106. Das Gleichnis vom Senfkorn

(Mt 13, Mk 4, Lk 13)

 

I Der Wert auch der geringsten Gnade

«Womit sollen wir das Reich Gottes vergleichen? Unter welchem Gleichnis es darstellen? Es gleicht einem Senfkorn. Sät man es in die Erde, so ist es kleiner als alle andern Samenkörner auf Erden. Ist es aber gesät, so schießt es empor und wird größer als alle Gartengewächse.»

Der Heiland bringt abermals ein Gleichnis vom Himmelreich. Diesmal wählt Er das Senfkorn. So führt uns die göttliche Weisheit durch einfache Betrachtung in ihre tiefsten Gedanken ein. Was will uns Jesus mit dem Gleichnis vom Senfkorn lehren? Die Wirksamkeit des himmlischen Vaters offenbart sich oft in unscheinbarer Weise, indes bringt sie uns in Wahrheit unendliche Güter. In gar armer Hülle sucht der Schöpfer sein Geschöpf und doch bringt Er die reichsten himmlischen Schätze mit. Er spricht nur ein Wort und weckt damit einen Gedanken, weist hin auf eine Pflicht, fordert die Nutzung eines Augenblicks, eine kleine Anstrengung. Er spricht ein Wort, und die Seele wird gesund. Er spricht ein Wort und wandelt ein Stücklein Brot in den Leib des Herrn. Die äußeren Sinne fassen es nicht, aber der Glaube lehrt uns: Hier ist göttliche Allmacht, die mit einem Wort eine Welt schafft und ordnet, göttliche Weisheit, die durch eine leise Einsprechung jedes Dunkel erleuchtet, unendliche Güte, die bereit ist, eine Fülle von Wohltaten zu spenden, unendliche Barmherzigkeit, die von keinem Elend sich abwendet. So spricht der Glaube, und er spricht die Wahrheit. Er erkennt Gott, beugt sich vor Ihm und betet Ihn an. Der gläubige Christ betrachtet es als seine Pflicht, sich rückhaltlos der göttlichen Einwirkung hinzugeben. Warum widerstrebt unsere sinnliche Natur den Opfern, die ein Leben aus dem Glauben von ihr fordert? Weil der Mensch den nicht erkennt und sieht, der ihm diese Opfer auferlegt. Er vernimmt nur eine Stimme, die zur Selbstverleugnung auffordert, ohne zu wissen, von wem sie ausgeht. Doch vom Glauben erleuchtet, wird er um so deutlicher das Wirken Gottes in seiner Seele wahrnehmen, je mehr die sündige Natur unterdrückt worden ist.

 

II Die wunderbare Wirkung der Gnade

«Es treibt so große Zweige, daß die Vögel des Himmels in seinem Schatten wohnen können.»

Kannst du den Gedanken des göttlichen Meisters fassen? Das Wachstum des Senfkorns kommt dir erstaunlich vor. Wenn Gott selbst sich uns unter unscheinbarem Äußern naht, wenn Er durch die allerkleinsten Gaben sich selbst mitteilt, kann es da erstaunlich sein, daß Er Wunder großartigen Wachstums wirkt?

Lerne, der kleinsten Gnade zu entsprechen. Mit der Gnade mitwirken heißt, die Wirksamkeit Gottes in uns zu unterstützen. Gleich unter welcher Gestalt auch immer Gott sich uns nähert, Er kommt stets, um in uns zu wirken. Wenn Er sich uns so ganz klein naht, so beabsichtigt Er, recht tief in unser Inneres einzudringen. Es ist kein Geringerer als Er selbst, der an uns arbeitet. Seine Hand wirkt nichts Unbedeutendes. Wenn wir auf seine Absichten eingehen, geben wir Ihm Gelegenheit, Wunder seiner Allmacht zu vollziehen. Wirkst du treu mit den kleineren Gnaden mit, so wird Gott dir größere geben. Dein Leben wird eine Quelle siegreichen apostolischen Wirkens werden. Du wirst den Schwachen Stütze, den Guten Freude, den Furchtsamen Trost und Stärke, den Traurigen Ermutigung sein.

Wie hast du bisher diese so tröstliche Lehre Jesu verstanden? Beeile dich, das früher Versäumte nachzuholen. Übergib dich rückhaltlos dem Wirken des göttlichen Sämanns!