Eine Betrachtung über die göttliche Liebe
«Wie mich der Vater geliebt hat,
so habe ich euch geliebt.
Bleibt in meiner Liebe.» (Joh 15, 9)
Die Liebe ist unsere Vollendung
Im Anschluß an die Betrachtungen über das Leben Jesu zeigt der hl. Ignatius in seinem Exerzitienbüchlein, wie das ganze Erlösungsgeheimnis ein Werk der göttlichen Liebe ist. Die Erkenntnis dieser Liebe Gottes weckt auch in uns die Liebe zu Gott, wie der hl. Johannes betont: «Nicht wir haben Gott geliebt, sondern Er hat uns zuerst geliebt und seinen Sohn als Sühnopfer für unsere Sünden gesandt » (1 Joh 4, 10)
Auch im alltäglichen Leben gibt es Momente, wo uns die Güte und Liebe Gottes aufscheint, sei es durch einen besonderen Gnadenerweis oder auch nur wegen eines Zeichens, das uns Gott schenkt. Dadurch wird die gläubige Seele in Freude und Liebe zu ihrem Herrn und Gott entflammt. Deshalb weist uns der hl. Ignatius an, die Wohltaten und Gnaden Gottes zu bedenken, um auf diese Weise zu dankbarer Liebe zu Gott und zur Hingabe unseres Herzens zu gelangen. Er führt uns über vier Wege oder Stufen zur vollkommenen Gottesliebe.
Die zu erbittende Gnade
Ich erhebe das Herz zu Gott, meinem Herrn, der im Himmel thront,und mit Liebe auf mich schaut. Diese Liebe Gottes ist unendlich wohlwollend und verlangt danach, sich mir mitzuteilen und in mir Gutes zu wirken. Ich bitte um die Gnade, die vielen und so großen Wohltaten, die Er mir erwiesen hat, im Einzelnen zu sehen und zu schätzen, damit ich in ganz dankbarem Anerkennen in allem seine göttliche Majestät lieben und ihr dienen kann.
Erste Erwägung: die Wohltaten Gottes
Gott ist unser größter Wohltäter. Die ganze Welt und alles, was sie enthält, hat Gott für uns und zu unserem Wohl geschaffen.
Die allgemeinen Wohltaten
Wir sollen uns jene Gaben ins Gedächtnis rufen, die Gott allen Menschen schenkt. Die irdische Schöpfung mit den vielen Wundern der Natur, ihren Schönheiten, ihrer Harmonie und ihrer weisen Ordnung. Schaut an einem schönen Tag in die Welt, in das Bilderbuch des lieben Gottes. Betrachtet den Abglanz seiner Schönheit im Großen, in der Majestät der Berge, in der Weite des Meeres, in der Unermeßlichkeit des Firmaments. Die Lieblichkeit im Kleinen, in den Blumen, im duftenden Veilchen, in der Rose, im Edelweiß, in der sprudelnden Quelle, in einem glitzernden Stein. Die Liebe Gottes hat dies alles ersonnen, um uns Freude zu bereiten.
Noch wunderbarer strahlt die göttliche Liebe auf in den übernatürlichen Gnaden: Das Wirken unseres Herrn Jesus Christus, seine Lehre, seine tröstenden Worte, die Wunder und vielen Wohltaten, die Er für uns alle gewirkt hat. Die Fortsetzung des Erlösungswerkes durch die Sakramente, besonders durch die hl. Eucharistie, welche die Sonne unserer Religion ist mit der hl. Messe und ihrem unerschöpflichen Gnadenstrom, das ganze Wirken der Kirche mit ihrem Priestertum, mit ihrer beglückenden Lehre und die Einladung zur ewigen Glückseligkeit! — Gott erweist uns all das als reines Geschenk, denn er schuldet uns überhaupt nichts. Welch unfaßbare Liebe!
Die Gaben, die Gott mir persönlich geschenkt hat
Gott hat gewisse Dinge nur mir allein, vielleicht sogar einmalig und nur für mich geschenkt. So hat er mich ins Leben gerufen und mir durch einen besonderen Schöpfungsakt die unsterbliche Seele eingehaucht, weil Er mich von Ewigkeit her liebt. Er hat mir Talente und Vorzüge geschenkt, die nur mir eigen sind.
Viele Menschen sind unzufrieden, weil sie so sein möchten, wie andere, die sie törichterweise beneiden. Nein, ich muß doch mich selbst sein und mit dem wirken, was Gott in mich hineingelegt hat! Es tut gut, einmal die eigenen guten Eigenschaften näher anzuschauen, um sich in dankbarem Stolz in Gott zu freuen. Da gibt es gewiß natürliche Vorzüge: Fähigkeiten für den Beruf, vielleicht handwerkliche oder gar künstlerische Talente. Oder auch eine besondere Seelenstärke zum Üben der Geduld, der Einfühlung, der Hilfsbereitschaft gegenüber dem Nächsten; vielleicht sogar die Kraft, Leiden und Krankheiten mit Ergebenheit aushalten zu können, und vieles mehr. — Es soll mir bewußt werden: ich bin kein Massenmensch, ich bin als Person vor Gott einzigartig und soll im himmlischen Chor einmal eine eigene, unersetzliche und vollendete Stimme singen!
