92. Die Lobrede Jesu auf Johannes den Täufer

(Lk7, Mt 11)

 

I Jesus lobt die Seelenstärke des Vorläufers

Während aber diese hinweggingen, fing Jesus an, zu dem Volke von Johannes zu reden: «Was seid ihr in die Wüste hinausgegangen zu sehen. Ein Schilfrohr, das vom Winde hin und her bewegt wird?»

Belebe in dir das Feuer heiliger Begeisterung und höre, was dich dem göttlichen Meister wohlgefällig macht. Ist es nicht die einzig wahre und erstrebenswerte Ehre, das Lob des Heilandes zu verdienen?

«Was seid ihr hinausgegangen zu sehen?» Es liegt Jesus viel daran, seinen Jüngern zu zeigen, daß nicht die Wissenschaft, die Beredsamkeit, der Erfolg vor der Welt und der Glanz der Stellung sein Lob verdienen, sondern einzig die Festigkeit des Charakters, die treue Pflichterfüllung, die Standhaftigkeit in der Tugend und die beständige Aufmerksamkeit auf das letzte Ziel.

Bemühe dich, die innige Freude Jesu zu verstehen, die Er empfindet, wenn starke Seelen zu Ihm kommen, die sich die Übung dieser Tugenden zur Lebensaufgabe gestellt haben. Gehörst du zu ihnen? Bereitest du Jesus diese Freude? Verdienst du das Lob des Heilands durch deine Treue unter seinem Banner?

Gleichst du nicht vielmehr dem Rohre, das vom Winde hin und her getrieben wird? Wirst du nicht von jedem Windstoß der Menschen furcht eingeengt, von jedem Windstoß des Vorurteils gelähmt, von jedem Windstoß der Demütigung empört, von jedem Windstoß der Prüfung entmutigt? Bist du nicht beim leisesten Windstoß unvorhergesehenen Unglücks verzagt? Wer solch einem schwankenden Rohre gleicht, der verliert die gerade Richtung auf Gott. Seine Vorsätze werden von jedem Widerspruch umgestoßen und sein Wille wird von der Gewalt der Sinne gebeugt. Er neigt sich jedem Vergnügen zu, handelt einzig auf Antrieb der Laune, meidet die Arbeit und geht dem Kampf aus dem Wege.

 

II Jesus preist die strenge Lebensweise Johannes des Täufers

«Oder was seid ihr hinausgegangen zu sehen? Einen Menschen mit weichlichen Kleidern angetan? Siehe, die da weichliche Kleider tragen, sind an den Höfen der Könige.»

Was haben die Leute in der Wüste gesehen? Einen Mann, der alle Furcht vor körperlichen Leiden überwunden hat, der darauf sinnt, sein Fleisch abzutöten, der lange Jahre im Wachen und Fasten zubringt, dem die Entbehrungen einer vollkommenen Armut ein Genuß sind, der öffentlich zeigt, daß er verachtet, was den Sinnen schmeichelt. Solch ein Anblick hat sie überwältigt, deshalb sagen sie: «Das ist ein Mann Gottes. Wir wollen uns bekehren und Buße tun.»

Auch der Heiland freut sich über den großen Bußprediger. Um seine Freude vollkommen zu machen, mußt auch du Buße tun und dich bekehren. Bist du nicht ein elender Sklave des Wohllebens und der Weichlichkeit? Schreckt dich nicht der Anblick dieses strengen Bußlebens, das die Menge in der Wüste begeisterte? Bist du nicht darauf bedacht, dir soviel als möglich die Bequemlichkeiten des Lebens zu verschaffen? Wirst du nicht traurig und schlechter Laune, wenn du einmal etwas entbehren mußt? Nähere dich demütig dem Heiland, bekenne Ihm deine Schuld und bitte Ihn, dich loszusprechen.

 

III Jesus preist den Eifer seines Vorläufers und die Erhabenheit seiner Sendung

«Oder wozu seid ihr hinausgegangen? Einen Propheten zu sehen? Ja, ich sage euch, noch mehr als einen Propheten. Denn dieser ist es, von dem geschrieben steht: Siehe, ich sende meinen Boten vor Dir her, daß er den Weg vor Dir bereite.»

Wiederum ein Lob des heiligen Johannes aus dem Munde des Herrn; abermals eine Gewissensfrage für dich. Die Menge hatte einen Mann gesehen, der nur die Interessen Gottes im Auge hatte und in ihnen aufging, einen Mann, der von Eifer glühte, dem Erlöser den Weg zu bereiten, Ihm Seelen zuzuführen, der bemüht war, allen die Gnade seiner wirklichen Ankunft zu verkünden. Dieser ist mehr als ein Prophet, sagt Jesus. Was ist er denn? Ein Apostel!

Beherzige ernstlich diesen Ausspruch Jesu. Wie groß ist dein Eifer für die Ehre des Heilandes? Wo ist deine brennende Begierde, Gott Seelen zu gewinnen, besonders jene, auf welche du Einfluß hast? Bist du in deinem Kreise das, was Johannes der Täufer beim jüdischen Volke war, der Engel des neuen Bundes, der Bahnbrecher des himmlischen Reiches, der Vermittler zwischen Gott und der sündigen Menschheit? Vergleiche dich mit dem heiligen Johannes und beurteile dich der Wahrheit entsprechend. Was hast du schon für die Sache des Evangeliums getan? Hältst du nicht durch ein schlechtes Beispiel andere ab, sich dem göttlichen Heiland zu nahen, anstatt sie Ihm zuzuführen?

«Wahrlich, ich sage euch», spricht Jesus, «unter den von der Frau Geborenen gibt es keinen Größeren als Johannes den Täufer.» — Was ließe sich von dir sagen? Müßte es nicht heißen: «Niemand ist kleiner als du; nichts ist beschränkter als deine Gedanken, nichts engherziger als deine Wünsche?» Lerne groß werden durch Selbstverleugnung.

Beglückwünsche die, welche sich selbst bezwungen haben, um das Himmelreich zu gewinnen; sieh, welche Kämpfe sie zu bestehen hatten. Vereinige dein Lob mit jenem der Auserwählten und verkünde den Triumph des Evangeliums. Laß dich nicht länger von der Unbeständigkeit des Vergänglichen beeinflussen. Miß mit dem Maßstab der Ewigkeit!