255. Ein Rangstreit der Apostel

(Lk 22)

 

I Jesus ermahnt seine Apostel, die ihnen anvertraute Gewalt mit Demut auszuüben

Es entstand auch ein Streit unter ihnen, wer von ihnen wohl der Größte sei.

Nimm wieder deinen Platz im Abendmahlssaal ein; beobachte den entstandenen Streit. Wie ist es möglich, in solchem Augenblick und nach einem solchen Beispiel eine derartige Frage aufzuwerfen? Jene, die soeben den Meister und Herrn der Welt zu ihren Füßen gesehen haben, die von Ihm so oft gehört haben, daß man in seiner Nachfolge um so größer sei, je kleiner man sich selbst mache, sie streiten ernstlich untereinander um den Vorrang. Hier bietet sich eine gute Gelegenheit, die Wunde, welche der Stolz der menschlichen Natur geschlagen hat, zu untersuchen. Diese Wunde ist in der Tat unheilbar; man muß sie behandeln, kann sie aber niemals ganz beseitigen. Die Erhebung anderer reißt sie wieder auf, die Furcht, verachtet zu werden, vergiftet sie. Doch laß dich deswegen nicht niederbeugen, sondern entschließe dich, selbst die schmerzhaftesten Mittel dagegen einzusetzen.

Wie weist Jesus seine Apostel zurecht? Er zeigt hier, daß Er die menschliche Natur kennt und all ihre Armseligkeiten versteht. Er weiß, daß wir vor allem belehrt werden müssen, wenn wir gerettet werden sollen. — So betrachte denn aufmerksam die Lehre, die Er uns hier erteilt. Er sagt: «Die Könige der Völker sind deren Gebieter, und ihre Machthaber lassen sich Wohltäter nennen. Bei euch aber darf es nicht so sein; sondern wer der Größte unter euch ist, werde wie der Geringste, der Vorgesetzte wie der Diener.» Dies soll heißen: «Lernt die Gewalt, womit ich euch bekleide, richtig gebrauchen. Diese Vollmachten sind euch für andere, nicht für euch selbst gegeben. Je weniger ihr euch selbst zuschreibt, desto mehr Segen wird daraus erwachsen. Teilt meine Gaben aus und hütet euch, sie euch selbst anzueignen. Wenn ihr diese Lehre versteht, ist es nicht notwendig, von Vorrang zu sprechen.»

Um seine Worte zu veranschaulichen, beruft sich Jesus auf sein Beispiel. Er war der Größte und hat sich klein gemacht, Er war der Herr und ist zum Diener aller geworden. Mögen die Weltmenschen ihren Ruhm darin suchen, den Vorrang vor allen zu haben, die Jünger Christi werden es sich zur Ehre anrechnen, den letzten Platz einzunehmen.

 

II Jesus verspricht seinen Jüngern, sie an seiner himmlischen Herrlichkeit teilnehmen zu lassen

«Ihr habt in meinen Prüfungen bei mir ausgeharrt. So vermache ich euch das Reich, wie mein Vater es mir vermacht hat.»

Danke dem Heiland für diese Trostworte! Er versichert seinen schwachen, aber gutgewillten Jüngern, daß Er mit dem wenigen, das sie bisher für Ihn geleistet und gelitten haben, zufrieden ist. — Was darf deine eigene Schwäche nicht alles von einer so großen Güte erwarten? In dem Augenblick, da der Heiland alle Ursache gehabt hätte, seine Jünger streng zurechtzuweisen, denkt Er nur daran, sie zu ermutigen und zu trösten. «Für einen jeden aus euch ist Platz in meinem Himmel», sagt Er zu ihnen. «Jedem von euch ist die gleiche Ehre, derselbe Reichtum für die Ewigkeit zugedacht! An meiner Seite werdet ihr alle herrschen. Warum euch also um den Vorrang streiten? Unter euch herrscht die Gleichheit der Könige.»

Vernimm andächtig diese Worte. Erhebe deine Seele zu jener ruhmvollen Ewigkeit, welche der Sohn Gottes dir eröffnet. Christi Reich wird das deinige sein, du wirst dort mit Ihm dasselbe Brot essen und aus dem gleichen Kelch trinken. All seine Güter wird Er mit dir teilen, du glücklicher Jünger Jesu!

O meine Seele, dein Erlöser lädt dich also ein, nicht bloß der Zeuge seiner Herrlichkeit zu sein und Ihm bei Tisch zu dienen, du sollst als Königin behandelt werden an seinem Tisch, in seinem Hause. Was willst du Ihm als Gegengabe schenken für eine so große Wohltat?

 

III Jesus sichert dem Petrus insbesondere die Unfehlbarkeit im Glauben zu

Der Herr fuhr fort: «Simon, Simon! Siehe, der Satan hat verlangt, euch sieben zu dürfen wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebetet, daß dein Glaube nicht wanke. Und du stütze und stärke, wenn du dereinst zurückgefunden hast, deine Brüder!»

Höre aufmerksam, was der Meister beifügt. Nachdem Er von den zukünftigen Freuden gesprochen, kommt Er wieder auf den Ernst der Gegenwart zurück. Die ganze Hölle ist gegen Jesus in Bewegung. Der Ansturm der höllischen Wut richtet sich auch gegen die Jünger, die Stunde der Versuchung ist angebrochen. Wie der Weizen durch das Sieben von der Spreu gereinigt wird, so werden die großmütigen und getreuen Seelen durch die Versuchung bewährt und von den lauen unterschieden. Wundere dich nicht darüber, daß Gott dem Satan zuweilen erlaubt, die Kinder Gottes zu versuchen. Alles ist der göttlichen Vorsehung untergeordnet und muß ihr dienen; dies bringt Jesus seinen Jüngern wieder in Erinnerung. Bei dieser Gelegenheit ermahnt Er sie, wie sie und alle Gläubigen sich in Zukunft gegen die Angriffe Satans schützen sollen. Der Glaube an die heilige Kirche ist unser Halt und unser Trost. Hat doch Christus verheißen, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen werden.