313. Jesus erscheint Maria Magdalena

(Joh 20, Mk 13)

 

I Maria Magdalena am Grab Jesu

Maria aber blieb draußen am Grab und weinte. Wie sie nun weinte, neigte sie sich vor und schaute in das Grab hinein.

Betrachte Maria Magdalena am Grab Jesu und schliesse aus der Fülle ihrer Tränen auf die Glut ihrer Liebe und die Größe ihres Verlustes! Wer kann die Leere ergründen oder gar ausfüllen, die die Abwesenheit Jesu in solchen Seelen hinterläßt, die an die Freuden seiner Gegenwart gewöhnt sind?

Maria weint, aber zugleich sucht sie eifrig ihren Meister. Die Trauer, die uns untätig macht, ist fruchtlos. Maria blickt um sich und fragt: «Wo ist Er, um den ich weine?» Da sah sie zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, den einen zu Häupten, den andern zu Füßen, dort, wo Jesu Leichnam gelegen hatte. — «Wo ist Er? Heilige Engel Gottes, sagt es mir! Alles will ich tun, um Ihn zu entdecken, kein Weg soll mir zu weit sein, um zu Ihm zu gelangen, kein Opfer wird mir zu schwer sein, um mein einziges Gut wiederzugewinnen.»

«Frau, warum weinst du?» fragen die Engel. Der Anblick eines Grabes soll uns nicht maßlos traurig machen, die Zeichen des Todes sollen uns nicht unversiegliche Tränen entlocken. Jenseits des Grabes erwartet uns die Auferstehung, der Himmel; dieser Gedanke trocknet die Tränen, tröstet und erfreut.

O meine Seele, beantworte du die Frage der Engel. Warum weinst du, wenn vom Sterben die Rede ist? Es fehlt dir an Glaubensgeist. Erhebe dich über alles, was vorübergeht, und erahne das helle Licht der Ostersonne!

 

II Jesus zeigt sich ihr unter fremder Gestalt

Sie wandte sich um und sah Jesus dastehen, erkannte aber nicht, daß es Jesus war. Jesus fragte sie: «Frau, was weinst du? Wen suchst du?» In der Meinung, es sei der Gärtner, antwortete sie Ihm: «Herr, hast du Ihn weggetragen, so sage mir, wohin du Ihn gelegt hast; dann will ich Ihn holen.»

Maria Magdalena weint immer noch, aber es sind ihre letzten Tränen. Auf dem Höhepunkt der Leiden findet man den Himmel. Der göttliche Meister ist einer Seele niemals näher, als wenn sie Ihn weit entfernt glaubt.

Ein Fremder tritt Maria entgegen; er fragt: «Warum weinst du?» und fügt hinzu: «Wen suchst du?» Er scheint sagen zu wollen: «Wozu die Tränen an diesem frohen Fest? Wozu dieses unruhige Suchen, da wir doch ans Ziel gelangt sind? Hat der, den du suchst, jemals sein Wort gebrochen? Du gehörst doch zu den Seinigen, glaubst du, daß Er dich vergessen könnte?»

Betrachte diesen trostvollen Zuspruch! Maria nimmt sich nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Sie wirft auf den Fremden nur einen flüchtigen, von Tränen verdunkelten Blick. Noch hindern sie ihre Hast und Überstürzung, ihre Erregung und übermäßige Sorge, die Gegenwart des Vielgeliebten zu erkennen.

 

III Sie erkennt Ihn und teilt mit Ihm die Freuden seiner Auferstehung

Da sprach Jesus zu ihr: «Maria!» Sie wandte sich um und sagte zu Ihm auf hebräisch: «Rabboni», das heißt «Meister». Jesus sprach zu ihr: «Halte mich nicht fest! Ich bin noch nicht zu meinem Vater aufgefahren. Doch gehe zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.1»

Sammle dich, um nichts von diesem ergreifenden Geschehen zu verlieren! Die Unvollkommenheiten Marias konnten Jesus einen Augenblick zurückhalten; aber seine Liebe besiegt die letzten Hindernisse. Er offenbart sich allen, die Ihn lieben.

«Maria!» sagt Jesus. — «Meister!» ruft Maria. Was enthalten diese beiden Worte? Jede Erläuterung würde sie entstellen. Flehe den Heiligen Geist an, dir all ihre Schönheit zu offenbaren und dich all ihre Freude verkosten zu lassen! Eine Begegnung, ein Blick, ein Wort genügt, um ein ganzes Leben zu verklären.

Wer ist diejenige, der Jesus sich so herrlich offenbart? Diese so glücklich beschenkte Frau ist eine erst kürzlich bekehrte Sünderin! Warum solltest du nicht eine gleiche Gnade erlangen können, wenn du den Heiland liebst wie sie und dich ganz Ihm hingibst?

O meine Seele, Jesus spricht auch zu dir: «Ich bin es!» — Er hat sein Blut vergossen, um dir die Himmelsfreuden zu erkaufen, und Er teilt sie dir jetzt schon mit, damit du davon lebest. Lerne von Ihm, daß man auf dieser Welt durch den Tod zum Leben und durch das Leiden zur Freude eingeht. Antworte dem Heiland wie Maria: «Meister! Ich gehöre einzig dir und will ganz für dich leben.»

1 Der Heiland gibt ihr hier die Hoffnung auf das vollkommene Glück und die Vereinigung mit Ihm im Himmel.