283. Die Verzweiflung des Judas
(Mt 27)
I Judas vernimmt die Verurteilung Jesu
Als nun sein Verräter Judas sah, daß er verurteilt worden war, wurde er von Reue ergriffen.
Sieh den Verräter Judas mitten unter den Feinden Jesu! Mit angstvoller Spannung verfolgt er die Ereignisse. Sein mühsam eingeschläfertes Gewissen erwacht plötzlich und wirft ihm seinen schwarzen Undank vor und sein Verbrechen zeigt sich ihm unverhüllt in seiner ganzen Abscheulichkeit. Das Bild Jesu in seiner Reinheit und erhabenen Größe tritt vor sein Auge. In seinem Gedächtnis taucht die Erinnerung auf an all das Erhebende und Erbauliche, dessen Zeuge er gewesen ist, an all die gnadenreichen Eindrücke, die er von Anfang an im Umgang mit Jesus empfangen hat und die ihn zu seiner Nachfolge angezogen haben. Die Ehre und der Ruhm des Apostolates, dessen er sich unwürdig gemacht hat, alle Beweise der Güte, die er von Jesus erhalten, zumal sein letztes, so rührendes Wort an ihn im Augenblick des Verrates; all das steht mit schrecklicher Klarheit vor seiner Seele. Und was hat er gegen so unschätzbare Güter eingetauscht? Dreißig Silberlinge! Das ist der ganze Lohn seines schmählichen Verrates.
II Judas klagt sich bei den Hohenpriestern seines Verbrechens an
Er brachte die dreißig Silberlinge den Hohenpriestern und Ältesten zurück und sagte: «Ich habe gesündigt, ich habe unschuldiges Blut verraten!» Die aber sagten ihm: «Was geht das uns an? Sieh du selber zu!»
Von Gewissensbissen gefoltert, versucht Judas, den Weg des Verderbens zu verlassen. Der Satan legt ihm eine neue Schlinge. Hat der böse Feind den Menschen zum Fall gebracht, so bemüht er sich mit allen Mitteln, ihn nun in Verzweiflung zu stürzen. Er redet dem Unglücklichen ein, daß alle Reue vergeblich, daß eine Versöhnung mit Gott unmöglich sei. Satans Sieg ist vollendet, wenn es ihm gelingt, durch die Verzweiflung die Seelen für immer Jesus zu entreißen. — Hätte Judas sich der unendlichen Barmherzigkeit Gottes erinnert, hätte er seine Zuflucht zur Mutter Jesu genommen, wäre er mit dem Geständnis seiner Schuld und seiner Reue zu seinen Mitaposteln zurückgekehrt, der Heiland würde ihm so wie ihnen verziehen haben. Statt dessen wendet er sich an seine Mitschuldigen und vollendet sein Verderben.
«Ich habe gesündigt und unschuldiges Blut verraten!» ruft er aus. «Was geht das uns an», antworten diese gefühllosen Menschen. Was liegt uns an deiner Verzweiflung? Wir haben dir den ausgemachten Preis bezahlt und wollen nichts mehr mit dir zu schaffen haben!» Das hat also derjenige zu erwarten, der Gott verläßt, um der Welt zu gefallen. Die Menschen sind unbarmherzig, Gott hingegen nimmt liebevoll alle auf, die reuig zu Ihm zurückkehren.
III Die Verzweiflung und der Selbstmord des Judas
Da warf er die Silberlinge in den Tempel, lief weg und erhängte sich mit einem Strick.
Sieh, wie Judas den Verräterlohn in den Tempel wirft! Was bleibt ihm nun von allem, was er zu besitzen gehofft hatte? Das elende Geld, das er den ewigen Gütern vorgezogen hat, wird ihm verhaßt. Das ist der wahre Wert jeder Lust, die um den Preis der ewigen Seligkeit erkauft wird.
Folge dem unglücklichen Apostel! Er kann den Anblick seines Verbrechens, seine Gewissensbisse nicht länger ertragen; die Schande, womit er sich bedeckt hat, erdrückt ihn. Dem begangenen Sakrileg fügt er die entehrendste Feigheit hinzu.
Es zeugt von einem Rest sittlicher Größe, wenn ein Mensch nach einem schweren Fehler den Vorwürfen seines Gewissens Gehör gibt und sich aus allen Kräften bemüht, seine Schuld zu sühnen. Ein feiges Herz zieht es vor, der Schande durch Selbstmord zu entgehen. So macht es Judas. Statt seinen Verrat zu sühnen, besiegelt er sein Verbrechen für ewige Zeit und verurteilt sich selbst zum ewigen Tod.
Angesichts dieses schauerlichen Selbstmordes bete du die göttliche Gerechtigkeit an. Vergleiche mit dem furchtbaren Los des Judas das Schicksal des Petrus, der zur selben Zeit, da Judas in Verzweiflung sich das Leben nimmt, Tränen der innigsten Liebesreue vergießt und vollkommene Vergebung seiner Sünde erlangt.