51. Drei Berufungen

(Mt 8, Lk 9)

 

I Ein Schriftgelehrter will Jesus folgen

Während sie des Weges weiterzogen, sagte einer zu Ihm: «Ich will Dir folgen, wohin Du auch gehst.» Jesus erwiderte ihm: «Die Füchse haben ihre Höhlen, die Vögel des Himmels ihre Nester. Der Menschensohn aber hat keine Stätte, wohin er sein Haupt legen könnte.»

Begleite den Heiland, Er will dir heute wichtige Lehren erteilen. Ein Schriftgelehrter bietet sich Ihm als Jünger an mit den Worten: «Meister, ich will Dir nachfolgen, wohin immer Du gehst.» Man kann den Willen, dem Heiland anzugehören, nicht großmütiger ausdrücken. Aber welchen Wert hat dies Wort auf den Lippen des Schriftgelehrten? Es ist nichts anderes als ein Ausruf der Bewunderung, wie er auch deinem Herzen so manches Mal entstiegen, aber wirkungslos geblieben ist. Der Anblick des Guten begeistert leicht, darum hält man sich für entschlossen, es auszuüben, aber man täuscht sich.

Was antwortet der Heiland? Er prüft die Aufrichtigkeit unserer Entschlüsse. «Ich bin arm», sagt Er, «in meiner Nachfolge harrt deiner ein Leben der Entsagung.» Jesus, dem die ganze Welt mit ihren Reichtümern gehört, benützt nur das zu seinem Gebrauch, was Er sich bei seinen Geschöpfen vom Überfluß, den Er selbst ihnen gegeben hat, erbettelt. Tut Er das nicht, um dich die Verachtung der irdischen Güter zu lehren? Nur wenn du diese Lehre annimmst, wirst du Ihm vollkommen treu sein. Sei versichert, in der Nachfolge eines solchen Meisters darf man nicht auf die Annehmlichkeiten des Lebens bedacht sein. Bringe sie Ihm deshalb zum Opfer. Verlange, seine Armut zu teilen und dir wenigstens alles Überflüssige zu versagen. Das ist das erste, was Jesus von seinen Jüngern fordert.

 

II Jesus lädt einen seiner Jünger zu seiner vollkommenen Nachfolge ein

Zu einem andern aber sprach Er: «Folge mir nach!» Und dieser sprach: «Herr! Erlaube mir, zuvor hinzugehen und meinen Vater zu begraben.» Jesus aber sprach zu ihm: «Laß die Toten ihre Toten begraben, du aber gehe hin und verkünde das Reich Gottes!»

Höre die Einladung, die Jesus unerwartet an einen der Seinigen richtet. Er überrascht ihn, Er kommt ihm zuvor. «Folge mir!» sagt Er kurz. Aber dieser Jünger folgt Ihm doch schon. Wohin will Jesus ihn denn führen? Was verlangt Er von Ihm? Aus dem Jünger soll ein Apostel werden, und die freie Wahl für dieses Amt steht einzig dem Herrn zu.

Diese Wahl ist unendlich ehrenvoll, aber das Amt ist reich an Opfern. Der Jünger fühlt es und kann sich nicht enthalten, einen Einwand zu machen. Hier vernimmst du die Sprache deines eigenen schwachen Herzens: «Meister, laß mich zuerst für die Meinigen sorgen. Wohl möchte ich Dir ganz angehören, dem Gebet mich hingeben, Dir dienen und an deinem Werk arbeiten. Aber die Sorge und Liebe für meine Familie nehmen mich noch in Anspruch. Erlaube mir, diesem Zug meines Herzens zu folgen. Wenn ich dieser Pflicht der Liebe genügt habe, will ich Dir vollkommen angehören.»

Manche Seele, die Jesus durch seine Erwählung gerufen hat, muß sich eine solche Schwäche vorwerfen, eine Schwäche, die Jesus versteht und die Er heilen will. Deshalb besteht Er barmherzig auf seiner Forderung. «Laß die Toten ihre Toten begraben», entgegnete Er. «Laß jene, die mich nicht kennen, sich mit sich selbst beschäftigen und sich gegenseitig die Annehmlichkeiten des Lebens verschaffen.»

Verstehe den Sinn dieser ernsten Worte Jesu nicht falsch! Er betont, daß die Pflichten des Dienstes Gottes und des Apostolates allen menschlichen Neigungen vorzuziehen sind. Durch dieses Wort will der Heiland uns nicht von einer Pflicht der Liebe gegen die Angehörigen entbinden, noch die Beweise einer geordneten Zuneigung zu ihnen verbieten. Betrachte diese Lehre und nimm es ernst mit der Verpflichtung, dem Heiland alles zu opfern, was Er begehrt, und Ihm ohne Zögern dahin zu folgen, wohin Er will. Wer nur den natürlichen Neigungen folgt, statt auf die göttlichen Einsprechungen zu hören, setzt sich der Gefahr aus, diese nicht mehr zu verstehen. Wenn Jesus ruft, so zaudere nicht, dem Ruf zu entsprechen.

 

III Jesus warnt seine Jünger vor Unbeständigkeit

Und ein anderer sprach: «Herr! Ich will Dir folgen, laß mich aber vorher von meiner Familie Abschied nehmen.» Jesus aber sprach zu ihm: «Keiner, der seine Hand an den Pflug legt und wieder zurückschaut, ist brauchbar für das Reich Gottes.»

Jesus lehrt noch eine dritte ernste Wahrheit. «Du hast mich gerufen», sagt dieser Jünger zum Herrn. «Ich will diesem Ruf folgen, jedoch nicht sogleich. Die Vorsätze, die deine Worte in mir geweckt haben und die ich jetzt in deiner Gegenwart fasse, will ich später ausführen. Vorerst erlaube mir, zu meinen Geschäften zurückzukehren.» Er will erst noch einmal zu dem zurückkehren, was er zu verlassen beabsichtigt. Er redet sich ein, daß er dann sein Opfer besser vollbringen könne. In Wirklichkeit treibt ihn der Wunsch, die Güter, die sein Herz bisher gefangen hielten, noch weiter zu genießen. Dieser Wunsch ist eine Täuschung der Eigenliebe, und der Jünger wird zu schwach sein, sich diesem Fallstrick zu entziehen.

Bewundere die Kraft, mit der der Meister diesem schwachen Jünger zu Hilfe kommt. Er stärkt ihn durch die Warnung vor einem schimpflichen Abfall. Jesus stößt ihn nicht zurück, sondern klärt ihn auf und bewahrt ihn vor der Untreue. Wie die Sehnsucht nach dem Besitz Jesu eine mächtige Hilfe ist, seinem Ruf zu entsprechen, so ist auch die Furcht, Ihn zu verlieren und keinen Fortschritt zu machen, ein notwendiger Ansporn. Bediene dich sowohl der einen wie der andern und bitte um Hochherzigkeit und Willensstärke. Es ist Zeit, deine vielfache Untreue wieder gutzumachen und deine Schritte auf dem Weg der Vollkommenheit zu beschleunigen. Kämpfe mit beharrlicher Anstrengung und vollende das angefangene Opfer.