210. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg

(Mt 20)

 

I Jesus versichert uns, daß die Seligkeit für alle Menschen erreichbar ist

«Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Hausherrn, der am frühen Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg zu dingen. Er einigte sich mit den Arbeitern auf einen Taglohn von einem Denar und schickte sie in seinen Weinberg.»

Geselle dich den Zuhörern des Heilands zu und bemühe dich, seine Worte recht zu verstehen. Es handelt sich in diesem Gleichnis um dich selbst, um die Arbeit an deiner eigenen Seele und um den Erwerb der ewigen Glückseligkeit.

Betrachte den Hausvater, wie er ausgeht, um Arbeiter für seinen Weinberg zu werben. Jesus schildert unter diesem Bild den himmlischen Vater, der alle Menschen zu seiner Ehre erschaffen hat und der früher oder später an die einzelnen herantritt mit der Aufforderung, ihre Kräfte und Fähigkeiten in seinen Dienst zu stellen. Glücklich die Seelen, die frühzeitig seine Stimme hören und dem ersten Ruf ohne Zögern folgen!

Worin besteht der Lohn, den der himmlische Vater seinen Arbeitern verspricht? Er bietet ihnen seinen Himmel als Entgelt an für ihre Arbeit in seinem Dienst. Seine eigene Glückseligkeit soll einst dir gehören, wenn du hier auf Erden ganz für Ihn leben willst. Gott verpflichtet sich, uns durch einen unwiderruflichen Vertrag mit übernatürlichen Gütern zu belohnen, auf die kein Geschöpf sonst Anspruch erheben könnte.

Worin besteht die Arbeit, zu welcher der Hausvater seine Tagelöhner verwendet? Gibt es überhaupt eine Arbeit, mit der wir Gott einen Dienst leisten können? Ja, dazu gehört alles, was wir nach dem Willen Gottes tun: die Erfüllung unserer täglichen Pflichten, der Kampf gegen unsere Eigenliebe und unsere Leidenschaften, die Betätigung der Geduld, der Sanftmut und der Nächstenliebe. Alles, was den Nächsten erbaut, sein Seelenheil fördert und ihn Gott lieben lehrt, verherrlicht Gott und ist Ihm wohlgefällig.

Gott sucht unaufhörlich Seelen, die bereit sind, Ihm zu dienen. Wie der Hausvater in der Parabel, so geht Er um die dritte,1 um die sechste und um die neunte Stunde aus, um neue Arbeiter zu suchen. Noch um die elfte Stunde bietet er den Müßiggängern Arbeit an. Es ist seine ganze Sorge, all seine Geschöpfe zur ewigen Seligkeit zu führen, und zu jeder Zeit ist Er bereit, sie in seinen Dienst aufzunehmen. Frohlocke ob solcher Güte und bemühe dich, ihr treu zu entsprechen!

1 Die Juden und Römer teilten die 12 Stunden des Tages in vier Teile ein, von denen jeder drei Stunden umfaßte. Der erste Abschnitt eines Tages begann um 6 Uhr morgens, der zweite um 9 Uhr, der dritte um Mittag und der vierte um 3 Uhr. Die elfte Stunde, von der hier die Rede ist, ist nach unserer Zeitrechnung 5 Uhr abends.

 

II Jesus sagt uns, wie Gott beim Jüngsten Gericht verfahren wird

«Am Abend sagte der Herr des Weinberges zu seinem Verwalter: Rufe die Arbeiter und zahle ihnen den Lohn aus, von den letzten bis zu den ersten. Da kamen die von der elften Stunde, und jeder erhielt einen Denar.»

Der Heiland versichert uns, daß Gott jene, die für seine Ehre arbeiten, nicht vergißt. Er beobachtet sie, Er nimmt regen Anteil an ihren Mühen und Sorgen und zählt die Stunden, die sie seinem Dienst weihen. Am Abend ihres Lebens wird Er sich ihnen offenbaren, und sie werden staunend das Geheimnis seiner Güte erkennen. Wohl dir, wenn du geduldig diese Stunde erwartet hast, ohne jemals dem Zweifel Raum zu geben!

