209. Das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner
(Lk 18)
I Gottes Abscheu vor dem Hochmut
Zu einigen, die sich voll Selbstvertrauen für gerecht hielten und die andern verachteten, sprach Er folgendes Gleichnis: «Zwei Menschen gingen hinauf in den Tempel, um zu beten. Der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.»
Unter den Zuhörern des Heilands befinden sich Männer, deren übertriebenes Selbstvertrauen Ihm mißfällt, und Er beschließt, ihren stolzen Sinn aufzudecken und zu demütigen. Hochmut und Anmaßung sind der göttlichen Gerechtigkeit unerträglich, und Jesus will diesen selbstgerechten Menschen durch ein Gleichnis klarmachen, worin die wahre Gerechtigkeit eines Menschen besteht. Sie erheben sich nämlich über alle anderen und wissen nicht, daß diejenigen, die sie verachten, in den Augen Gottes weit über ihnen stehen.
Bemühe dich, in den Gedankengang des Herrn einzudringen, indem du den beiden Männern, von denen Er redet, zum Tempel folgst und sie dort beim Gebet beobachtest. «Der Pharisäer stellte sich hin und betete bei sich: Gott, ich danke Dir, daß ich nicht bin wie die übrigen Menschen, wie die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder wie der Zöllner da. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich erwerbe.» — Wieviel Hochmut klingt aus diesem Selbstlob! Er hält sich für tugendhafter als alle seine Mitmenschen und begründet diese Behauptung folgendermaßen: «Ich verrichte Gebete, die sie nicht verrichten, ich übe Bußwerke, die sie nicht üben, ich beobachte Zeremonien, die sie nicht beobachten. Ich bin besser als die anderen weil ich mehr tue als sie!»
So urteilt der Stolz, der nicht auf den inneren Wert einer Handlung, sondern auf den äußeren Schein sieht und dabei wähnt, Gott selbst betrachte unsere Werke von diesem niedrigen, menschlichen Standpunkt aus. Der Pharisäer ist in einer traurigen Täuschung befangen, in den Augen Gottes ist seine vorgebliche Frömmigkeit sündhafter Götzendienst. Denn während die wahre Frömmigkeit Gott die Ihm gebührende Ehre erweist, verrichtet der Hochmütige seine guten Werke nur, um sich selbst zu verherrlichen. Der Mensch ist zur Verherrlichung Gottes erschaffen, aber der Stolze lebt und arbeitet für seine eigene Ehre. So widersetzen sich die Hochmütigen der Wirksamkeit Jesu Christi und sind seine schlimmsten Gegner. Zudem ist der Hochmütige durch einen grundlegenden Irrtum verblendet: Er vergleicht sich mit Sündern anstatt mit Gott. Vor dem heiligen Gott ist auch der vollkommenste Mensch ein Sünder. Darum entrüstet sich der Heiland, wenn Er Hochmütige in seinem Heiligtum und unter seinen Zuhörern antrifft. Erforsche dich, ob der Tadel des Heilands nicht auch dich trifft!
II Gottes Wohlgefallen an der Demut
«Der Zöllner aber blieb von ferne stehen und wagte nicht einmal, seine Augen zum Himmel zu erheben, sondern schlug an seine Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt nach Hause, jener nicht. Denn wer sich erhöht, wird erniedrigt, wer sich erniedrigt, wird erhöht werden.»
Nähere dich dem betenden Zöllner und höre, wie demütig er betet! «Gott sei mir armem Sünder gnädig!» Das ist alles, was er zu sagen weiß. Beim Eintritt in den Tempel denkt er nur an die Heiligkeit dessen, den er anbeten will, und erkennt die Sünden seines vergangenen Lebens in ihrer ganzen Abscheulichkeit. Es liegt ihm fern, sich mit irgend jemand zu vergleichen, denn in seiner eigenen Meinung ist er der Geringste von allen. Am liebsten möchte er sich ganz vernichten. Durch diese Demut wird seine Seele dem himmlischen Vater überaus wohlgefällig, denn wenn der Mensch in seinen eigenen Augen klein wird, so wird er groß in den Augen Gottes.
Betrachte die ehrerbietige und demütige Haltung des Zöllners. Er wagt es nicht, die Augen zu erheben, sondern schlägt sich reuig an die Brust, bekennt seine Sünden und bittet um Verzeihung. Und er tut gut daran, so zu handeln, denn er ist in Wirklichkeit ein Sünder und bedarf der Lossprechung. Aber Gott verzeiht gern den Demütigen, Er läßt sich voll Huld zu denen herab, die sich vor Ihm erniedrigen, Er nimmt sie auf und segnet sie. Warum sieht Jesus die Demütigen so gern unter seinen Zuhörern? Warum ist Er ihnen ein so gnädiger Richter? Er weiß, daß sie seine treuesten Jünger sind, die Ihm Ehre machen werden, da sie in all ihren Werken nur die Verherrlichung Gottes suchen. Der Demütige sieht sich vor Gott und weiß, daß er immer Sünder ist. Der Hochmütige schaut nur auf die Menschen, er vergleicht sich mit anderen und tut auch seine Werke nur vor den Menschen anstatt vor Gott.
In der Demut liegt der Keim zu allen übrigen Tugenden, darum legt Jesus so großen Wert darauf. Die Demütigen kann Er zur wahren Armut im Geist und zum echten Gehorsam heranbilden. Innige Frömmigkeit, vollkommene Reinheit, Selbstlosigkeit im Dienst des Nächsten, standhafte Treue, kraftvoller Mut und grenzenlose Hingabe an Gott gehen hervor aus der Demut. Wenn sie in einer Seele Wurzel faßt, so zieht sie den Segen Gottes herab. Sobald der Demütige seine Stimme erhebt, neigt Gott sich zu ihm, um alle seine Wünsche zu gewähren.
Wie schuldbeladen und elend ich auch vor Gott hintrete, so wird Er mir verzeihen, wenn ich mich aufrichtig demütige. Lege daher mutig das Bekenntnis deiner Sünden im Sakrament der Buße ab. Ahme das Beispiel des Zöllners nach. Bitte den Heiland, seine Lehren in deinem Herzen zu befruchten und dir die Demut seiner wahren Jünger zu verleihen.