317. Die Emmausjünger

(Lk 24)

 

I Jesus trifft mit den beiden Jüngern zusammen

Noch am selben Tage wanderten zwei von ihnen nach einem Flecken mit Namen Emmaus, der sechzig Stadien von Jerusalem entfernt war. Sie unterhielten sich miteinander über alles, was sich zugetragen hatte.

Folge den beiden mutlosen Jüngern auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus. Was sprechen sie miteinander? Warum sind sie so betrübt? Ihr Glaube wankt, ihre Hoffnung ist dahin und ihre Liebe erkaltet. Die traurigen Ereignisse der letzten Tage haben all ihre Erwartungen und ihr ganzes Glück zerstört. Sie sind enttäuscht, denn mit Christus ist alles anders gekommen. Sie hatten seinen Triumph erhofft, und nun ließ Er sich von den Feinden ergreifen und kreuzigen. Statt aber die Ereignisse genauer zu prüfen, statt zu ihrem himmlischen Vater zu beten und das heilige Grab aufzusuchen, entfernen sie sich, um ihre Gedanken abzulenken. Sie suchen zu vergessen und wollen ihr altes Leben wieder aufnehmen, das sie verlassen hatten, um damals Jesus nachzufolgen. Kennst du diesen Seelenzustand? Hast du ihn nicht schon an dir erfahren? Lerne hier, wie man sich daraus befreien kann!

Beachte zuerst, daß sie von Jesus sprechen. Wenn auch ihre Liebe zu Ihm erkaltet ist, so ist sie doch noch nicht erloschen. Sie haben Ihm trotz alledem einen Platz in ihrem Herzen bewahrt. Das genügt dem Heiland, um sich ihnen zu nähern und sich ihrer zu erbarmen.

«Während sie sich so miteinander unterhielten und besprachen, nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. Ihre Augen aber waren gehalten, daß sie Ihn nicht erkannten.» Grüße den guten Hirten, der dem verirrten Schaf nachgeht! Sein Herz strömt über von Freude, die Er in alle Menschenherzen ergießen möchte. Er bietet für alle Lebenslagen Licht, Mut und Kraft. Aber warum erkennen die beiden Jünger den Herrn nicht, den sie doch so oft gesehen haben? Weil die Mutlosigkeit, die ihren Glauben verminderte, auch ihre Augen trübte.

Er sprach zu ihnen: «Was sind das für Reden, die ihr auf dem Wege miteinander führt?» Da hielten sie traurig inne. Der eine, namens Kleophas, antwortete ihm: «Bist Du der einzige Fremdling in Jerusalem, der nicht weiß, was dort in diesen Tagen geschehen ist?» Er fragte sie: «Was denn?» Betrachte, wie der Heiland es anstellt, um diesen trostlosen Seelen die verlorene Freude wiederzugeben, ihren Glauben zu wecken und ihre Hoffnung aufzurichten! Zuerst gewinnt Er mit unwiderstehlicher Güte ihr Herz und entlockt ihnen das Geständnis ihrer bitteren Enttäuschung. Beachte auch, wie Jesus von den Ereignissen spricht, als ob Er nichts von alledem wüßte. «Was hat sich denn zugetragen?» fragt Er, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihr Herz ausschütten zu können. — So sollen auch wir Jesus alles sagen, was uns bedrückt, obwohl Er ja schon alles weiß.

 

II Er bestärkt sie im Glauben

«Wir aber hatten gehofft, Er werde Israel erlösen. Und nun ist nach alldem heute schon der dritte Tag, seit dies geschehen ist.»

Die Jünger erzählen dem Heiland vertraulich, was sich zu ihrem Schmerz in Jerusalem ereignet hat. «Wir hatten gehofft!» sagen sie. — Sie hofften nach ihrem Sinn, jetzt hoffen sie überhaupt nicht mehr. Die Dinge haben sich nicht so entwickelt, wie sie es sich vorgestellt hatten. Diese Männer bedenken nicht, daß die Erlösungstat ein Werk der Allmacht ist und daß Gott bei seinen Werken Mittel anwenden kann, die der menschlichen Vernunft und Erfahrung widerstreiten. Sie haben aufgehört zu hoffen, weil sie aufgehört haben zu glauben. Die Mutlosigkeit rührt immer von einem Mangel an Glauben her, wodurch der Mensch die göttlichen Verheißungen vergißt.

Die Jünger berichten weiter: «Zwar haben uns einige von unsern Frauen in Aufregung versetzt. Sie waren frühmorgens am Grabe, fanden aber seinen Leichnam nicht. Sie kamen mit der Kunde, es seien ihnen Engel erschienen, die versichert hätten, daß Er lebe. — Wir möchten wenigstens die Vergangenheit vergessen, aber wir werden stets von neuem daran erinnert. Alles, was wir davon hören, bereitet uns neuen Schmerz. Was für ein Geheimnis liegt alledem zugrunde?»

