151. Von der wahren Größe
(Lk 9, Mt 18, Mk 9)
I Der Rangstreit unter den Aposteln
Es kam ihnen der Gedanke in den Sinn, wer von ihnen wohl der Größte sei. Zu Hause1 angelangt, fragte Er sie: «Wovon habt ihr gesprochen?» Sie aber schwiegen.
Gehe deinem Meister freudig entgegen mit dem lebhaften Verlangen, aus seinen Unterweisungen Nutzen zu ziehen! Du siehst, wie die Apostel unter sich streiten. Es zeugt von wenig Verständnis für die Lehre Jesu, wenn man sich in seiner Nachfolge um den Vorrang streitet und nach menschlicher Ehre verlangt. Die Apostel haben Erleuchtung nötig, ihr Meister will sie aufklären. Er will sie lehren, daß in seiner Schule die Demut eine höchst notwendige Tugend ist, weil ohne Demut alle anderen Tugenden in Gefahr sind.
Er sammelt seine Jünger um sich und fragt sie: «Wovon habt ihr auf dem Weg gesprochen?» Sie wagen nicht gleich zu antworten. In der Nähe eines Meisters, der sich aller Verachtung preisgibt, um den Vorrang zu streiten, ist in der Tat sehr beschämend. Die Apostel fühlen es lebhaft, und Jesus benutzt ihre Stimmung, um sie zu belehren und zu heilen. Preise diesen so gütigen Meister und freue dich, daß du Ihm angehörst!
1 Wahrscheinlich in Kapharnaum, während des Aufenthaltes Jesu daselbst nach meiner Rückkehr vom Tabor und vor seiner Reise nach Jerusalem zum Laubhüttenfest im September.
II Jesus lehrt sie, wie man vor Gott groß wird
Die Jünger traten zu Jesus und sprachen: «Wer ist wohl der Größte im Himmelreich?» Jesus antwortete: «Wer der erste sein will, der sei der letzte und der Diener aller.»
Die Apostel brechen mit einer Frage das peinliche Schweigen. Die Sorge für ihr Seelenheil hilft ihnen, sich über die Beschämung hinwegzusetzen. Was ist genau betrachtet der Sinn ihrer Frage? Sie empfinden Ehrgeiz und möchten ihn befriedigen. «Wer ist der erste und wie wird man der erste?» fragen sie. Mit anderen Worten: «Was muß man unter dem neuen Gesetz tun, um erhöht zu werden?»
Erwäge die Antwort Jesu: «Dem Demütigen kommt der erste Platz zu!» Jesus drückt ihren Ehrgeiz nicht nieder. Er lenkt ihn auf das richtige Ziel. In seiner Nachfolge darf man viel Ehrgeiz haben.
Betrachte die ergreifende Szene, die nun folgt. Jesus will seinen Jüngern die Lehre von der Demut auf immer ins Gedächtnis graben. Er nimmt ein Kind bei der Hand, stellt es in ihre Mitte und spricht: «Wenn ihr euch nicht bekehrt und nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen.» — «Das ist euer Vorbild», spricht Jesus, die göttliche Weisheit, «das ist das Bild wahrer Größe in meiner Schule, in meiner Kirche!»
Der Sohn Gottes ist Mensch geworden, um dem Hochmut der Welt den Todesstoß zu geben. Er will dir den Mut einflößen, den Stolz auch in deinem Herzen abzutöten. Der Stolz schließt die Himmelstür, die Demut öffnet sie. In der Kirche Christi nimmt der Stolz die letzte Stelle ein, während die Demut den Menschen erhebt. Alle Liebe und Zärtlichkeit des Heilands, alle Schätze seiner Gnade gehören den Kleinen und Demütigen. Strebe danach, wieder einfach wie ein Kind zu werden! Die wahre Größe liegt nach der Lehre des Evangeliums darin, alles zu vermeiden, was der kindlichen Einfalt nicht entspricht, und sich von ganzem Herzen in der Demut, in der Selbstverachtung und der Unterdrückung aller selbstsüchtigen Bestrebungen zu üben. So mache denn das Gesetz der Demut zur Richtschnur deines Wandels und nimm Jesus, den Sohn Gottes, in seiner Demut und Erniedrigung zum Vorbild!
III Er erklärt den Wert der tätigen Nächstenliebe
«Wahrlich, ich sage euch: Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, nimmt nicht mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.»
Beherzige, wie Jesus der Demut das Gepräge der Liebe aufdrückt. Das neue Gesetz ist das Gesetz der Liebe, und wenn der Meister seine Jünger am letzten Platz sehen will, so tut Er dies, damit sie sich vollständiger in den Dienst des Nächsten stellen können. Wer sich als den letzten ansieht, schließt niemanden von seiner Hingebung aus. Man wird allen alles, sobald man nicht mehr sich selbst sucht.
Demut ist der echte Adel großmütiger Seelen. In der Nachfolge Jesu verdemütigt man sich, um seinen Mitmenschen besser zu dienen. Demut und Liebe reichen sich schwesterlich die Hand. Der Wille zur Demut erwächst den Heiligen aus dem Drang der werktätigen Nächstenliebe. Wer von wahrem Eifer für die göttliche Ehre und das Heil der Nächsten erfüllt ist, dem ist die Demütigung willkommen.
Beherzige diesen Gedanken! Werde demütig, und du wirst gütig sein, lerne dir selbst absterben, um für andere und dadurch für Gott zu leben!