273. Der Kuß des Verräters
(Mt 26, Mk 14, Lk 22, Joh 18)
I Die Schar der Feinde Jesu
Während Er noch redete, kam schon Judas Iskariot, einer von den Zwölfen, und mit ihm eine große Schar mit Schwertern und Knütteln, mit Laternen, Fackeln und Waffen.
Verweile unter den Bäumen des Ölgartens bei deinem göttlichen Meister. Horche auf den Lärm, der von allen Seiten hervorschallt; betrachte die heranstürmende Schar! Sie nahen sich Jesus mit Schwertern und Prügeln wie einem gefährlichen Verbrecher; er hat ja wirklich die Stellvertretung aller Missetäter übernommen. Sieh, wie man Ihn fesselt, und bedenke, daß du der wahre Schuldige bist, der diese schmähliche Behandlung verdient hat.
Wer führt die rohe Bande an? Einer der Zwölf, einer von denen, die Gott am höchsten begnadigt hat. Jesus hatte ihn auserwählt, ein Grundstein seiner Kirche zu werden; jetzt steht er an der Spitze der Feinde Gottes, mit denen er ein Zeichen verabredet hat: «Welchen ich küssen werde, der ist es; ergreift Ihn und führt Ihn vorsichtig ab!» Was der Heiland ihm sagte, hat er treulos vergessen, seine heiligsten Versprechen tritt er mit Füßen. Was er früher geliebt hat, das verabscheut er jetzt; was ihm ehemals von unschätzbarem Wert schien, gilt ihm jetzt nichts mehr.
Erwäge die Ursachen eines solchen Falles! Wisse, daß Gott jene sich selbst überläßt, die sich weigern, den ihnen von der Gnade vorgezeichneten Weg zu wandeln, und daß der sich selbst überlassene Mensch ins Verderben geht. Überdenke aufmerksam das Unglück des Judas! Bist nicht auch du Gegenstand einer besonderen Vorliebe Gottes? Wie willst du dich vor dem Fall schützen? Was willst du tun, um dir die Beharrlichkeit im Dienst Gottes zu sichern? Wie willst du der Erschlaffung in der Nachfolge Jesu zuvorkommen?
II Der Kuß des Judas
Als er ankam, trat er sogleich auf Jesus zu und küßte Ihn mit den Worten: «Sei gegrüßt, Meister!»Jesus sprach zu ihm: «Freund, dazu bist du gekommen! Judas, mit einem Kusse verrätst du den Menschensohn?»
Siehe, wie Judas sich dem Heiland naht und sein Versprechen ausführt. Suche durch Akte ehrfurchtsvoller Liebe, für den Verräterkuß Sühne zu leisten!
Die unendliche Güte ist einer grenzenlosen Bosheit preisgegeben. Judas hatte gesagt: «Den ich küssen werde, der ist es. Um Ihn euch zu überliefern, will ich mir den Anschein geben, als gehöre ich noch zu den Seinen. Um mich Ihm zu nahen, werde ich Freundschaft heucheln und so die Wachsamkeit der Ihn umgebenden Jünger täuschen. Auf diese Weise verschaffe ich euch Gelegenheit, Ihn mühelos zu ergreifen.» Die Liebe ist im Herzen des Judas erstorben. Der ehrwürdigsten Dinge bedient er sich, um den Allerheiligsten seinen Feinden auszuliefern; das Friedenszeichen entweiht er durch Verrat.
«Sei gegrüßt, Meister! Mit diesem Kuß verrate ich dich und übergebe dich dem Hohn und dem Haß deiner Feinde. Den ewigen Gütern, die Du mir in Aussicht stelltest, ziehe ich die Versprechungen deiner Feinde vor. Deiner Freundschaft entsage ich, um meinen Leidenschaften zu frönen. Anscheinend erweise ich dir Ehre; in Wirklichkeit bedecke ich dich mit Schmach.»
«Freund!» antwortet Jesus. Erfasse die Bedeutung dieses Wortes. Die Güte Jesu wird so schmählich mißbraucht, daß man seine Wohltaten gegen Ihn kehrt. Judas hintergeht, verachtet, verrät Ihn. Aber der Heiland fährt fort, ihn zu lieben und nennt den Verräter «Freund». Wie schätzest du die Güte deines Erlösers? Knie demütig vor Ihm nieder und bitte Ihn um seine Freundschaft, die von den Sündern aller Zeiten so oft zurückgestoßen worden ist. Nur seine Liebe kann vor dem Fall bewahren.
Was gibt dir dein dankbares Herz ein, um deinen Erlöser für alle Treulosigkeiten zu entschädigen? Nimm in Zukunft nach dem Vorbild deines geduldigen und sanftmütigen Heilands alle Mißverständnisse und Lieblosigkeiten willig an! Der echte Jünger Jesu muß sein Beispiel nachahmen.