefen Blick in seine unendliche Heiligkeit und Vollkommenheit getan, sie haben sich eine so aufrichtige und unerbittliche Selbsterkenntnis angeeignet, daß es ihnen scheint, als könne der furchtbare Gegensatz zwischen Gottes Güte und ihrer eigenen Fehlerhaftigkeit bei gar keinem Menschen mehr größer sein als bei ihnen.
Sie wissen wohl, dass andere äußerlich größere Fehler, ja Verbrechen, begehen, vor denen sie selbst zurückschaudern; aber sie wissen auch, daß sie weitaus mehr Gnaden hatten als andere, und es brennt ihnen in der Seele, daß sie dieselben nicht so benützt zu haben glauben, wie es nötig gewesen wäre. Infolgedessen halten sie sich dann innerlich für viel schlechter und undankbarer: Andere sind ihren Schwächen erlegen; von ihnen selbst aber glauben sie, daß sie Verschwender himmlischer Schätze geworden seien, und das macht sie in ihren Augen innerlich unwürdiger als den Verbrecher, welcher dem Ansturm seiner Anfechtungen erliegt.
Gott schaut mit unendlichem Wohlgefallen auf diese edlen Seelen; denn an ihnen sieht er die rechte Ehrfurcht vor ihm und die rechte Hochschätzung seiner Gnade; sie sind ihm die tauglichen Werkzeuge seiner Wunderwerke.
Uns Menschen sind die unerforschlichen Gerichte Gottes unbekannt; darum tun wir gut, uns in dieser Demutsgesinnung recht zu befestígen.
Der Heiland freilich, der allwissend in die Tiefen der Gottheit schaut und vor dessen Blick alles offen liegt, kann sich selbst nicht als den Letzten und Geringsten betrachten. Aber er hat die äußeren Übungen dieser Stufe in einer Weise ausgeführt, die unser höchstes Staunen verdient. Er war nicht der Letzte; aber er hat dafür gesorgt, daß er von den Menschen als der Letzte und Geringste behandelt wurde, er hat darnach gestrebt, buchstäblich ein Wurm zu sein, ein Spott der Leute und die Verachtung des Volkes; er hat uns hierin ein anbetungswürdiges Beispiel gegeben.
"Wir sehen den Herrn auf dem Wege von Gethsemani und in den kotigen Straßen der Stadt von den Schergen geschleppt, gezerrt, zu Boden gerissen, mit Füßen getreten, in der Tat wie ein Wurm! — Sehen ihn von den Juden und Heiden, von den Gerichtsdienern, den Wachen des Herodes und der Kohorte des Pilatus verhöhnt, verlacht, angespien, mißhandelt, bald ins verhüllte Angesicht geschlagen unter dem Rufe: Weissage uns, Christus! bald mit dem Narrenkleide angetan und als Possenreißer behandelt, unter höhnischen Kniebeugen als König gegrüßt, wahrlich, der Leute Spott! — Sehen ihn endlich vom ganzen Volke in rasendem Aufruhr angeklagt, einem Mörder nachgestellt, verworfen, zum Tode, ans Kreuz gefordert, in Wahrheit des Volkes Auswurf!" (Psall. sap. I. 250).
2. Dank
Wer solche Tugend übt, auf den schaut der Herr mit unendlichem Wohlgefallen und überhäuft ihn mit den kostbarsten Gaben. Er zieht ihn geheimnisvoll an sich und offenbart ihm die Tiefen seiner Schönheit und die Weisheit seiner Ratschlüsse. Er wird die Verheißung erfüllen, welche St. Benedikt am Schlusse seiner Lehre über die Demut ausspricht, da es heißt:
"Hat der Mönch diese Stufen der Demut erstiegen, dann wird er bald zu jener Liebe Gottes gelangen, die, wenn bewährt, die Furcht entfernt, und er wird durch sie anfangen, ganz mühelos, wie selbstverständlich und aus Gewohnheit, alles das zu üben, was er vordem nicht ohne Zaghaftigkeit beobachtet hat, und zwar nicht mehr aus Furcht vor der Hölle, sondern aus Liebe zu Christus und auch infolge dieser guten Angewöhnung und aus Freude an der Tugend."
Es ist das nichts anderes als das Leben der Heiligen, was denen hier in Aussicht gestellt wird, die sich zu dieser Stufe emporgearbeitet haben. Wir haben das noch nicht erfahren; nur die Heiligen wissen davon zu erzählen. In ihrem Namen wollen wir dem Herrn danken für alles, was er ihnen hierin getan. Wir wollen beim Anblick dieser Liebe des Herrn recht festen Mut fassen, rüstig auf dem Wege der Demut voranschreiten, bis uns der Herr für würdig hält, auch diese Höhe zu erklimmen. Dann sind seine Wohltaten am schönsten in uns verherrlicht.
3. Sühne
Wir begehen noch zahlreiche Verstöße gegen dieses erhabene Gesetz höchster Tugend. Statt daß wir uns selbst richten und verurteilen, richten und verurteilen wir unsere Mitmenschen, wir ziehen uns ihnen vor, wir stellen uns über sie, wir wundern uns über ihre Fehler, wir entrüsten uns über ihre Schlechtigkeit. Wir sehen den Splitter in ihrem Auge, den Balken im eigenen sehen wir nicht.
Und wie können wir uns aufregen, wenn unsere Mitmenschen uns vergessen oder wenn sie uns an die letzte Stelle setzen? Wie sind wir da voll Klage; man kennt uns nicht, man behandelt uns unrecht, es ist himmelschreiende Lieblosigkeit, die man uns antut!
Und doch, und doch! Hätten wir den Geist dieser Stufe, wären wir in unseren Augen wirklich ein Nichts geworden, ein Wurm und der Leute Spott, ein Gegenstand der Verachtung und ein Auswurf des Volkes, nicht wahr, die verächtliche Behandlung wäre uns recht; wir wüßten: das ist der Anteil, der uns gebührt, das ist das Recht, das wir zu fordern haben, wir werden behandelt, wie wir es verdienen.
Siehe, meine Seele, so weit bist du von der vollkommenen Demut entfernt, als es dich kränkt, von den Menschen verworfen und in den Staub getreten zu werden. Das ist ein Fehler, für den dein Heiland Sühne und Abbitte erwartet, er, der so oft in den Abgrund der Verdemütigung hinabgestiegen ist. Was willst du heute noch tun, um das Versäumte nachzuholen und den rechten Ersatz zu leisten?
4. Bitte
Wir brauchen Licht und Mut, um diese Stufe zu ersteigen. Wir müssen den Herrn inständig darum bitten. Um der Verdienste Jesu willen, die er in seinen Verdemütigungen erworben hat, wird es uns Gott gewähren. Wir wollen auch die Fürsprache der Heiligen anrufen, die dem Heiland so treu auf dem Weg der Demut nachgefolgt sind.
Wenn wir das erlangen, dann ist unserer Seele Großes geschehen, dann ist ein festes Fundament der Tugend gelegt, ja, dann ist schon ihr Gipfel erstiegen. So lange wir nicht so weit sind, ist alles unsicher, unser ganzer Besitz ist der Gefahr ausgesetzt.
Rüste mich aus, Herr, mit Licht, daß ich dir folge und bei dir ausharre in den tiefsten Verdemütigungen; dann bin ich stets bei dir und selig in dir geborgen. Amen.