27. Der Aufenthalt Jesu in der Wüste

(Mt 4, Mk 1, Lk 4)

 

I Jesus zieht sich in die Wüste zurück, um sich auf sein Apostolat vorzubereiten

Alsdann wurde Jesus vom Geiste in die Wüste geführt, um vom Teufel versucht zu werden.

Folge Jesus in die Wüste. Warum begibt Er sich dorthin, und was bedeutet diese Zurückgezogenheit?

Jesus hat soeben besondere, himmlische Gunstbezeugungen erfahren. Er will Nutzen daraus ziehen. Er steht vor dem Beginn des wichtigsten Unternehmens und will sich vom himmlischen Vater den notwendigen Beistand erflehen, um es erfolgreich zu Ende zu führen. Seine Aufgabe ist es, die Menschen zu heiligen. Er will ihnen jetzt das Beispiel geben. Bald wird Er große Kämpfe gegen die Hölle zu bestehen haben. Deshalb stählt Er jetzt seinen Mut. Das ist der Zweck seiner Zurückgezogenheit in der Wüste. Das sind die heilsamen Wirkungen einer geistlichen Einsamkeit. Glücklich der, dem der Heilige Geist das Verlangen danach einflößt, und der dieser Einladung entspricht!

Gib dich deinem Erlöser ganz hin. Gib Ihm dein Herz, damit Er es von allen ungeordneten Neigungen befreie, die deinen Fortschritt hindern. Gib Ihm deinen Willen, damit Er ihn kräftige, um entschiedene Vorsätze zu fassen. Ist für dich die Einsamkeit vielleicht weniger notwendig als für Ihn?

Wenn du dich den Geschäften der Welt nicht entziehen willst, wie kannst du Gottes Wort betrachten? Wie willst du dich inmitten der Zerstreuungen dem heilsamen Einfluß der Gnade hingeben, wie die Wichtigkeit deiner täglichen Pflichten erfassen, wie den Täuschungen der Eigenliebe, den Lockungen der Sinne wehren, wie den Versuchungen Satans widerstehen? Bedenke dies in der Gegenwart des Heilandes. Verbessere nach seiner Anleitung deine irrigen, oberflächlichen Ansichten. Beschwöre Ihn, auch in deiner Seele jene Gesinnungen zu wecken, die sein Verhalten beseelen.

 

II Jesus fastet vierzig Tage lang

Und Er war in der Wüste vierzig Tage und vierzig Nächte lang und wurde vom Teufel versucht. Er aß nichts in jenen Tagen. Als sie zu Ende waren, hungerte Ihn.1

Suche in der Wüste den Ort2 auf, wo Jesus sich befindet. Bleibe bei Ihm und betrachte Ihn aufmerksam. Was tut Er? Das Leben des Herrn in der Wüste war ein Leben der Demut, der Buße und des Gebetes.

Erfaßt dich nicht ein tiefes Staunen, wenn du den Sohn Gottes in solcher Einsamkeit mitten unter den unvernünftigen Tieren siehst? So erniedrigt Er sich für jene, die sich erheben wollen. In seinem Stolz hatte der Mensch ausgerufen: «Ich will bis zu Gott emporsteigen!» Jesus antwortet: «Ich will mich zu den Geringsten herablassen!»

Er sühnt deine Nachlässigkeit und Trägheit, mit der du die Fast- und Abstinenzgebote erfüllst. Er tut Buße für deine weichliche Lebensweise und für dein ausgesuchtes Wohlleben. Er leistet Genugtuung für allen Überfluß in deiner Wohnung und Kleidung, für deine Feinschmeckerei und Sinnlichkeit bei den Mahlzeiten. Er unterzieht sich schmerzlichen Abtötungen, damit der himmlische Vater seinen Blick abwende von deiner sündhaften Begierlichkeit. Für dich leidet Er. Schließe dich Ihm bereitwillig an. Lerne von deinem Erlöser, dein Fleisch zu bezähmen, deinen Leib abzutöten, Hunger und Durst, Kälte und Hitze, Armut und Entbehrung ohne Murren zu ertragen.

Wozu aber nützt alles andere, wenn du nicht betest? Beten heißt, seine Seele zu Gott zu erheben, ihm seine kindliche Huldigung darbringen, vertrauensvoll mit Ihm über seine eigenen Interessen und über die Angelegenheiten seiner Lieben sich zu besprechen. Für ein solches Gebet bedarf es der Freiheit des Geistes, der Sammlung der Sinne und der Losschälung des Herzens. Diese Seelenstimmung wird durch Verdemütigung und Bußwerke erlangt.

Aber woher wirst du den Mut nehmen zur Übung der Buße nach dem Beispiel Jesu? Zuerst aus dem Gedanken, daß die Buße nur ein Mittel ist und daß der Zweck, den wir durch sie erreichen, jeder Anstrengung wert ist. Den mächtigsten Ansporn, Buße zu üben, finden wir in der Liebe Gottes. Ist sie nicht eine Macht, die alles Leiden versüßt? Vermehrt das für Gott erduldete Leiden nicht beständig die Liebe und in demselben Maß auch den Frieden und die Freude des Herzens? Versenke dich in diese Gedanken, verweile heute länger bei deinem göttlichen Meister. Ergreife die Gnaden, die Er dir anbietet, und fasse die Vorsätze, zu denen Er dich drängt.

1 Es war mitten im Winter, wo die Wüste noch düsterer als gewöhnlich, die Witterung rauher ist und wo die spärlichen Pflanzen ohne Laub und Früchte sind.

2 Dieser Ort liegt in der Nähe von Jericho. Seine Höhe beträgt ca. 1500 Meter. Der Aufstieg ist beschwerlich und oft nicht ohne Gefahr. Er hat zahlreiche Höhlen oder Grotten, die ehedem von frommen Einsiedlern bewohnt waren. Eine dieser Grotten soll dem Heiland während seines vierzigtägigen Fastens zum Aufenthalt gedient haben.