135. Die kananäische Frau

(Mt 15, Mk 7)

 

I Jesus verläßt Galiläa, um sich seinen Feinden zu entziehen

Von dort ging Jesus weiter und zog in die Gegend von Tyrus und Sidon. Da kam eine kananäische Frau aus jener Gegend und warf sich Ihm zu Füßen.1

Von dort ging Jesus weiter und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon. Und Er trat in ein Haus und wollte, daß es niemand erfahren sollte. Er konnte aber nicht verborgen bleiben. Denn kaum hatte eine Frau, deren Tochter einen unreinen Geist hatte, von Ihm gehört, so ging sie sogleich hinein und warf sich Ihm zu Füßen.

Mache das einsame Haus ausfindig, wohin Jesus sich zurückgezogen hat, und betritt es in heiliger Sammlung! Jesus verbirgt sich ja nur, um uns einzuladen, Ihn aufzusuchen.

Eine Frau eilt dem Heiland auf seinem Weg entgegen. Es ist eine von Leiden heimgesuchte Seele, von der du lernen kannst, die Last deines Elends in das Meer der göttlichen Barmherzigkeit zu versenken. Eine arme Heidin lehrt dich, wie du beten sollst. Ohne es zu wissen, offenbart sie der Welt, welch unwiderstehliche Gewalt ein festes Vertrauen auf das Herz Jesu ausübt.

Noch weiß die Kananäerin kaum, wer Jesus ist, und schon hofft sie auf Ihn. Eines zwar weiß sie von Ihm, daß Er gut ist, dies genügt für den Augenblick. Auf die erste Nachricht seines Kommens eilt sie Ihm entgegen. Was könnten wir nicht alles erlangen, wenn wir wie sie den leisesten Anregungen der Gnade folgten. Preise sie glücklich ob ihrer Bereitwilligkeit, und bestärke sie in ihrem Vertrauen auf die Güte des Heilandes.

1 Nach einigen Überlieferungen soll die Kananiterin in Sarepta gewohnt haben. Sarepta liegt am Ufer des Meeres zwischen Tyrus und Sidon. Der Name dieser Frau soll Justa gewesen sein und der ihrer Tochter Berenice.

 

II Jesus antwortet nicht auf die Bitten der Frau

Die Frau rief: «Erbarme dich meiner, Herr, Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem bösen Geist sehr geplagt.» Er aber würdigte sie keines Wortes.

Höre den Bittruf dieser Frau: «Erbarme dich meiner!» Das ist alles, was sie zu sagen weiß.

Warum siehst du beim Gebet so sehr auf die Form? Das beste Gebet ist oft nur ein Angstschrei der Seele. Wenn man sich seiner Not lebhaft bewußt ist und bedenkt, an wen man sich wendet, dann betet man gut. Ein einziges Wort genügt demjenigen, der die Macht besitzt, augenblicklich zu helfen.

Warum antwortet ihr der Heiland nicht? Kann es ein Gebet geben, das keinen Widerhall in seinem Herzen weckt? Das Schweigen Jesu ist hier Aufforderung zur Beharrlichkeit. Er schiebt die Erhörung unserer Bitten auf, um die Inbrunst unseres Flehens zu vermehren.

Die Jünger legen Fürbitte ein. Lerne von ihnen, für die einzutreten, die von der Welt verachtet werden. Da traten seine Jünger hinzu, baten Ihn und sprachen: «Entlasse sie, denn sie schreit hinter uns her. Wenn Du nicht um ihretwillen ihre Bitte erhörst, so tue es unsertwegen.» Aber die Sache der armen Frau scheint aussichtslos, denn Jesus antwortet: «Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.» — Man muß den Zusammenhang richtig verstehen, um sich durch dieses Wort nicht entmutigen zu lassen. Die Handlungsweise Jesu zeigt zur Genüge, daß auch die Fremdlinge teilhaben können an den Gütern, die den Kindern Israels zugedacht waren. Wer an die Güte Jesu glaubt, erwirbt sich gleichsam Bürgerrecht in Israel. Ein unerschütterliches Vertrauen ist alles, was Jesus von der betenden Seele verlangt, aber diese Forderung ist bei Ihm unerläßlich.

 

III Jesus prüft den Glauben der Kananäerin und erhört sie

Indes kam sie heran, fiel vor Ihm nieder und sprach: «Herr, hilf mir!» Und sie bat Ihn, daß Er den bösen Geist von ihrer Tochter austreiben möchte.

Betrachte das Verhalten dieser armen Heidin, und laß dich von ihrem Beispiel zu gleicher Standhaftigkeit im Vertrauen ermutigen! Sie will um jeden Preis Erhörung finden und geht geradewegs auf ihr Ziel zu, ohne sich um Fürsprache zu bemühen. Es liegt ihr einzig daran, Jesus zu zeigen, wie fest sie von seiner Güte überzeugt ist, trotz seiner ablehnenden Haltung ihr gegenüber. Sie kennt den Heiland besser als du. «Meister, hilf mir!» ruft sie immer wieder. Genügt dies noch nicht, um erhört zu werden? Ohne Zweifel, aber der Heiland will den Seelen, die weniger Mut, Vertrauen und Demut haben, ein herrliches Beispiel vor Augen führen. Darum richtet Er so harte, beschämende Worte an diese Frau, die doch der Erhörung so würdig war.

Er aber sprach zu ihr: «Laß erst die Kinder sich sättigen, denn es ist nicht recht, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hündlein hinzuwerfen.»1 Nimm kein Ärgernis an diesen Worten, sondern lerne, daß das Gebet ein Kampf und die Erhörung ein Sieg ist, den du davontragen sollst. Wenn du dies recht bedenktest, würdest du im Gebet nicht so schnell ermüden und dich nicht beklagen, falls Gott dich zuweilen lange um die Erhörung ringen läßt. Gestehe mit Beschämung, daß diese Heidin besser zu beten weiß als du.

Sieh, wie sie sich gleichsam vernichtet zu den Füßen dessen, den sie anfleht! Bewundere ihren Glauben in den Demütigungen, die sie erträgt! Sie erwiderte Ihm: «Ja Herr, aber die Hündlein unter dem Tisch essen von den Brosamen der Kinder.» Ich lasse mich gern von Dir mit Füßen treten, wenn diese Demütigung die geringste deiner Gaben auf mich herab zieht. Ich will ja nur die Brosamen von deiner festlichen Tafel auflesen.

Nicht länger kann der Heiland so großem Vertrauen und so tiefer Demut widerstehen, freudig ruft Er aus: «O Frau, dein Glaube ist groß!» Also nur um ihren Glauben und ihre Demut zu prüfen und zu steigern, zögerte Er mit der Gewährung ihrer Bitte. Gott demütigt die Seinen nur, um sie auf den Empfang größerer Gnaden vorzubereiten. Wenn Er dich erniedrigt, will Er dich erheben!

«Dir geschehe, wie du willst», fährt Jesus fort. Freue dich mit der glücklichen Frau ihres Erfolges! Ihr hast du es zu verdanken, daß du nun besser weißt, wo der Schlüssel zu den Schätzen Gottes zu finden ist und welchen Seelen Gott seine Reichtümer zur Verfügung stellt. Lerne von ihr, dich mit ganzer Seele für das einzusetzen, worum du bittest. Wisse, daß bitten wollen heißt und daß für den wahren Jünger Jesu Christi wollen und erlangen eins sind. Richte dich in Zukunft nach diesen Grundsätzen!

1 Dieser Ausdruck war bei den Juden gebräuchlich, um die Heiden zu bezeichnen.