«Ruft die Arbeiter», wird Gott dann zu seinen Engeln sprechen, und im selben Augenblick wird alle Arbeit ruhen. Die Zeit, Verdienste zu sammeln, ist vorbei und jedem wird nach dem gegenwärtigen Verdienst vergolten. Stelle dir vor, du würdest in dieser Stunde vor den göttlichen Hausvater gerufen. Wärest du würdig, unter die ersten eingereiht zu werden?

Warum läßt Gott an erster Stelle jene vortreten, die zuletzt in die Arbeit gekommen sind? Jedenfalls haben sie mit mehr Eifer gearbeitet als die übrigen. Man kann sich also im Dienst Gottes in kurzer Zeit einen hohen Grad der Seligkeit erwerben.

Die Arbeiter der ersten Stunde murren: «Diese letzten haben nur eine einzige Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgestellt, die wir die Last und Hitze des Tages getragen haben.» Aber vergebens berufen sie sich auf die längere Dauer ihrer Arbeit. Sie haben mehr Gnade erhalten als andere, aber sie haben nicht so treu mitgewirkt. Sie haben zwar die Last und Hitze des Tages ertragen, aber sie suchten es sich möglichst bequem zu machen, sie haben viel Zeit verloren und sich viele Unvollkommenheiten zuschulden kommen lassen. Sie haben sich keineswegs im Dienst Gottes ausgezeichnet, sondern seine Interessen vernachlässigt. Der Tadel ihres Herrn trifft sie nicht unverdient.

 

III Jesus beweist uns, daß das Urteil Gottes gerecht ist

«Freund, erwiderte er einem von ihnen, ich tue dir nicht unrecht. Bist du nicht um einen Denar mit mir eins geworden? Nimm, was dein ist, und geh.»

Der Hausvater antwortet den Unzufriedenen, ohne sich in einen Wortwechsel einzulassen, die Beschlüsse der göttlichen Weisheit sind über jede Erörterung erhaben. Gott behauptet sein Hoheitsrecht: «Ich will es so. Es steht mir frei, meine Güter auszuteilen, wie es mir gefällt.» In der Tat, wenn Gott unsere Werke belohnt, so krönt Er damit nur seine Gaben. Er ist nicht nur unser Vater, sondern auch unser höchster Herr, dessen Anordnungen wir uns in Demut zu fügen haben. Zudem ist es eine Ehre, für Gott, den besten Herrn, und sein Reich arbeiten zu dürfen.

Aber Gott nimmt Rücksicht auf unsere Schwäche und beweist uns die Gerechtigkeit seiner Ratschlüsse. «Ich erfülle den Vertrag, den ich geschlossen habe», sagt Er zu den Unzufriedenen. «Hier ist der Lohn, um den wir übereingekommen sind, ihr habt also keinen Grund, euch zu beklagen. Und ist dieser Lohn, den ich euch gebe, nicht unendlich mehr wert als eure Arbeit?»

Mit väterlicher Milde fügt Gott hinzu: «Oder ist es mir nicht erlaubt zu tun, was ich will? Ist etwa dein Auge darum böse, weil ich gut bin? — Warum nimmst du Anstoß an meiner Güte, die ihre Freude darin findet, meine Kinder zu erheben und die Unterschiede unter ihnen möglichst auszugleichen? Keiner leidet Schaden dadurch, daß ich großmütig bin, denn, was ich dem einen gebe, entziehe ich dem anderen nicht.»

Ziehe Nutzen aus der Lehre, die Gott dir hier erteilt! Er ist gut, gerecht und treu. Unterwirf dich Ihm als deinem höchsten Herrn, liebe Ihn als deinen besten Vater und eifere für seine Ehre. Er gibt dir die Zeit und bietet dir seine Gnade an. Darum begib dich an die Arbeit und lasse dich von niemand an Großmut in seinem Dienst übertreffen!