Ja, es gibt hier ein Geheimnis aufzuklären, und der Augenblick ist gekommen, für immer das Dunkel zu lichten. Den Seelen, die guten Willens sind, wird Jesu Hilfe niemals fehlen. Da sprach Er zu ihnen: «O ihr Unverständigen! Wie schwer wird es eurem Herzen, alles zu glauben, was die Propheten verkündet haben. Mußte der Messias nicht dies alles leiden und so in seine Herrlichkeit eingehen?» Er wirft ihnen vor, daß sie das Geheimnis des Kreuzes nicht verstehen. Sie sind nicht zu entschuldigen nach all den Unterweisungen, die sie von Ihm erhalten hatten. Die göttliche Gerechtigkeit brauchte eine Sühne für die Sünden der Welt, die göttliche Majestät verlangte ein ihrer würdiges Anbetungsopfer, und die Menschen bedurften eines Vorbildes heroischer Tugend. Um diese Bedürfnisse zu erfüllen, hat sich der Sohn Gottes am Kreuz zum Opfer gebracht.

Warum haben die Jünger diese Gründe nicht verstanden? Weil ihr Auge von Tränen verdunkelt und ihr Herz von schmerzlichen Gemütsbewegungen erschüttert war. Sie haben nicht nachgedacht, nicht gebetet und nicht in den heiligen Büchern nachgelesen, wo geschrieben steht, daß Gott Sorge trägt für die Welt, die Er geschaffen hat, und daß seine unendliche Weisheit alle Ereignisse lenkt.

Und Er begann mit Moses und allen Propheten und erklärte ihnen, was in allen Schriften von Ihm geschrieben steht. Folge aufmerksam diesem Unterricht in der Heiligen Schrift, der den Glauben stärkt, die Hoffnung belebt und das Herz zur Liebe entflammt!

 

III Er nimmt ihre Einladung an und offenbart sich ihnen

So kamen sie dem Flecken nahe, dem sie zustrebten. Er tat, als wolle Er weitergehen. Sie aber nötigten Ihn und sagten: «Bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich schon geneigt.»

Versetze dich in die Gemütsverfassung der Jünger! Die Stimme Jesu dringt in ihr Herz wie die Frühlingssonne in die winterliche Erde. Das Feuer der Liebe, das unter der Asche glimmte, wird zu heller Flamme entfacht. Sie wissen nicht, wer derjenige ist, der mit ihnen spricht; aber sie fühlen, daß das, was Er sagt, Wahrheit ist. Sie haben also nichts verloren von dem, was sie beweinen; die Zukunft ist sogar schöner als sie geträumt haben. Jetzt heißt es, die letzten Zweifel zu lösen, die letzten Wolken zu verscheuchen.

Höre, wie sie sich an den Fremdling wenden, der so beglückend wahr geredet hat: «Bleibe bei uns! Vollende das Gute, das Du angefangen hast. Die Nacht bricht herein, sie könnte auch über unsere Seelen hereinbrechen, wenn Du uns verläßt, denn dann würden wir in die Mutlosigkeit zurückfallen.» — Vereinige deine Bitten mit den ihrigen. Bitte Jesus, daß Er sich allen, denen Er Anteil an seinem Leiden gegeben hat, auch in der Herrlichkeit seiner Auferstehung offenbare!

Da kehrte Er mit ihnen ein. Während Er mit ihnen zu Tische saß, nahm Er das Brot, segnete es, brach es und reichte es ihnen. Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten Ihn. Er aber entschwand ihren Blicken. — Nimm auch du an dem Tisch Platz, an den dein Meister sich setzt. Erwecke in deinem Herzen Glaube, Demut und Liebe! Was tut der Heiland? Er spricht nicht mehr, denn Er hat den Seinigen noch Besseres zu geben als sein Wort. Seine Offenbarungen werden vollendet an dem heiligen Tisch, an dem die Jünger Platz genommen haben. Demütige dich, schlage an deine Brust und sprich: «Herr, ich bin nicht würdig!» Empfange aus den Händen Jesu das Brot, das Er gesegnet hat. Es ist das Brot der Auserwählten, das Brot der Starken.

Teile die Freude der beiden Tischgenossen Jesu. Ihre Augen wurden geöffnet, die ewigen Güter sind ihnen wieder geschenkt und der Himmel ist in ihrer Seele. Und sie sagten zueinander: «Brannte nicht das Herz in uns, als Er unterwegs mit uns redete und uns die Schrift erschloß?»

Aber warum entschwindet Jesus? Weil wir Ihn erst im Himmel ganz besitzen können und weil alle seine Gunstbezeugungen hienieden eine Aufforderung sind, für seine Ehre zu kämpfen. Beherzige das und erhebe dich mit den Jüngern. Biete dem Heiland, der zwar deinen Blicken entschwunden, deinem Herzen aber in Wahrheit stets gegenwärtig ist, deine Arbeiten und dein Leben an!