83. Von der Milde im Urteil
(Lk 6, Mt 7)
I Jesus verbietet seinen Jüngern, den Nächsten zu richten
«Richtet nicht! Dann werdet ihr nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. . Denn mit dem gleichen Maße, mit dem ihr meßt, wird euch wiedergemessen.»
«Richtet nicht.» — Erwäge dieses Gebot des Meisters. Er setzt hier seinen Unterricht über die Liebe fort. «Enthaltet euch des Urteils; richtet niemanden. Ihr seid nicht die Richter eurer Mitmenschen. Hierzu fehlt euch jede Machtvollkommenheit, und euer Urteil ist deshalb in jeder Beziehung ein unbefugtes. Wenn ihr euch zum Richter aufwerft, maßt ihr euch die Rechte Gottes an.» — Es gibt nur einen Richter der menschlichen Handlungen. Er wird uns einst zur Rechenschaft ziehen und streng bestrafen, wenn wir ohne richterliche Befugnis und ohne gründliche Sachkenntnis über andere geurteilt haben.
Wer über seine Mitmenschen zu Gerichte sitzt, zieht sich damit selbst ein strenges Gericht zu. Jesus weist in seiner Mahnung auf diese Gefahr hin und fordert uns zu liebreichen Gesinnungen auf, um uns vor lieblosem Urteil zu bewahren. Folge seinem Rat! Kümmere dich nicht um das Verhalten deines Nächsten, wenn die Pflicht dies nicht von dir verlangt. Lege alles zum Guten aus und tadle nicht, was du entschuldigen kannst. Sei nachsichtig gegen deine Mitmenschen; dann wird Gott auch gnädig mit dir verfahren! Wäre es nicht töricht, ein so kostbares Heilsmittel nicht eifrig zu benutzen?
II Jesus tadelt die heuchlerische Strenge eines falschen Eifers
«Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, und den Balken in deinem eigenen Auge beachtest du nicht? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Laß mich den Splitter aus deinem Auge ziehen, und siehe, in deinem Auge steckt ein Balken? Du Heuchler, zieh erst den Balken aus deinem Auge! Dann magst du sehen, wie du den Splitter aus dem Auge deines Bruders ziehst.»
Der Meister zeigt mit diesen Worten, wo unser Bekehrungseifer vernünftigerweise anfangen soll. «Erkenne dich selbst», sagt Er, «und bestrebe dich, deine eigenen Fehler zu verbessern. Der Eifer, der andere tadeln und verbessern will, ist oft heuchlerisch.» Nicht selten geht er aus einem bösen Herzen hervor, das sich im Stillen über die tadelnswerten Eigenschaften eines andern freut und sich gedrängt fühlt, sie zu offenbaren. Man strebt nach persönlicher Erhebung durch Verkleinerung des Nächsten; man will zeigen, daß man weit von dem Fehler entfernt ist, den man an anderen verurteilt. Solches Verfahren ist lügenhaft und dem Herrn ein Greuel.
Sei von Herzen demütig, und du wirst genug Unvollkommenheiten und Armseligkeiten in dir selbst entdecken, die dir die Lust nehmen, irgend jemanden zu verurteilen. Wer blind gegen seine eigenen Fehler ist, ist am strengsten in der Verurteilung anderer! Zur vollkommenen Liebe gelangt man nur durch aufrichtige Demut. Wenn du deine Mitmenschen liebst, dich selbst aber in deiner Armseligkeit erkennst, so wirst du an ihnen nur die guten Eigenschaften, an dir selbst aber die Unvollkommenheiten entdecken. Wer von wahrem Seeleneifer durchdrungen ist, beginnt das Werk der Heiligung des Nächsten durch die Arbeit an seiner persönlichen Vervollkommnung. So will es Gott; alle anderen Wege sind Verirrungen eines falschen Eifers und einer übel verstandenen Liebe. Findest du nicht auch in deinem Benehmen jenes Pharisäertum, das der Heiland seinen Zuhörern so strenge verweist?