261. Das Gebot der Liebe

(Joh 15)

 

I Jesus bittet seine Apostel, Ihm Liebe für Liebe zu geben

«So wie mich der Vater geliebt hat, so habe ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe.»

Der Meister öffnet seinen Jüngern sein ganzes Herz und zeigt ihnen, welche Liebe Er für sie hegt. «Ich liebe euch, wie mich mein Vater geliebt hat», spricht Er. Überraschende Erklärung! Der göttliche Sohn ist der Gegenstand alles Wohlgefallens des Vaters. Nichts auf Erden ist imstande, uns einen Begriff der Liebe des ewigen Vaters zu seinem wesensgleichen Sohn zu geben. Und siehe da, der ewige Sohn des Vaters, der sich zum Erlöser der Menschen gemacht hat, will diese Liebe auf die Menschen übertragen. Er will uns lieben mit der Liebe, die der Vater zu Ihm hegt. Arme, gefallene Wesen, die des Vaterlandes beraubt, der Erbschaft verlustig, mit Sünden befleckt und zum Tode und zur Verwesung verurteilt sind, werden nun Gegenstand des Wohlgefallens desjenigen, dessen Schönheit ohnegleichen, dessen Reichtum ohne Maß und dessen Vollkommenheit ohne Grenzen ist.

Die ewige Weisheit glaubt nicht, durch diese Erklärung sich etwas zu vergeben, die unendliche Güte fürchtet nicht, durch solches Entgegenkommen sich zu erniedrigen. Gib dich vertrauensvoll der göttlichen Liebe hin! Wenn du stark sein willst, mußt du fest glauben, daß Jesus dich liebt. Suche in seinem Herzen deine Ruhe und schlage deine Wohnung darin auf, da Er dich dazu einlädt. Hungert und dürstet dein Herz nicht nach Liebe? Stille dieses Verlangen an der Quelle der wahren Liebe.

 

II Jesus erneuert sein Gebot der brüderlichen Liebe

«Dies ist mein Gebot: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.»

Fasse die Pflicht der brüderlichen Liebe scharf ins Auge! Sie ist das wichtigste Gebot des Evangeliums. «Das ist mein Gebot», erklärt der Heiland eindringlich, als wollte Er sagen: «Dies ist mein einziges Gesetz, meine ganze Religion, mein ganzes Evangelium: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe. Tut einander, wie ich getan habe, gebt, wie ich gegeben habe, seid dienstfertig, wie ich es gewesen bin; opfert euch hin, gleich wie ich mich hingeopfert habe! Wenn ihr die Meinigen liebt, liebt ihr mich, wenn ihr sie von eurer Liebe ausschließt, vertreibt ihr mich selbst aus eurem Herzen.»

Erkenne die Richtigkeit dieser Schlußfolgerung an. Bitte Jesus, Er möge dein Herz für die Freuden und Leiden deines Nächsten empfänglich machen. Flehe Ihn an, Er möge die Liebe, von der sein Herz überfließt, in das deine ergießen! Dann wirst du lieben können wie Er. Du wirst alle Eifersucht, Bitterkeit, Empfindlichkeit und Selbstsucht ablegen. Du wirst deinen Brüdern bereitwillig geben, was Jesus gegeben, und tun, was Er getan hat, ohne Rücksicht auf dich selbst.

 

III Jesus sagt den Aposteln, daß Er sie als seine Freunde und Vertrauten betrachtet

«Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. Nicht mehr Knechte nenne ich euch, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Freunde habe ich euch genannt; denn ich habe euch alles geoffenbart, was ich von meinem Vater gehört habe.»

Höre mit Entzücken, wie der Heiland seine Apostel Freunde nennt. Auch du gehörst zu jenen Glücklichen, zweifle nicht daran! Der Sohn Gottes scheint die Entfernung, die Ihn von uns trennt, zu vergessen, Er überbrückt den Abgrund zwischen sich und den Menschen. Er macht uns zu Seinesgleichen in unserem Verhältnis zu Gott, in unserem Ursprung und Ziel. Er sagt zu seinen Jüngern: «Ihr seid meine Freunde, — ich will, daß zwischen mir und euch die vertraulichen Beziehungen wahrer und inniger Freundschaft herrschen.»

Was sagst du dazu? Willst du der vertraute Freund des Heilands sein? Gibt es auf Erden einen beneidenswerteren Titel für dich? Ist die göttliche Freundschaft hienieden nicht deine höchste Ehre? Sie ist aber auch deine höchste Freude. Durch die innige Vertrautheit mit Jesus erhalten die göttlichen Erleuchtungen eine größere Klarheit; dann scheint es der gläubigen Seele, sie sehe den Himmel offen und die letzten Geheimnisse entschleiert.

Komm und setze dich zur Rechten deines himmlischen Freundes! Jetzt, wo Jesus dich zu seiner Freundschaft erhoben hat, kommt dir auch dieser Platz zu. Bitte Ihn demutsvoll und vertraulich, dir die geheimen Beweggründe zu erklären, die seine Wahl auf dich gelenkt haben. Warum hat Er dich und nicht vielmehr andere so hoch erhoben und geehrt? Warum dich, trotz deiner offensichtlichen Unwürdigkeit und deiner Fehler?

Es steht fest, daß du die Anregung zum Streben nach Vollkommenheit von Ihm empfangen hast. Er hat die ersten Schritte getan, die Mittel zu deiner Heiligung erwogen und dir seine unerschöpflichen Hilfsquellen zur Verfügung gestellt. So viele Liebesbeweise verlangen eine Erwiderung. Bitte Jesus, dir zu sagen, was Er als Gegengabe von dir wünscht!