76. Von der Geduld im Ertragen von Ungerechtigkeiten
(Mt 5, Lk 6)
I Jesus ermahnt seine Jünger zur Geduld bei ungerechter Behandlung
«Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem Bösen keinen Widerstand, sondern wenn dich jemand auf die rechte Wange geschlagen hat, so biete ihm auch die andere dar.»
Bis zu diesem Grad will also der Heiland die Rachsucht aus dem Herzen seiner Jünger entfernen! «Vergeltet nicht Böses mit Bösem. Verschafft euch nicht selbst Recht!» Es ist zwar nicht verboten, sich an die weltliche Gerechtigkeit zu wenden, damit man zum Recht gelangt, aber man soll es mit Zurückhaltung und ohne Erbitterung tun. So verlangt es der Geist des Evangeliums.
Aber der Heiland fordert noch mehr: «Ertraget lieber Schimpf und Ungerechtigkeit, als daß ihr die Liebe verletzt. Wenn ihr ein Unrecht erlitten oder eine Schmähung erfahren habt, seid bemüht, eurerseits die Liebe zu bewahren. Bewahrt sie in der Geduld, denn sie ist ein kostbares Gut.» Es ist immer ehrenhaft, sich stark zu zeigen, und die wahre Seelenstärke erprobt sich besonders im Ertragen. Die Vollkommenheit des Jüngers Christi geht soweit, daß er eher irdischen Gütern und dem persönlichen Ansehen entsagt, als daß er gegen die Nächstenliebe fehlt. So wird er Christus ähnlicher.
Wir sollen die Beleidigungen ertragen im Geiste der Demut und der Buße. Der wahre Christ glaubt als Strafe für seine Sünden weit mehr verdient zu haben, als er zu leiden hat.
Bist du einer dieser echten Jünger, von denen der Herr einen so hohen Grad von Selbstlosigkeit und Geduld verlangt? Wie kannst du dich zu ihnen zählen, wenn du dich bei der kleinsten Unfreundlichkeit, dem geringsten Unrecht, der unbedeutendsten Beleidigung immer wieder zur Heftigkeit hinreißen läßt?
II Jesus ermuntert seine Jünger, sich lästigen Bitten nicht zu entziehen
«Wer dich bittet, dem gib. Wer dir das Deinige nimmt, von dem fordere es nicht zurück.»
Verstehst du diese Worte? Bist du würdig, eine so herrliche Lehre zu vernehmen? «Sei wohlwollend und freigebig», sagt der Heiland. «Entziehe dich jenen nicht, die dich um etwas bitten. Nimm alle mit Wohlwollen auf, auch die Unbescheidenen und weniger Liebenswürdigen.» Die wahre Liebe lebt von der Verleugnung der ungeordneten Eigenliebe. Gib anderen mit deiner Gabe auch etwas von dir selbst. — Erweise dem Nächsten gern Dienste. Verweigere niemand deine Hilfeleistung und deinen Rat. Das Evangelium will, daß du auch den letzten der Menschen als deinen Bruder liebst und ihn dementsprechend wie einen Bruder behandelst. Sage nicht, daß er ein Unbekannter sei, ein Zudringlicher, denn Jesus betrachtet ihn als einen der Seinigen. Liegt es nicht in deiner Macht, die Bitte zu gewähren, so zeige wenigstens den guten Willen und sprich dein Bedauern aus, stoße aber nie jemanden lieblos zurück.
Wie steht es bei dir mit der Befolgung dieser Lehre? Fehlst du nicht täglich gegen das Gesetz der uneigennützigen, dienstbereiten Nächstenliebe, von der Jesus hier spricht? Gehst du nicht häufig mit einer Art von heidnischem Stolz an deinem Mitmenschen vorüber, wenn er sich in Armut und Not befindet? Bleibst du nicht fremd und gleichgültig gegen Bedrängte, die in ihrer peinlichen Lage auf dich rechnen, nur weil du fürchtest, einmal getäuscht zu werden? Hast du nicht hundert Vorwände und bedienst du dich nicht sogar der Lüge, um jene abzuschütteln, die sich vertrauensvoll an deine Güte wenden? Gehörst du nicht zu jenen, die nur unter der Bedingung hilfsbereit sind, daß ihnen daraus eitle Ehre oder persönlicher Nutzen erwächst? Müssen deine Dienste nicht um den Preis peinlicher Demütigungen und beschwerlicher Verpflichtungen erkauft werden? Erforsche dich hierüber und strebe Besserung an!
III Ein Grundgesetz der Nächstenliebe
« Wie ihr von den Menschen behandelt sein wollt, so behandelt auch ihr sie.»
Betrachte, mit wie viel Gerechtigkeit der Sohn Gottes von uns verlangt, daß wir die Mitmenschen so behandeln, wie wir es von ihnen erwarten. Um dieser Verpflichtung nachkommen zu können, müssen wir uns selbst an ihre Stelle setzen. Prüfe dich und deine berechtigten Wünsche! Erkenne, daß du die Hilfe und Zuneigung, die du von andern erwartest, auch dem Nächsten entgegenbringen mußt. Die geübte Nächstenliebe zieht die Erbarmungen Gottes auf dich herab. Vielleicht betest du schon lange um eine Gnade, die Gott dir noch nicht erwiesen hat. Ist es nicht deshalb, weil deine Herzenshärte den Schoß der Güte Gottes verschließt?
Nach den Worten des Herrn ist in der Gottes- und Nächstenliebe das ganze Gesetz und die Propheten enthalten, das heißt alles, was Gott geboten und verheißen hat. Wenn wir also dem Nächsten aus Liebe zu Gott das erweisen, was wir für uns selbst wünschen, erfüllen wir das ganze Gebot und verdienen alle Verheißungen Gottes. Gibt es einen erhabeneren Beweggrund, den Nächsten wahrhaft zu lieben?