5. Betrachtung: Das Vater unser

„Dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden“ (Matth. 6, 10)

 

1. Anbetung

Der göttliche Wille, den wir anbeten, ist ein zweifacher: der geoffenbarte Wille Gottes und der Wille seines Wohlgefallens. Ersterer tritt uns in seinen Geboten sowie in den Geboten der Kirche und unseren Standespflichten entgegen und fordert von uns, dass wir alles das ausführen, was er uns vorschreibt. Der Wille seines Wohlgefallens dagegen kommt an uns in Form all der göttlichen Zulassungen, Schicksale, Fügungen heran, zu denen wir nichts beitragen können: er bestimmt z. B., ob wir gesund oder krank seien, ob wir eine Stelle erhalten oder nicht, er bestimmt das Maß des Erfolges bei unseren Werken. Dieser Wille des göttlichen Wohlgefallens verlangt von uns keine Handlungen oder Werke, sondern nur jene Ergebenheit und innere Zustimmung zu allem, was geschieht, welche uns lehrt, Murren und Unzufriedenheit gegen Gott zu meiden.

Wir beten zunächst um Erfüllung des geoffenbarten Willen Gottes; wir sagen gleichsam zu Gott: Gib mir, Herr, reiche und wirksame Gnade, daß ich hurtig und vollkommen deine Gebote ausführe, mich deinen Anordnungen unterwerfe und deinen Wünschen gehorche, wie es die Engel im Himmel tun, die gewaltig und mächtig dein Wort vollziehen auf deiner Rede Laut. (Ps. 102)

Meine Seele, schau’ oft hin, wie herrlich Gottes Wille im Himmel erfüllt wird von den Engeln und Heiligen. Diese Betrachtung wird dich mit Freude erfüllen. Denke an Michael, der nichts im Himmel duldet, was sich gegen Gottes Willen auflehnen möchte; an Gabriel, der mit heiligem Entzücken nach Nazareth herniederstieg, den großen Ratschluß des Heils der heiligsten aller Jungfrauen zu verkünden; an die heiligen Schutzengel, die so bereitwillig mit uns das Erdental durchwandern und uns behüten auf Gottes Geheiß und keine andere Sorge kennen, als uns wohlbehalten zur Himmelsheimat zu führen.

Dieser Wille Gottes ist unendlich anbetungswürdig; was er von uns verlangt, ist immer heilig, immer weise, immer groß, immer ehrenvoll.

Wir können auch darum bitten, daß wir bei allen Leiden und Prüfungen, die Gott uns schickt, jene heilige Ergebung üben, die wir an Jesus im Ölgarten sehen, da er spricht: „Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch hinweg von mir; doch nicht mein Wille geschehe, sondern der deine“ (Luk. 22, 42). Auch um dieses Wortes willen wollen wir den Heiland verehren und anbeten.

 

2. Dank

Daß Gott seinen Willen geoffenbart hat, ist für uns eine unschätzbare Wohltat, für die wir nicht genug danken können. Ebenso groß muß unser Dank sein für die unermesslichen Schätze, die er denen verleiht, die seinen Willen erfüllen. Gottes Wille ist der Weg zur Heiligkeit; mehr braucht es nicht; es ist der Weg zur inneren Ruhe, zum seligsten Herzensfrieden, zur ständigen heiligen Geistesfreude. Nicht wahr, das sind vier Güter, die alle Schätze der Welt übertreffen. Darum singt auch David: „Ich liebe deine Gebote über Gold und Edelsteine“ (Ps. 118, 127).

Die heilige Gertrud wurde von Gott aufgefordert zu wählen zwischen Gesundheit und Krankheit. Da sprach sie voll Demut: „Ich wünsche nichts sehnlicher als das eine, daß nicht mein Wille geschehe, sondern der deine!“ Und so lebte sie beständig ein Leben der Freude und des Friedens. Ruhe findet unser Herz nur in Gott, wie St. Augustinus sagt: „Du hast uns für dich gemacht und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir“ (Confess. 1). Wenn ich Gottes Willen tue, habe ich Gott gefunden und ruhe in Gott.

Und welchen Segen hat das eine Wort der allerseligsten Jungfrau selbst und der ganzen Welt gebracht, als sie zum Engel sprach: „Siehe, ich bin eine Magd des Herrn; mir geschehe nach deinem Wort!“ (Luk. 1, 38) Dieses Wort, dieses Eingehen auf Gottes Willen hat sie zur denkbar höchsten Würde erhoben und hat der Welt die höchste Gnade erworben, die es gibt, die Menschwerdung des eingeborenen Gottessohnes. Zähle, meine Seele, diese Wohltaten, ermiß sie in ihrer ganzen Bedeutung und erzeige dem Herrn jene Dankbarkeit, die ihm gebührt.

 

3. Sühne

Leider übertreten wir oft den Willen Gottes und stürzen uns in Sünden. Das wollen wir jetzt beklagen, dafür wollen wir den Herrn um Verzeihung bitten. Auch an der Ergebenheit in seinen Willen fehlt es oft weit. Hätten wir seinen Anordnungen immer bereitwillig zugestimmt, hätten wir uns willenlos seiner vollen Leitung überlassen, wir wären längst heilig geworden. Daß wir bis jetzt nicht weiter vorwärts gekommen sind, daß wir noch in den Niederungen wandern, haben wir unserem Eigenwillen zu verdanken, der das Werk Gottes in unserer Seelen immer wieder störte.

Gott wirkt immer in uns, und wenn wir ihn ungestört wirken lassen, wenn wir ihm nicht ständig hindernd in den Arm fallen; besonders dann, wenn er eine schmerzliche Operation an uns vornimmt, wird er uns schnell zu Heiligen gebildet haben. Wir haben hier unermesslichen Schaden zu beklagen. Wir müssen den Eigenwillen recht aufrichtig hassen; er ist das einzige Übel, für welches die Hölle geschaffen ist. „Nimm den Eigenwillen hinweg,“ sagte der heilige Bernhard, „und es gibt keine Hölle mehr.“

 

4. Bitte

Ja, Herr, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auch auf Erden. Gib mir den Geist der Unterwerfung, daß ich ausführe, was du gebietest; gib mir den Geist der Losschälung, daß ich gern annehme, was du schickst. Nimm den Eigenwillen ganz aus meinem Herzen.

Die heilige Katharina von Siena hatte in einer Erscheinung des Herrn zu wählen zwischen zwei Kronen, die eine von Rosen, die andere von Dornen. „Aber, mein Lehrer,“ spricht sie, „du weißt doch, daß ich keinen Willen mehr habe; ich will nur dein Wohlgefallen. Gib mir selbst jene, die dir am wohlgefälligsten ist.“ „Sie sind mir beide gleich angenehm,“ sprach lächelnd der Erlöser. Und die Heilige greift nach der Dornenkrone.