223. Das Gleichnis von den zehn Pfunden

(Lk 19)

 

I Die Hoheitsrechte Jesu

Weil Er nahe bei Jerusalem war und weil die Leute meinten, jetzt müsse alsbald das Reich Gottes erscheinen, trug Er seinen Zuhörern noch ein Gleichnis vor.1

Geselle dich den Jüngern zu, die den Herrn umgeben und Ihn nach Jerusalem begleiten. Viele sind immer noch der Meinung, daß Er dort ein neues irdisches Königreich gründen werde. Sie erwarten, an seiner Seite irdischen Ruhm und Ehren zu finden, wie die Welt sie gibt. Als Lohn für ihre Treue erhoffen sie Ruhe, Wohlleben, Ansehen bei den Menschen und Befreiung von jeder lästigen Fessel. Zwar hat Jesus ihnen noch soeben gezeigt, daß Ihm einzig daran liegt, Seelen zu retten, Sünden zu verzeihen, jeden Schaden wiedergutzumachen und Gott Genugtuung zu leisten. Aber die Jünger haben davon nichts verstanden; Er muß ihre Anschauungen berichtigen und ihre Luftschlösser niederreißen.

Er sprach also: «Ein Mann von edler Abkunft zog in ein fernes Land, um sich die Königswürde zu holen und dann heimzukehren. Er rief darum seine zehn Knechte zu sich, übergab ihnen zehn Pfund und sprach zu ihnen: Handelt damit, bis ich wiederkomme.» Durch ein Gleichnis wird der Heiland seinen Zuhörern erklären, welcher Art das Reich ist, das Er auf Erden gründen will, welche Rechte Er selbst in diesem Reich besitzt und welche Pflichten für einen jeden Menschen daraus entspringen.

Jesus legt sich selbst den Königstitel bei, auf den Er ein Anrecht hat sowohl durch seine Geburt als durch sein Wirken und Leiden für die Menschen. Er ist König, und als solcher will Er herrschen. Seine Untertanen sollen sich seinen Gesetzen unterwerfen und treu seine Gebote halten. «Arbeitet mit den Talenten, die ich euch anvertraut habe», befiehlt Er ihnen, «denn ich werde kommen und Rechenschaft von euch fordern.»

Jesus bezeichnet damit die Lebensaufgabe des Menschen. Er sagt: «Ihr seid die Verwalter, die für die Güter des himmlischen Vaters verantwortlich sind.» Jesus ist unser König, der die Verwaltung leitet und seine Untertanen lehrt, ihre Talente recht zu verwerten. Erforsche dich, welche Gaben dir Gott um seines Sohnes willen verliehen hat und welchen Gebrauch du von diesen Gütern machen mußt.

1 Dies geschah wahrscheinlich, nachdem Er das Haus des Zachäus verlassen hatte, um über die Höhe von Adummim und Bethanien seine Reise nach Jerusalem fortzusetzen.

 

II Der Großmut Jesu

«Als er nun doch mit der Königswürde heimkehrte, ließ er die Knechte, denen er das Geld gegeben hatte, zu sich rufen, um zu erfahren, wieviel ein jeder erworben habe. Der erste kam und sagte: Herr, dein Pfund hat zehn Pfund hinzu gewonnen.»

Die Zeit der Arbeit ist verstrichen, und der Herr über Leben und Tod kommt, um uns nach unseren Werken zu richten. Das Schicksal derer, die vor seinen Richterstuhl berufen werden, wird für alle Ewigkeit entschieden. «Was habt ihr für mich getan?» spricht Er zu ihnen. «Ihr wißt, daß ich kein Opfer gescheut habe, um euch die Pforten des Paradieses aufzuschließen, habt nun auch ihr eure ganze Kraft eingesetzt, der ewigen Seligkeit würdig zu werden?»

Vernimm die Antwort der Diener, die einer nach dem andern vor ihren Herrn hintreten. — «Ja!» rufen sie aus, «ja, Meister, wir haben für Dich gelebt; wir sind des Wortes eingedenk geblieben, das Du uns beim Abschied sagtest. Wir haben gearbeitet, gekämpft und gelitten und sind nie vom Weg deiner Gebote abgewichen. Es war unser beständiges Streben, die Tugenden zu üben, die Du uns durch Dein Beispiel lehrtest, und wir haben den Freuden und Verführungen der Welt tapfer widerstanden. Unsere Hoffnung ruhte in dir, denn Du hattest uns versichert: Ich werde wiederkommen. Und so haben wir Dich erwartet. Wohl schien die Zeit uns lang, aber wir harrten mutig aus. Sieh hier, was wir während deiner Abwesenheit erworben haben.»

So berichten die getreuen Diener von ihren Siegen. Sieh, wie sie dem göttlichen Meister die Huldigung eines ganzen Lebens der Frömmigkeit, der Gerechtigkeit und der Treue darbringen, und wie Er ihnen den verdienten Lohn erteilt. «Wohlan ihr guten und getreuen Knechte», wird Er zu ihnen sagen, «ihr habt auf Erden eure Pflicht getan; nun geht ein in die ewige Seligkeit. Ihr habt mir treu gedient und sollt jetzt mit mir herrschen.»

 

III Die Strenge Jesu

«Der dritte kam und sagte: Herr, hier ist dein Pfund. Ich habe es im Schweißtuch aufbewahrt. Ich fürchtete mich nämlich vor dir, weil du ein strenger Mann bist. Du nimmst, was du nicht angelegt, und erntest, was du nicht gesät hast.»

Beobachte den ungetreuen Knecht vor dem Thron des göttlichen Richters. Wie sucht er sich zu verteidigen? Er sagt: «Ich gebe dir wieder, was ich von dir empfangen habe.» Aber der Richter antwortet: «Das genügt nicht.» Wenn Gott uns Gnaden und Talente gibt, dann verlangt Er von uns, daß wir sie in seinem Dienst gebrauchen, und es hieße Gottes Ehre schmälern, wenn wir seine Talente vergraben wollten. Die Unterlassung des Guten ist in seinen Augen schon strafbar. Der unglückliche Knecht hat seinen Herrn nicht verstanden. Er faßt sein Verhältnis zu Gott nicht richtig auf, schätzt seine Gnaden nicht, wie es sich gebührt, und weiß nicht, den rechten Gebrauch davon zu machen. «Ich weiß, daß Du ein strenger Mann bist», sagt er, «und deshalb habe ich es vorgezogen, anderen Herren zu dienen.»

Das Urteil der göttlichen Gerechtigkeit lautet: «Nehmt ihm das Pfund und gebt es dem, welcher die zehn Pfunde hat!» So geraten alle, welche die Talente, die Gott ihnen anvertraut hat, nicht in der rechten Weise verwerten, in die äußerste Not. Erforsche dich über dein verflossenes Leben, und sieh zu, wieviel Gnaden du unbenutzt gelassen hast! Erbitte dir vom Heiland Verständnis für die Anforderungen des Lebens, Gehorsam gegen sein Gesetz, großmütige Treue in seinem Dienst und einen starken, unbesiegbaren Mut. Bitte Ihn besonders, daß Er sich dir offenbare; denn viele Menschen gehen verloren, weil sie den Heiland gar nicht oder nicht genügend kennen.