72. Von der vollkommenen Beobachtung des göttlichen Gesetzes

(Mt 5)

 

I Jesus empfiehlt das Apostolat des guten Beispiels

«Ihr seid das Salz der Erde . Ihr seid das licht der Welt .So leuchte euer Licht vor den Menschen, auf daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater preisen, der im Himmel ist.»

Höre mit gläubiger Aufmerksamkeit auf die Worte des göttlichen Meisters. Offne deine Seele dem Einfluß des Heiligen Geistes. Bitte diesen Geist der Weisheit und des Verstandes, dich die volle Wahrheit des göttlichen Wortes erkennen und verkosten zu lassen.

«Ihr seid das Salz der Erde», spricht Jesus. Er wendet sich an die Apostel und an Gläubige, welche die Nachfolge Christi ernst nehmen. Wir sollen durch unser Beispiel und unsere Gespräche in andern den Sinn für wahre Frömmigkeit wecken, ihren Eifer beleben und das Verlangen nach dem Guten in ihnen wachhalten. Wie das Salz bei der Gewinnung aus dem Wasser geschieden wird, so sollen auch die Gläubigen sich durch ihr christliches Leben von den Weltmenschen unterscheiden. Deine Tugendkraft ist jedoch sehr gefährdet. Wie das Salz seine Kraft verliert, wenn es wieder ins Wasser zurückkehrt, so wirst auch du die übernatürliche Kraft schnell verlieren, wenn du deinen Neigungen zum Weltlichen nachgibst. Bedenke, wie der Heiland warnt, daß das schale Salz zu nichts mehr nütze ist, sondern von den Menschen zertreten wird. Gib acht, daß du die Glaubenskraft nicht verlierst durch Untreue und Nachlässigkeit.

«Ihr seid das Licht der Welt.» Unsere Werke sollen den Nächsten belehren und erbauen. Wir sind unseren Mitmenschen gutes Beispiel schuldig. Jesus will, daß das Leben seiner Jünger die Verkörperung seiner Lehre sei. «Seid Apostel des guten Beispiels», sagt Er zu den Seinigen, «sonst seid ihr nur dem Namen nach meine Jünger. Euer bloßer Anblick soll genügen, um die Menschen zu Gott zu führen. Das Licht eures Beispiels soll die Gewissen erhellen, jedes Vorurteil verscheuchen und der Sache des Evangeliums zum Siege verhelfen. Das ist eure Berufung!»

So spricht Jesus. Wie steht es mit dir? Wie förderst du die Ehre Gottes? Wieviel Gutes tust du deinen Mitmenschen? Welches Beispiel gibst du deiner Umgebung? Reicht dein Anblick hin, um zur Tugend anzuspornen? Wieviel Seelen hast du schon für Gott gewonnen?

 

II Jesus ermutigt zur Treue gegen das Gesetz Gottes

«Glaubt nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um sie aufzuheben, sondern um sie zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Solange Himmel und Erde bestehen, wird kein Jota oder Häkchen vom Gesetze vergehen, bis alles erfüllt ist!»

Bete in Jesus den Vollender des Gesetzes an. Soeben hat Er die Pflicht seiner Jünger betont, sich durch ein mustergültiges Leben in den Augen aller auszuzeichnen. Aber nach welcher Regel sollen sie sich richten? Jesus sagt es uns: «Nach dem Gesetze Gottes.» Und Er fügt bei: «Ich bin gekommen, das Gesetz zu erfüllen.» Er ist in die Welt gekommen, um das Beispiel vollkommener Treue gegen das Gesetz zu geben. Bis zu welchem Grade will Er sich dem Gesetze unterwerfen? Bis zum Jota, d. h. bis zu den geringsten Einzelheiten, denn auch in ihnen offenbart sich die Oberhoheit Gottes. Die vollkommene Treue gegen das Gesetz Gottes ist der wesentliche Charakterzug eines Jüngers Christi. Nichts ist klein, wenn es mit dem Stempel des lautlichen Willens gezeichnet ist.

Worin besteht demnach die Freiheit der Kinder Gottes? Sie besteht darin, daß sie dem himmlischen Vater freiwillig die Beweise vollkommener Treue geben. Sie tun aus freier Wahl, was andere aus Zwang vollbringen. So kennzeichnet sich ihr kindliches Verhältnis zu Gott.

Verwirf mit Entschiedenheit jene falsche Ansicht, die unter Freiheit Unabhängigkeit von jedem Gesetz versteht. Wer ohne das Joch des Gesetzes leben will, erniedrigt sich /.um Sklaven der Sünde. Nur wer sich Gott aus ganzer Seele freiwillig unterwirft, gelangt zur wahren Freiheit.

 

III Jesus belehrt das Volk über die Unzulänglichkeit der rein äußerlichen Gesetzestreue

«Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht vollkommener ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen.»

Jesus wiederholt die Lehre, daß seine Jünger mehr und Besseres tun müssen als die Schriftgelehrten und Pharisäer. Was tun diese? Sie setzen ihre ganze Frömmigkeit in die Beobachtung äußerer Formen. Sie erfüllen alle Vorschriften, ohne in deren Geist einzudringen. Gott gefällt vor allem die Wahrheit; die Lüge verabscheut Er über alles. Und jeder Dienst Gottes, der nur in Äußerlichkeiten besteht, ist nichts anderes als eine Lüge Gott gegenüber. Ist es nicht Heuchelei und Lüge, Gott äußerlich zu dienen, während man innerlich seinen Götzen huldigt und seiner Selbstverherrlichung frönt? Man gibt sich äußerlich den Schein der Gerechtigkeit, der Liebe, der Demut und Sanftmut; im Innern aber ist man ungerecht, ehrsüchtig, selbstsüchtig, rachsüchtig und untreu gegen Gott. Unser göttlicher Meister bezeichnet eine solche Handlungsweise als verabscheuungswürdig. Du kannst nur dann sein Jünger sein, wenn du aufrichtig bist und wenn die Verehrung, die du Gott äußerlich bezeigst, von Herzen kommt, denn darauf sieht der Herr vor allem. Er will den ganzen Menschen, und der Mensch gibt sich dem ganz, dem er sein Herz schenkt. Täusche dich also nicht länger; zögere nicht, dich Gott von ganzem Herzen hinzugeben und Ihn so wahrhaft zu verehren!

Bedenke auch, daß jene, die sich dem Dienste Gottes geweiht haben, zu größerer Tugend verpflichtet sind als andere. Rufe dir alles, was du Gott gelobt hast in Erinnerung, angefangen bei deinen Taufgelübden bis zu den Versprechen, durch die du dich dem göttlichen Herzen Jesu und dem unbefleckten Herzen Mariens geweiht hast. Du hast Gott so viel versprochen und du tust doch so wenig!

Und wie viele Gnaden hat Gott dir geschenkt; genug, daß du ein Heiliger werden könntest. Bemühe dich noch mehr, mit der Gnade Gottes gute Früchte der Heiligkeit zu bringen!