293. Die letzte Gerichtsverhandlung
(Joh 19)
I Jesus wird zum letzten Mal von Pilatus verhört
Pilatus ging in das Amtsgebäude zurück und fragte Jesus: «Woher bist du?» Jesus gab ihm aber keine Antwort.
Begleite im Geist abermals deinen Heiland in das Prätorium. «Woher bist Du?» fragt Pilatus. Pilatus fängt an, in Jesus eine geheimnisvolle Größe zu ahnen. Die Art, wie Jesus seine furchtbaren Demütigungen und Leiden erduldete, hat Eindruck auf ihn gemacht. Er möchte mehr vom Heiland wissen, aber nur um einen Ausweg aus dieser schwierigen Gerichtsverhandlung zu finden; es ist also nicht Liebe zur Wahrheit, die ihn zu dieser Frage drängt.
Jesus antwortet ihm nicht. Warum sollte Er auch antworten? Pilatus würde doch keinen Nutzen daraus ziehen und sich nicht für Recht und Wahrheit entscheiden, denn er hat die Wahrheit Christi verschmäht und das Gnadenangebot des Herrn verworfen. Das Geheimnis der ewigen Zeugung des Sohnes Gottes wird nur den Kleinen und Demütigen offenbart; der himmlische Vater entdeckt es nur jenen, die gewillt sind, seinem vielgeliebten Sohn zu folgen, jenen, die durch diese Erkenntnis sich zu größerer Liebe und Aufopferung mitreißen lassen. Jesus schweigt, obwohl die Gelegenheit günstig wäre, sich durch Offenbarung seiner göttlichen Erhabenheit für die erlittene Schmach zu rächen. Aber Jesus will die Größe seines Opfers nicht schmälern; Er schweigt und läßt Pilatus bei seiner irrigen Meinung.
Bringe dem Heiland deine Huldigung dar! Du hast die große Gnade zu wissen, wer Jesus ist; wirf dich Ihm gläubig zu Füßen und verharre im Schweigen liebender Anbetung und unbegrenzter Dankbarkeit.
II Jesu Antwort an Pilatus
Da sagte Pilatus zu Ihm: «Mit mir sprichst Du nicht? Weißt Du nicht, daß ich die Macht habe, Dich freizugeben, und die Macht habe, Dich kreuzigen zu lassen?»
Höre das Drängen des Pilatus: «Warum antwortest Du mir nicht?» fragt er. «Dein Los liegt doch in meinen Händen.» Freilich liegt das Los des göttlichen Heilands jetzt in den Händen derer, die ein Interesse daran haben, Ihn töten zu lassen. Die ewige Allmacht demütigt sich bis zu dem Grad, daß sie einem ihrer Geschöpfe erlaubt, ihr zu sagen: «Dein Leben und dein Tod liegt in meinen Händen. Ich kann Dich mit Ehren oder mit Schmach bedecken.» Dem Heiland wird durch Pilatus die Wahl angeboten zwischen Leben und Tod, Ehre und Verachtung. Jesus schwankt nicht; Er wählt Schmach und Tod.
So handelt die ewige Weisheit. Danke dem Heiland dafür, denn um deinetwillen trifft Er die Wahl. Huldige deinem liebevollen Erlöser! Schließlich antwortet Jesus dennoch. Erwäge sein letztes Wort an den wankelmütigen Richter: «Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre.» Er lehrt uns durch diese Worte, in allen Widersprüchen und Ungerechtigkeiten, in jedem Mißbrauch der Gewalt die göttliche Vorsehung zu verehren, die das Erlösungswerk leitet. Alle Ereignisse sind dem göttlichen Willen untergeordnet und in den Plan der Vorsehung aufgenommen. Gott bedient sich der Feigheit der einen, um den Mut der andern anzueifern. Er läßt die Ungerechtigkeit zu, um durch sie der Gerechtigkeit zum Triumph zu verhelfen. Aus dem Tod weiß Er das Leben, aus dem Leiden Freude zu erwecken. Dieser Gedanke gibt Kraft in Widerwärtigkeiten und Verfolgungen.
Das lehrt uns Jesus vor dem Richterstuhl des Pilatus durch sein Wort und Beispiel. Jesus erkennt in der Autorität des Richters die göttliche Gewalt an, die über Ihn verfügt. Er verehrt im Machtspruch des Pilatus das Urteil des ewigen Vaters. Er unterwirft sich seinen Absichten und vertraut, daß alles, was Er erdulden muß, zur Ehre Gottes und zum Heil der Seelen gereichen wird. Das ist die letzte Unterweisung, die Jesus in seinem sterblichen Leben erteilt; vergiß sie niemals! Wie sich auch dein Lebensweg gestalten möge, glaube an die Vorsehung deines himmlischen Vaters und an die Liebe seines eingeborenen Sohnes. Gib all deine Befürchtungen auf und wandle freudigen Mutes auf den Wegen, die dein Heiland dich führt! Nichts wird dir begegnen, was nicht zu deinem ewigen Heil gereichen kann