292. Ecce Homo
(Joh 19)
I Jesus wird dem Volk gezeigt
So kam Jesus heraus mit Dornenkrone und Purpurmantel. Pilatus sagte zu ihnen: «Seht da den Menschen!»
Mische dich unter die Menge, welche die Zugänge zum Gerichtshaus belagert, und bereite dein Herz vor auf das erschütternde Bild, das der himmlische Vater dir zeigen wird.
Pilatus führt dem versammelten Volk den Erlöser der Welt vor, mit Wunden bedeckt, mit Dornen gekrönt, das Schilfrohr in der Hand und den scharlachroten Spottmantel um die Schultern. Sieh deinen Heiland und höre, was Pilatus sagt: «Ecce Homo!» Was der arme Heide nicht ahnt, das suche du als Christ zu erfassen. Ecce Homo! Siehe den Menschen, auf dem der Blick des himmlischen Vaters ruht, um unsere Sünden zu übersehen und zu verzeihen! Siehe den Menschen, der mich mehr geliebt hat, als irgend jemand auf Erden mich lieben kann, und der für mich mehr Opfer gebracht hat, als irgend jemand für mich bringen kann. Siehe den Menschen, der mir den Abgrund der Barmherzigkeit Gottes und den Abgrund der Bosheit des Menschenherzens geoffenbart hat. Siehe den Menschen, dessen Wunden unsere Krankheiten heilen, dessen Tränen unsere Schmerzen lindern, dessen Schmach uns Ehre erwirbt und dessen Tod uns das Leben gibt. Siehe den Menschen, der mit unendlicher Sanftmut mir meine Sünden vorhält, dessen Blut meinen Stolz sühnt, dessen Dornen für meinen Undank genugtun, dessen entstelltes Antlitz für meine Weichlichkeit büßt und dessen Spottzepter mir meinen Wankelmut und meine Lauheit vorwirft. Siehe den Menschen, der jetzt mein Erlöser ist und der einst mein Richter sein wird! Jetzt ist Er mit Schmach bedeckt, einst werde ich Ihn schauen im vollen Glanz seiner Herrlichkeit.
O Seele, sinke in dankbarer Liebe deinem Erlöser zu Füßen und verdemütige dich vor Ihm. Erhebe deinen gläubigen Blick zum himmlischen Vater, zeige Ihm seinen vielgeliebten, einzigen Sohn, den der Haß der Menschen so grauenhaft entstellt hat! Flehe Ihn um der Leiden Jesu willen um Erbarmen für dich an; trage Ihm vertrauensvoll alle deine Anliegen vor! Sprich zu Ihm: «Vater, siehe den Menschen, der mich in seiner Liebe zu dir schickt. Siehe den Menschen, der mir die Versicherung gegeben hat, Du werdest meine Bitten gütig aufnehmen. Siehe, was Er meinetwegen gelitten hat, und erhöre mich!»
II Das Volk fordert den Tod Jesu
Sobald aber die Hohenpriester und die Diener Ihn sahen, schrieen sie: «Ans Kreuz, ans Kreuz mit Ihm!»
Höre den wilden, haßerfüllten Ruf: «Kreuzige Ihn!», der sich beim Anblick Jesu erhebt. Wer sind die, die so rufen? Es sind jene, welche die Wahrheit aus dem Munde Jesu verletzt hat, die Stolzen, die Undankbaren, die Feiglinge.
Sie schreien: «Kreuzige Ihn!» Seine Güte reizt sie, seine Barmherzigkeit demütigt sie, seine Weisheit beschämt sie; deshalb soll Jesus aus der Welt geschafft werden. Was hat denn der Heiland gesagt und getan, um so gehaßt, ausgestoßen und verurteilt zu werden? Er hat alles wohlgetan. Die Blinden machte Er sehend, den Stummen gab Er die Sprache wieder, den Betrübten spendete Er Trost und die Gefangenen befreite Er. Er konnte von sich selbst sagen: «Der Geist des Herrn ist über mir; darum hat Er mich gesandt, den Armen das Evangelium zu verkünden.» — Rufe du alle herbei, denen Er Wohltaten erwiesen hat, und bestätige mit ihnen, daß Er einzig darum sterben muß, weil Er uns zu sehr geliebt hat!
Was geht daraus hervor? Wenn Jesus aus Liebe zu uns in den Tod geht, so müssen wir unser Leben ganz seiner Liebe weihen. Während die Feinde Jesu Ihm das Kreuz bereiten, errichte du Ihm in deinem Herzen einen Thron der Liebe! Sprich von ganzer Seele: Es lebe Jesus!