221. Vom Ehrenplatz im Reich Christi
(Mt 20, Mk 10)
I Die Mutter des Jakobus und Johannes nähert sich Jesus mit einer Bitte
Da kam die Mutter der Söhne des Zebedäus mit ihren Söhnen zu Ihm1 und fiel vor Ihm nieder, um Ihm eine Bitte vorzutragen. Er fragte sie: «Was willst du?» Sie antwortete Ihm: «laß meine beiden Söhne in deinem Reich den einen zu deiner Rechten und den andern zu deiner linken sitzen.»
Tritt mit der frommen Frau und ihren beiden Söhnen vor den Heiland hin. Glücklich die Mutter, welche die Glorie des Himmels dem irdischen Ruhm vorzieht und ihren mütterlichen Ehrgeiz einzig auf dieses Ziel richtet. Jesus fragt sie: «Was wünschst du, daß ich für deine Kinder tun soll?» Er bietet ihr seine Hilfe an, wie Er stets bereit ist, uns bei einem schwierigen Werk zu unterstützen. Vernimm die Antwort der Mutter: «Herr, berufe meine Söhne an deine Seite, wenn Du von deiner Herrlichkeit Besitz genommen hast. Sie gehören dir, ich habe sie dir gegeben, ich habe ihnen erlaubt, dir nachzufolgen, ich gebe sie dir heute unwiderruflich. Weise ihnen an deinem Thron einen Ehrenplatz an, damit sie glücklicher seien als alle anderen bevorzugten Seelen. Gib ihnen mehr als Du allen übrigen gegeben hast!»
Mit Freude lauscht der Heiland dem Gebet einer Mutter. Er unterbricht sie nicht, denn ihre Wünsche gefallen Ihm. Trotzdem kann Er sie nicht erhören, denn die Gnade, die sie erbittet, ist schon anderen auserlesenen Seelen bestimmt. Aber ihr Mutterherz soll dennoch zufriedengestellt werden. Selbst die besten Wünsche müssen sich dem Willen des himmlischen Vaters unterordnen, erst dann haben sie wahre und dauernde Freuden im Gefolge.
1 Diese Begegnung fand wahrscheinlich in der Nähe von Jericho statt, in dem Teil des Jordantales, der durch seine Palmwälder und Rosengärten berühmt war.
II Jesus stellt den Eifer der beiden Brüder auf die Probe
Jesus entgegnete: «Ihr wißt nicht, um was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde?» Sie antworteten Ihm: «Wir können es.»
Der Heiland antwortet auf die Bitte der Mutter, indem Er zu ihren Söhnen sagt: «Ihr wißt nicht, um was ihr bittet.» Sie stimmen mit den Wünschen ihrer Mutter überein, haben sie vielleicht gar zu der Bitte veranlaßt. In dieser Familie wollen alle dem Heiland angehören und alle streben nach den Gütern, die Er vom Himmel auf die Erde gebracht hat.
Aber in ihre Bitte mischt sich noch menschlicher Ehrgeiz, deshalb stellt der göttliche Meister sie sanft zur Rede: «Ihr wißt nicht, um was ihr bittet. Ihr denkt an Ruhe, während euch noch schwere Kämpfe bevorstehen, und ihr verlangt gekrönt zu werden, bevor ihr noch gekämpft habt. Ihr träumt von Auszeichnungen und bedenkt nicht, daß ihr erst den Weg der Demütigungen gehen müßt.» So weist Jesus sie zurecht, ohne sie zu entmutigen.
Die Ehre eines Menschen besteht nicht darin, eine bevorzugte Stelle einzunehmen oder ein wichtiges Amt zu bekleiden, sondern vielmehr darin, dem himmlischen Vater Beweise von starker und großmütiger Liebe zu geben. Diese Wahrheit will der Herr ihnen ins Gedächtnis rufen, als Er sie fragt: «Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde? Ihr verlangt, die ersten zu sein unter den Fürsten des himmlischen Hofes, ich biete euch aber noch Besseres an: wollt ihr Märtyrer werden? Ich gehe zum Kalvarienberg; wollt ihr mit mir gehen? Ich habe Anrecht auf alle Ehren, aber ich erwähle die Schmach. Wollt ihr meinem Beispiel folgen? Könnt ihr es?» «Wir können es und wollen es», antworten die beiden Jünger. Was denkt und empfindet die fromme Mutter bei diesen Worten? Sie ist tief ergriffen und vereinigt sich aus ganzem Herzen mit dem Opfer ihrer Söhne. Der Gedanke, daß der Heiland ihre Kinder zu seiner Nachfolge erwählt hat, erfüllt sie mit dankbarer Freude.
Jesus sprach zu ihnen: «Meinen Kelch werdet ihr zwar trinken, den Platz aber zu meiner Rechten oder Linken habe nicht ich zu verleihen; der gebührt denen, für die er von meinem Vater bereitet ist.» — Ihr wollt mir dienen, und ihr werdet es tun, und ich werde euch zu dem machen, wozu ich euch von vornherein bestimmt habe. Überlaßt die Sorge für alles übrige meinem himmlischen Vater.»
Freue dich mit den Aposteln, an die der Heiland diese Worte richtet! Was würdest du antworten, wenn auch an dich die Frage erginge: «Kannst du den Kelch trinken, den ich trinken werde? Bist du fähig, für die Ehre Jesu Christi etwas zu leiden?» Wer danach strebt, dereinst an den ewigen Freuden des Himmels teilzunehmen, der muß hienieden den Mut haben, den Leidenskelch zu trinken. Erbitte dir vom göttlichen Meister diesen Mut und vertraue fest auf seinen mächtigen Beistand.
III Jesus tadelt bei seinen Aposteln das Streben nach Vorrang
Als die übrigen zehn das hörten, wurden sie über die beiden Brüder unwillig. Jesus rief sie darum zu sich und sprach: «Ihr wißt, die Herrscher gebieten über ihre Völker und die Großen lassen sie ihre Macht fühlen. Unter euch soll es nicht so sein. Wer vielmehr unter euch groß sein will, der sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht. So ist der Menschensohn auch nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern vielmehr um zu dienen, ja sein Leben hinzugeben als Lösepreis für viele.»
Beherzige die Worte des Heilands, der die Gelegenheit benützt, seine Jünger zur Demut zu ermahnen. Er wiederholt ihnen immer wieder, daß der wahre Ehrenplatz eines Apostels zu den Füßen seiner Mitmenschen ist, daß sein Ruhm darin besteht, den Armen und Hilfsbedürftigen, welche die göttliche Vorsehung ihm zuführt, zu dienen.
In der Kirche Jesu Christi ist die höchste Stelle die Stelle eines Dieners. Wer über seine Brüder erhoben wird, ist auch verpflichtet, ihnen zu dienen. Nach der christlichen Lehre besteht die Ausübung der rechtmäßigen Gewalt nicht darin, andere seine Macht fühlen zu lassen, sondern vielmehr darin, ihnen in Demut und Geduld Beweise der Liebe und Aufopferung zu geben.
Erforsche dich und sieh, wie tief du dich noch erniedrigen mußt, um den Forderungen des göttlichen Meisters gerecht zu werden.