201. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf

(Lk 15)

 

I Jesus erklärt sich bereit, alles zu tun, um die Sünder zu bekehren

Allerlei Zöllner und Sünder nahten sich Ihm, um Ihn zu hören. Darüber murrten die Pharisäer und Schriftgelehrten und sagten: «Dieser nimmt die Sünder auf und ißt mit ihnen.» Da trug Er ihnen dieses Gleichnis vor: «Wenn einer von euch hundert Schafe besitzt und eins davon verliert, läßt er nicht die neunundneunzig in der Wüste und geht dem verlorenen nach, bis er es findet?»

Geselle dich den Zöllnern und Sündern zu, die sich dem Heiland nahen! Bei ihnen ist wirklich dein Platz, du bist sündhaft und armselig wie sie.

Jesus weilt gern bei den Sündern, das kleinste Zeichen ihres guten Willens und ihrer Reue erfreut sein göttliches Herz. Er selbst versichert, daß Er, um ein verirrtes Schaf zu seiner Herde zurückzuführen, seine ganze Weisheit und die ganze Liebe seines Herzens einsetzt.

Warum so viel Großmut? Versuche die Beweggründe des Heilands zu verstehen. Das Schaf, das sich von seiner Herde entfernt hat, bereitet dem göttlichen Hirten einen tiefen Schmerz. Der Erfolg mühevoller Arbeit und erkämpfter Siege ist mit einem Schlag vereitelt. Wenn Er es sich selbst überläßt, ist sein Verderben besiegelt. Deshalb wundere dich nicht, daß der gute Hirt über diesen Verlust sehr betrübt ist und dem Unheil um jeden Preis abhelfen will. Er sinnt auf Mittel und Wege, um sein Ziel zu erreichen. Seiner göttlichen Weisheit scheint keine Mühe zu groß, wenn es gilt, eine verirrte Seele ihren Täuschungen zu entreißen, ihr die Häßlichkeit ihrer Fehler zu zeigen und sie die Schwere ihrer Verantwortlichkeit fühlen zu lassen. Der göttliche Heiland beschäftigt sich mit ihr, als ob sie ganz allein in der Welt wäre. Denke über diese Wahrheit nach, und du wirst im Gottvertrauen erstarken.

 

II Jesus beschreibt seine Freude über die Bekehrung eines Sünders

«Er geht dem verlorenen nach, bis er es findet. Hat er es gefunden, so nimmt er es voll Freude auf seine Schultern. Und wenn er nach Hause kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir, ich habe mein Schaf wiedergefunden, das verloren war.»

Betrachte den guten Hirten auf dem Weg, den Er einschlägt, um das verlorene Schaf wiederzufinden. Es ist der Weg, auf dem der Teufel unvorsichtige Seelen ins Verderben führt. Bist nicht auch du diesen Weg gewandelt, und hast du dadurch nicht mehr als einmal dein Seelenheil aufs Spiel gesetzt?

Der gute Hirt erzählt gleichsam die Geschichte deiner Bekehrung. Deine Undankbarkeit hatte dich seiner liebevollen Sorge ganz unwürdig gemacht, aber trotzdem hat Er sich sogleich auf den Weg begeben, um dich um jeden Preis zum Schafstall zurückzuführen, ungeachtet deines langen Widerstandes, deines häufigen Rückfalls und deines kränkenden Verrats. Nichts konnte Ihn entmutigen!

Erinnere dich, mit wie viel Liebe sein Blick auf dir ruhte, mit welch zärtlicher Sorge Er das erste Zeichen deiner Reue erwartete und wie Er sich dann mit väterlicher Liebe dir zuneigte, deine Wunden verband und deine Hoffnung neu belebte! Das alles war noch nicht genug. Der Heiland suchte dir die Rückkehr in den Schafstall in jeder Weise zu erleichtern und deine Anstrengungen zu unterstützen, damit du in Zukunft den Forderungen der Pflicht nachkommst trotz aller Lockungen der Leidenschaft. Darum ist Er in den Beweisen seiner Liebe bis zum äußersten gegangen. Er hat dich auf seinen Schultern getragen, dich an seinem Herzen ruhen lassen und mit unwiderstehlicher Liebe dich an sich gelockt. Durchlebe im Geist noch einmal jene Stunden, in denen der Herr dir seine Barmherzigkeit offenbarte, und laß die Freude wieder aufleben, die dich erfüllte, als Er dir all seine Sünden verzieh!

Vollende das Werk deiner Bekehrung, damit deine Freude voll werde! Eile dem guten Hirten entgegen und erkläre dich besiegt! Bekenne deine Fehler und bitte Ihn, dich wieder in seinen Schafstall aufzunehmen!

 

III Die Freude im Himmel über die Bekehrung eines Sünders

«Ebenso wird im Himmel größere Freude sein über einen Sünder, der sich bekehrt, als über neunundneunzig Gerechte, welche der Bekehrung nicht bedürfen.»

Richte deinen Blick nach oben und sieh, wie der Sohn Gottes dich dem ganzen himmlischen Hof vorstellt mit den Worten: «Hier ist die Seele, die ich verloren hatte. Sie hat ihre Sünde beweint, ich durfte die Frucht meiner Arbeiten und meines Blutes wiederfinden. Darum freut euch mit mir!» Die Seligen des Himmels freuen sich über die Tränen des Sünders, die ihm das Anrecht auf einen Platz bei ihnen schenkt, sie beginnen jetzt schon das Fest seiner einstigen Seligsprechung. Bleibe nun dem Herrn treu, und halte fest am Geist der Buße, der zum ewigen Glück hinführt.

Bedenke auch, daß die Bekehrung einer einzigen Seele den ganzen himmlischen Hof in solche Freude versetzt. Dies zeigt, wie kostbar jede Seele in den Augen Gottes und der Heiligen ist. Du wirst deshalb deine Seele sorgfältig vor jeder Gefahr der Verunreinigung durch die Sünde bewahren.