7. Betrachtung: Das Vater unser

„Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ (Matth. 6, 12)

 

1. Anbetung

In tiefster Demut beten wir Gottes Heiligkeit an, der alles Böse haßt und dem keine Sünde wohlgefällig sein kann. Sie können bei ihm nicht Schutz und Asylrecht finden, seine Huld und Hilfe nicht erfahren, sondern unstät wie Kain, scheu wie die Nachtvögel fliehen sie das leuchtende Sonnenantlitz, das durchbohrende Flammenauge Gottes (Psallite I, 31).

Und wir alle sind Sünder; wir alle müssen uns aufs tiefste vor ihm demütigen und unser Nichts und unsere Sündigkeit Tag für Tag aufrichtig anerkennen. Und wir beten seine Barmherzigkeit an, die immer bereit ist, dem reuigen Sünder zu verzeihen. Darum mahnt uns der Prophet: „Suchet den Herrn, solange er zu finden ist; ruft ihn an, da er nahe ist. Der Gottlose verlasse seinen Weg und der Frevler seine Gedanken und kehre zum Herrn zurück, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott; quoniam multus est ad ignoscendum, denn er ist vielbereit zum Verzeihen“ (Is. 55, 6)

Endlich beten wir seine Weisheit und Gerechtigkeit an, welche die Verzeihung für uns an eine wichtige Bedingung geknüpft hat. Nur der nämlich hat sie zu erwarten, der seinem Nächsten alles Unrecht von Herzen vergibt, das er von ihm erlitten hat. Darum beten wir: „Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Christus sagt: „Wenn ihr den Menschen ihre Vergehen vergebt, wird euch auch euer himmlischer Vater vergeben“ (Matth. 6, 14). Seine Weisheit hat es in unsere Hand gelegt, Verzeihung zu finden; seine Gerechtigkeit wird sie uns so lang versagen, bis wir die Bedingung erfüllt, bis wir uns mit dem fehlenden Bruder ausgesöhnt haben.

 

2. Dank

Überschaue dein Leben! Wie oft hat dir Gott schon vergeben! Waren es nicht so große Sünden, die dir nachgelassen worden sind? Sünden, vor denen du gezittert hast? Welche dir eine traurige Ewigkeit bereitet hätten? Wie froh warst du, als du wieder das Bewußtsein hattest, ein gottgeliebtes Kind zu sein! Vergiß das nicht! Danke ihm heute recht innig dafür! Auch für jede kleine Sünde, die dir in Langmut und Güte vergeben worden, musst du deinen Dank aussprechen.

Es müsste eine lange Reihe sein, die du heute zusammenstellen könntest: daß du mir die Sünden meiner Jugend vergeben hast, ich danke dir dafür. Daß du meinen Ungehorsam gegen die Eltern mir vergeben hast, ich danke dir dafür. Daß du den Zornesausbruch an jenem Abend mir vergeben hast, ich danke dir dafür… Daß du mich vor den Pforten der Hölle bewahrt hast, ich danke dir dafür. Daß du mir die Gnade der Beharrlichkeit nicht versagt hast, ich danke dir dafür.

Auch das ist eine große Wohltat, daß Gott so streng darauf besteht, daß wir einander aufrichtig vergeben. Es kann dir begegnen, daß dein Bruder etwas gegen dich hat. Es drückt dich schwer, daß der Friede zwischen euch gestört ist. Gott hat ihm befohlen, dir zu vergeben; das ist dein Trost. Wie viel Unglück beseitigt dies Gesetz der Versöhnung unter den Menschen; wie viel neues Glück bringt es wieder in unsere Herzen. Dem Herrn sei Dank, der dieses Friedensgesetz gibt.

Mit David magst du sprechen: „Lobpreise meine Seele den Herrn und alles in mir seinen heil’gen Namen. Lobpreise meine Seele den Herrn und vergiß nicht seiner Gaben. Er ist es, der deine Missetaten all’ verzeiht, der all deine Schwächen heilt; der von dem Untergang dein Leben rettet, der dich mit Gnaden und Erbarmen krönt; der stillt mit Gütern dein Verlangen, daß sich wie des Adlers deine Jugend erneuert. Erbarmen übt der Herr und Recht für alle, die unrecht leiden“ (Ps. 102, 1-6; Wolter, Ps. IV, 27).

 

3. Sühne

Suche das heute recht tief zu ermessen, wie sehr wir Grund haben, die Bitte um Vergebung unserer Sünden recht oft und recht demütig zu erneuern. Wir sind Sünder und haben unsern gütigen, langmütigen und barmherzigen Gott unzählige Mal beleidigt. Er erwartet von uns, daß wir unserer Vergehen in der Bitterkeit unseres Herzens gedenken. Überschaue dein Leben und zähle deine Verschuldungen, und dann geh’ hin und suche dem Herrn Ersatz zu leisten. Jesus gab dir seine Verdienste und Genugtuungen, alle die Schätze seines armen Lebens und seines bitteren Leidens gehören dir. Nimm sie in deine Hände und opfere sie dem allmächtigen Vater auf zum Ersatz für alle Sünden und Nachlässigkeiten deines ganzen Lebens.

Und dann frage dich, woher es kommt, daß du so oft gefallen bist. War es die böse Gelegenheit? Dann meide sie ernsthaft; war es Leichtsinn? oder die Unachtsamkeit? Durch ernstes Nachdenken kannst du sie bekämpfen. War es der Mangel an Sammlung? Übe dich fleißig im Wandel von Gottes Gegenwart.

Und dann vor allem: wie steht es mit der Bedingung, die Jesus stellt? Hast du jedem von Herzen vergeben, der dir wehgetan hat? Leuchte in die tiefsten Falten deines Herzens hinein; denn der Geist der Unversöhnlichkeit steckt oft so tief in der Seele und verbirgt sich hinter allen möglichen Ausreden. Wer nicht verzeiht, der lügt den lieben Gott gleichsam an, so oft er das Vaterunser betet; der verurteilt sich selbst dazu, daß ihm Gott nicht verzeiht. Aber da er nicht verzeihen wollte, war er dessen unwürdig und fiel noch ab, da er schon auf der Richtstätte stand. So schlimm ist es, nicht verzeihen zu wollen.

 

4. Bitte

Mit der Glut der heiligen Büßer rufe zu Gott um Verzeihung deiner Sünden. Siehe, wie eifrig sie waren; ihre Sünden waren ihr einziger Kummer, Verzeihung suchen ihr einziges Geschäft, aus den Banden der Sünde frei zu werden, ihr einziges Anliegen.

Und bitte Gott inständigst um den Geist der Versöhnlichkeit; beschwöre ihn bei all’ seinen Heiligen, daß dir nie das Unglück begegne, einem Bruder die Hand der Versöhnung zu verweigern.

Und schließe häufig in dein Gebet die ein, von denen du dich gekränkt fühlst; nenne sie mit Namen und empfiehl sie der Gnade Gottes.