227. Jesus beklagt den Widerstand Jerusalems
(Joh 12, Lk 19)
I Jesus tadelt die Eifersucht der Pharisäer
Die Pharisäer aber sagten zueinander: «Da seht ihr, daß ihr nichts ausrichtet. Alle Welt läuft Ihm nach!» Da sagten einige Pharisäer aus der Volksmenge heraus zu Ihm: «Meister, verbiete das deinen Jüngern.» Er entgegnete ihnen: «Ich sage euch, wenn diese schweigen, werden die Steine rufen!»
Sieh, wie einige Pharisäer sich mit einem Vorwurf an den Heiland wenden. Sie haben sich den wahren Jüngern Christi beigesellt und gleichen dem Unkraut unter dem Weizen. Damit wir uns nicht in falscher Sicherheit wiegen, zeigt der Herr uns durch diese Begebenheit, daß hier auf Erden sein Triumph niemals vollkommen sein wird. «Verweise es deinen Jüngern», rufen die Pharisäer in ihrer Unvernunft und Gottlosigkeit aus. «Laß es nicht zu, daß deine Jünger dein Lob verkünden, daß sie dich als den verheißenen Messias, den Sohn Davids und die Erwartung aller Völker preisen. Weise sie zurecht und zeige, daß eine solche Sprache dir mißfällt!»
So spricht verwundeter Stolz. Jesus antwortet den Pharisäern, daß die Wahrheit allen Menschen offenbar werden muß. Die Demut besteht nicht darin, die Wahrheit zu verschweigen, sondern sie so kundzutun, daß alle Ehre Gott allein erwiesen wird. «Wenn diese schweigen, werden die Steine rufen!» Jesus will damit sagen: «Wenn die Menschen sich weigern, meine Gottheit anzuerkennen, dann wird die unvernünftige Natur von mir Zeugnis ablegen. Ihr wollt, daß ich meinen Jüngern Schweigen gebiete, aber ich werde sie im Gegenteil reden heißen und durch sie reden. Sie werden das verkünden, was ich ihnen offenbare, und ich werde ihnen Beredsamkeit verleihen zur Verkündigung der göttlichen Macht und Glorie. Ich selbst habe ihnen jenen heiligen Eifer eingeflößt, an dem ihr Anstoß nehmt. Ich ziehe sie an, und sie folgen, ich wirke verborgen in ihren Herzen, die sich mir ganz hingeben.»
In dieser Sprache zeigt sich die unumschränkte Autorität dessen, den der himmlische Vater zu deinem Lehrer und Führer bestimmt hat. Eile in seine Nähe und erkläre dich bereit, dem Sohn Gottes durch deine Liebe und Treue Genugtuung zu leisten.
II Jesus weint beim Anblick Jerusalems und sagt das traurige Schicksal dieser Stadt voraus
Als Er näherkam und die Stadt erblickte, weinte Er über sie und sprach:1 «Möchtest du es doch erkennen an diesem deinem Tage, was dir zum Heile dient! Nun aber ist es vor deinen Augen verborgen.»
Der Heiland trauert beim Anblick Jerusalems. Vernimm seine Klage und tue dein möglichstes, Ihn zu trösten! Hinter jenen Mauern, die sich vom Horizont abheben, erkennt sein durchdringendes Auge verblendete, undankbare Menschen, die der erkannten Wahrheit hartnäckig widerstehen, und schmerzerfüllt ruft Er aus: «Wenn doch auch du es erkannt hättest, was jenen klar geworden, die mir hier zujubeln. Hättest doch auch du gläubig meiner Lehre gelauscht und sie mit reinem, demütigen Herzen aufgenommen!»
Aber Jerusalem versteht Ihn nicht, es hat vom göttlichen Meister nicht lernen wollen und deshalb wird es verworfen. Sieh, welch trauriges Schicksal jene ereilt, welche die Autorität Christi nicht anerkennen wollen. Die Stunde kommt, in der die Langmut Gottes erschöpft ist und die hartnäckig Widerstrebenden der Gerechtigkeit überliefert werden. Die unendliche Weisheit läßt es zu, daß alle, die ihre Herzen ganz bewußt der erkannten Wahrheit verschließen, am Ende der Verblendung anheim fallen.
«Nun aber ist es vor deinen Augen verborgen.» — Nicht als ob das himmlische Licht sich den Augen der Menschen entzöge, aber die Augen der Menschen entziehen sich dem Licht Gottes, und die Folge davon ist, daß sie den herannahenden Feind nicht rechtzeitig erkennen werden. «Denn es werden Tage über dich kommen, da deine Feinde dich mit einem Wall umgeben, dich ringsum einschließen und dich von allen Seiten einengen werden. Sie werden dich und deine Kinder, die in dir sind, zu Boden schmettern und werden in dir keinen Stein auf dem andern lassen, deshalb, weil du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast.» — Eile der Zeit voraus, und während Jesus die unglückliche Stadt beweint, denke an das Schicksal, das sie wenige Jahre später ereilt. So wird es jedem ergehen, der wie sie der Gnade widerstrebt; darum sorge beizeiten dafür, daß nicht ein ähnliches Schicksal dich erreiche. Tritt zum Heiland hin und bitte Ihn, sich dir vollkommen zu offenbaren, damit du dich nicht länger weigerst, Ihm vollkommen anzugehören. Bitte Ihn, dir durch seine Tränen vom himmlischen Vater Gnade und Barmherzigkeit zu erlangen und niemals zuzulassen, daß du verlorengehst!
1 Dieser Ort befindet sich der Überlieferung gemäß auf der halben Höhe des Ölbergs, dort ,wo der Weg von Bethanien nach Jerusalem sich angesichts der Stadt zu senken beginnt. An demselben Ort lagerte 40 Jahre später die zehnte Legion der Römer unter Titus, der die Stadt mit einer Wallung umgeben hatte und entschlossen war, sie zu vernichten. An dieser Stelle befindet sich heute eine kleine Kapelle mit dem Titel «Dominus flevit — Der Herr hat geweint.»