276. Die Flucht der Apostel
(Mt 26, Mk 14, Lk 22)
I Jesus betont die Freiwilligkeit seines Leidens
Zu den Hohenpriestern aber, den Hauptleuten der Tempelwache und den Ältesten, die an Ihn herangetreten waren, sprach Jesus: «Wie gegen einen Räuber seid ihr mit Schwertern und Knütteln ausgezogen.»
Verfolge aufmerksam das, was sich bei der Gefangennahme zuträgt; höre die Worte, betrachte die Handlungen! Man begnügt sich nicht, Ihn bloß gefangen zu nehmen; man tut es auf die schimpflichste Weise. Alles geschieht, um Ihn möglichst zu entehren; man sollte glauben, es handle sich um einen Dieb oder Räuber. Wird nicht jede Mißhandlung um so verletzender durch den damit verbundenen Schimpf? Der Stolz lehnt sich dagegen auf und sagt mit Entrüstung: «Wofür hält man mich?»
Komm und sieh, wie man den Heiland behandelt, und doch beklagt Er sich nicht. Er drückt nur mit Sanftmut und Einfachheit seine Verwunderung aus über soviel Kraftaufwand. «Ich bin kein gefährlicher Mensch, ich bin das Lamm Gottes, das hinweg nimmt die Sünden der Welt. Wenn es euch gelingt, mich gefangen zu nehmen, so geschieht das, weil ich es will. — Täglich war ich bei euch und lehrte im Tempel, und ihr habt mich nicht ergriffen. Aber das ist eure Stunde und die Gewalt der Finsternis.» Finsternis der Unwissenheit für die einen, Finsternis der Verblendung für die andern. Das Licht der ewigen Weisheit leuchtet über diesem traurigen Schauspiel, das der Wille Gottes zum Heil der Welt leitet. Wie Jesus sich sanft und todesmutig seinen Feinden ausliefert, so überlasse du dich, auch in Widerwärtigkeiten, rückhaltlos der gütigen Vorsehung Gottes!
II Jesus wird von seinen Jüngern verlassen
Da verließen Ihn alle seine Jünger und flohen.
Sieh, wie die Jünger feige fliehen! Alle ihre Vorsätze sind in einem Augenblick vergessen. Beim Anblick ihres gefesselten Meisters entschwindet ihnen die Erinnerung an all die Wunder, deren Zeugen sie gewesen sind, an all die ermutigenden Worte, die er ihnen gesagt hat, an die Erleuchtungen, Gnaden und Wohltaten, die Er ihnen so reichlich zuteil werden ließ. So wenig haltbar sind Entschlüsse, die in der ersten Begeisterung fühlbarer Andacht gefaßt werden. Die Apostel wollten ihr Leben für Jesus geben und mit Ihm in den Tod gehen, weichen aber beim ersten Anprall.
Diese Tatsache bestätigt die Wahrheit, daß der Mensch nur durch Gott stark wird. Wie groß auch dein Mut sein mag, den du zur Zeit des Trostes fühlst, du wirst doch allzeit deine angeborene Schwäche auf den Kampfplatz mitbringen. Mißtraue dir selbst und vertraue auf Jesus, dann wirst du stark sein im Kampf und als Sieger hervorgehen. Wohin gehen die furchtsamen Jünger? Nach allen Richtungen entfliehen sie. Sie suchen einen Zufluchtsort und entfernen sich doch immer mehr von dem, der die Stütze der Schwachen ist. Sie fürchten den Tod und fliehen doch von dem, der das Leben ist und gibt. Wie töricht handeln sie! Wäre nicht die Gefangenschaft mit Jesus dieser unrühmlichen Flucht tausendmal vorzuziehen? Eile im Geist der Zeit voraus zu den Tagen, da die Jünger zu ihrem Meister zurückkehren und Ihn durch ihren standhaften Eifer, der nunmehr weder vor Leiden noch vor dem Tod zurückschreckt, entschädigen. Nahe dich still dem verlassenen Heiland und bestrebe dich, so gut du es vermagst, die Wunde seines zartfühlenden Herzens zu heilen! Er verlangt nur eins von dir: eine unerschütterliche Treue. Versprich Ihm, jene zu ersetzen, die Ihn verlassen haben. Sprich Ihm deine Teilnahme aus, sage Ihm, du wollest bei Ihm ausharren, sein Blut und seine Tränen auffangen und, wenn es sein muß, an seiner Seite sterben.