22. Das verborgene Leben in Nazareth

(Lk 2)

I Jesus übt die Tugenden des verborgenen Lebens

Dann zog Er mit ihnen hinab und kam nach Nazareth1 und war ihnen untertan. Seine Mutter bewahrte alle diese Dinge in ihrem Herzen.

Überschreite ehrfurchtsvoll die Schwelle des Hauses zu Nazareth, das der Sohn Gottes sich für die langen Jahre der Verborgenheit erwählt hat. Betrachte Ihn dort in seinem Leben und Wirken.

Jesus übt die Demut. Er gilt als der Sohn eines armen Handwerkers und schämt sich nicht seines niedrigen Standes. Er nennt Joseph seinen Vater, und dieser nennt Ihn seinen Sohn. Die Wohnung ist ärmlich, klein und unbequem, ohne äußeren Schmuck, ja in mancher Beziehung nicht einmal mit dem Notwendigen versehen. Aber dennoch hat die Gottesmutter alles mit größter Liebe und Sorgfalt eingerichtet. Wie sind seine Nahrung und seine Kleider beschaffen? Alles an Ihm und um Ihn verrät bescheidene Verhältnisse, der Gottessohn teilt das Los der Armen, der Verachteten.

Jesus übt den Gehorsam. Bedenke, wer gehorcht, wem Er gehorcht, worin und wie Er gehorcht. Gott gehorcht den Menschen, der Herr seinen Dienern. Er gehorcht, und siehe mit welchem Eifer Er sich unter das Joch des Gehorsams beugt! Es ist Ihm eine Freude, dem eigenen Willen zu entsagen und das eigene Urteil zu verleugnen. In der Übung des Gehorsams bringt Er dem himmlischen Vater das Opfer seiner selbst dar. Für Ihn ist der Gehorsam ein Brandopfer, durch das der Mensch sich gänzlich in den Flammen der Liebe seinem Schöpfer und Herrn durch die Hände seiner Stellvertreter darbringt. Wer den Gehorsam so auffaßt, dem ist alles leicht.

Jesus arbeitet. Begib dich in die Werkstätte des heiligen Joseph. Der Schöpfer Himmels und der Erde, der zu uns herniedergestiegen ist, erlernt von einem seiner Geschöpfe das bescheidene Handwerk des Zimmermanns. Im Schweiße seines Angesichts verdient Er seinen Lebensunterhalt. Von seinem Arbeitslohn leben sowohl Er als die Seinigen. Er, dessen Allmacht das Weltall trägt, dessen Weisheit alle Wesen regiert, will sein tägliches Brot durch harte Arbeit verdienen. Versenke dich in den Anblick dieser wunderbaren Tatsache. Küsse im Geist die Werkzeuge, mit denen der Gottessohn arbeitet. Suche die Schönheit solcher Erniedrigung zu erfassen. Lerne auch du es, in allem, auch in der täglichen Arbeit, Gott zu dienen aus Liebe und Gehorsam. Es kommt ja nicht so sehr darauf an, was wir tun, sondern wie wir es tun. Kannst du dich nun noch länger über die dreißig Jahre seines verborgenen Lebens wundern?

1 Unabhängig von dem Haus der Verkündigung bezeichnet die Tradition ein Haus, das Maria und Joseph bewohnten und in dem die Werkstätte des heiligen Joseph war. Hier lernte der Sohn Gottes von seinem Pflegevater das Handwerk eines Zimmermanns.

 

II Jesus nimmt zu an Alter und Weisheit

Und Jesus nahm zu an Weisheit, an Alter und an Wohlgefallen vor Gott und den Menschen.

Lerne hier die Quellen des übernatürlichen Fortschrittes kennen. Willst du wachsen an Gnade vor Gott, so demütige dich! Der Blick Gottes ruht mit Wohlgefallen auf den demütigen Seelen. Die Demut zieht die Gnadenfülle des Himmels in das Menschenherz herab. Um der Welt zu gefallen, muß man sich zur Geltung bringen, um Gott zu gefallen, sich verbergen. Befürchtest du vielleicht, dein Leben werde durch demütiges Verhalten unnütz? Welches Leben war segensreicher als das deines Erlösers? Wer seine Talente in der Verborgenheit Frucht bringen läßt, vergräbt sie nicht.

Willst du wachsen an Gnade vor Gott, so gehorche. Freue dich der Abhängigkeit, in der du lebst. Lege deinen Stolz dem Heiland zu Füßen. Deine Freiheit gehört Gott, gib sie hin durch Gehorsam gegen jene, die dir in seinem Namen befehlen. Diese Abhängigkeit gibt dem Menschen das Königszepter wieder, das seine Auflehnung gegen Gott im Paradiesgarten ihm geraubt hatte. Gehorchen heißt sich beherrschen, warum solltest du also den Gehorsam fürchten?

Willst du wachsen an Gnade vor Gott, so arbeite. Liebe die Arbeit, schätze sie hoch und heilige sie. Der Mensch hatte sich durch die Sünde von Gott losgesagt, durch die Arbeit unterwirft er sich Ihm wieder und wirkt Buße für seine törichten Verirrungen. Darum gibt uns Jesus das Beispiel der Arbeit. Schon in der Werkstätte zu Nazareth beginnt Er sein Genugtuungswerk. Sieh zu, wie du es bisher mit dieser Buße und Sühne gehalten hast!

Sei versichert, wenn du das verborgene Leben mit seinen unscheinbaren Beschäftigungen, seinen kleinen Verdemütigungen, seiner beständigen Hingabe und seiner schlichten Aufopferung um Gottes Willen liebst, so ruht der Blick des himmlischen Vaters mit Wohlgefallen auf dir. Das Leben der Gnade wird in deiner Seele an Kraft gewinnen, und du wirst erstaunliche Fortschritte in der Tugend machen.