192. Die Heilung der gebückten Frau

(Lk 13)

 

I Jesus entdeckt unter seinen Zuhörern eine kranke Frau

An einem Sabbat lehrte Er in einer Synagoge. Da war eine Frau, die schon achtzehn Jahre einen Geist des Siechtums hatte. Sie war ganz verkrümmt und konnte sich nicht mehr aufrichten.

Betritt mit dem göttlichen Meister die Synagoge, und du wirst Zeuge eines neuen Beweises seiner Barmherzigkeit sein. Das Auge des Heilands sucht in der Menge die Leidenden, die Seiner ja besonders bedürfen. Da entdeckt Er jene Kranke, die zur Erde gebeugt ist und nicht aufwärts blicken kann. Erkennst du in ihrer Krankheit nicht deinen eigenen Zustand, deinen aufs Irdische gerichteten Geist, deine den niedrigen Genüssen zugewandte Begierlichkeit, die rein natürlichen Neigungen deines Herzens und deinen niedergebeugten Willen, der sich nicht zu erheben vermag? Im Drang weltlicher Geschäfte ist der Gedanke an dein letztes Ziel und Ende immer mehr in den Hintergrund getreten. Du hast schon lange nicht mehr das Glück verkostet, das in dem großmütigen Streben nach Vollkommenheit liegt. Wer gern an irdische Dinge denkt und gewohnheitsmäßig seinen natürlichen Neigungen folgt, verliert die Richtung der Seele aufs Übernatürliche und den Aufblick zu Gott.

An die Stelle der früheren Lust und Leichtigkeit in der Ausübung des Guten tritt jetzt Widerwille, Überdruß und Entmutigung. Alle Mahnungen des Himmels lassen das Herz kalt und unberührt. Ein solches Übel bedarf dringend der Heilung, und wenn du dir bewußt bist, daß deine Seele daran krankt, dann zögere nicht, dich an den göttlichen Arzt zu wenden, den dir dein himmlischer Vater sendet. Bitte Ihn, Er möge dich wiederum jenes Glück empfinden lassen, das dich erfüllte, als dein Blick noch aufwärts gerichtet war und all dein Sehnen nach dem Himmel ging.

 

II Jesus ruft die Kranke zu sich und heilt sie

Als Jesus sie erblickte, rief Er sie zu sich und sprach zu ihr: «Frau, du bist von deinem Siechtum erlöst.» Dabei legte Er ihr die Hände auf. Sogleich richtete sie sich auf und pries Gott.

Der Heiland ruft die Kranke zu sich, obgleich sie Ihn um nichts gebeten hat. Sie wartete geduldig und schwieg; aber gerade geduldiges Schweigen wird vor Gott zum Gebet. Er bietet uns seine Wohltaten an, ehe wir Ihn darum bitten.

«Komm zu mir», sagt Jesus, «ich kenne dich, deine demütigende Hilflosigkeit und die lange Dauer deiner Schmerzen. Nur der Allmächtige kann dich heilen. Ich bin es und bin gekommen, um dir zu helfen.» Sieh, welche Rührung das Herz des Erlösers ergreift beim Anblick dieses Elendes, für das die Menschen kein Heilmittel kennen, und wie gern Er die Seelen, die mühselig zur Erde niedergebeugt sind, wieder aufrichtet, um ihnen den Ausblick auf den Himmel zu erschließen! Nahe dich Ihm vertrauensvoll wie jene Kranke, und die Berührung seiner Hände wird auch dich gesund machen. Sobald Er das Wort der Heilung gesprochen, schwindet die Krankheit. — Die arme Frau richtet sich plötzlich auf und erhebt Augen und Herz voll Dankbarkeit zum Himmel. Folge ihrem Beispiel, denn Jesus verlangt, deinen Blick und dein Herz himmelwärts zu lenken. Wirst du dort endlich jene unvergleichliche Schönheit entdecken, die deine Seele auf ewig fesselt und alle irdischen Bande zerreißt? Das Wunder bewirkt bei den Feinden Jesu neue Ausbrüche der Eifersucht und des Hasses. Man beschuldigt Ihn der Sabbatschändung. Jesus aber erklärt feierlich, daß die Ausübung von Werken der Barmherzigkeit und Liebe auch Gottesdienst sei. Dies ist der Grundsatz, nach dem du leben sollst, dein göttlicher Meister hat ihn zuerst befolgt. Er liebt auch dich inniger, als dein armes Herz je zu lieben vermag. Sage Ihm Dank, und weihe dich Ihm aufs neue!