Noch beglückender ist die Betrachtung der persönlich empfangenen Gnaden
Gott hat mich am Leben erhalten und mir sein göttliches Leben in der Taufe geschenkt. Was Großes ist die Taufgnade: sie ist der Anfang des ewigen Lebens, durch die Taufe bin ich Kind Gottes!
Er hat mir durch meine Eltern den wahren Glauben geoffenbart und bis heute erhalten — eine ganz unverdiente Gnade und eine Auserwählung unter Millionen! Ich durfte gefirmt werden und so oft die heilige Kommunion empfangen! Wer überdies auserwählt ist zur Nachfolge Christi im Ordensstand oder gar im Priestertum, welch ein Glück! Und wie oft hat Gott die Schuld von meiner Seele genommen in der heiligen Beichte. — Wie gut ist doch der Herr, wie unendlich seine Barmherzigkeit!
Er schenkt mir auch seine helfende Gnade auf Schritt und Tritt. Wir könnten ja aus uns selbst nicht einmal etwas Gutes denken wollen, wenn Gott nicht seine Anregung dazu gäbe, geschweige denn etwas Heiliges vollbringen, ohne daß Gott uns stärken und es in uns wirken würde. Ein heiliger Bischof sprach zu seinen Priestern: «Wie werden wir einst staunen im Himmel, wenn wir klar erkennen, wie sehr wir in unserem Leben von Gott abhängig und ganz von ihm umsorgt und getragen waren!»
Wer könnte bei solchen Erwägungen seine Seele der Unzufriedenheit oder gar der Trübsal überlassen?
Betrachten wir die Eigenschaften der göttlichen Liebe:
1. Die Liebe Gottes ist wirksam. Gott zeigt uns seine Liebe nicht nur durch wohlwollende Gedanken, sondern auch durch die Tat. Man denke nur an die unermeßliche Sorgfalt; mit der Gott bei der Schöpfung zu Werke ging, wo Er jedes Atom der kleinsten und größten Geschöpfe geordnet hat. Betrachte das Leben unseres Herrn Jesus Christus, wie Er sich abgemüht hat für uns durch sein Leiden und Sterben.
2. Die Liebe Gottes ist ohne Maß. Er schenkt immer alles und sich selber ganz und gar. Gott behält sich nichts vor, sondern gibt uns als seinen Kindern durch die heiligmachende Gnade ganz Anteil an seiner göttlichen Natur (vgl. 2 Petr 1, 4).
3. Die Liebe Gottes ist unermüdlich. «Da er die Seinen liebte, liebte Er sie bis zur Vollendung.» So sagt der hl. Evangelist Johannes beim Abendmahl vom Herrn (Joh 13, 1). Die göttliche Liebe ist immer tätig und begnügt sich nicht damit, in uns das Gute zu erschaffen, sondern seine Liebe ist erst zufriedengestellt, wenn Er uns im Himmel in seinem ewigen Glück vollendet sieht.
Unsere Antwort auf die göttliche Liebe
Diese Erwägungen sollten uns zeigen, daß sich die Liebe nicht auf fromme Gefühle beschränkt, sondern für den Geliebten tätig werden will. Der hl. Ignatius sagt deshalb: «Ich will mit großer Hingebung erwägen wie Großes Gott unser Herr für mich getan und wie viel Er mir von dem gegeben hat, was Er besitzt, und folgerichtig, wie sehr derselbe Herr danach verlangt, sich selbst mir zu geben, soweit Er es nur vermag gemäß seiner göttlichen Herablassung. Und dann lenke ich meine Gedanken auf mich selbst und erwäge mit viel Begründung und Gerechtigkeit, was ich von meiner Seite seiner göttlichen Majestät anbieten und geben muß, nämlich alles, was ich habe, und mich selbst dazu, wie einer, der es mit großer Hingabe darbietet:
Nimm Dir, Herr, und nimm an meine ganze Freiheit, mein Gedächtnis, meinen Verstand und meinen ganzen Willen, mein ganzes Haben und Besitzen. Du hast es mir gegeben, zu Dir, Herr, wende ich es zurück; das Gesamte ist dein; verfüge nach deinem Willen, gib mir nur deine Liebe und Gnade, das ist mir genug.»
Ja, wer könnte angesichts dieser unendlichen Liebe Gott, dem Herrn, noch etwas verweigern wollen oder Ihm einen Winkel im Herzen verschließen, den wir in falschem Mißtrauen oder Egoismus Gott nicht zu öffnen bereit wären.
Wer wollte sich beschränken und sich nur mit einer mittelmäßigen Frömmigkeit begnügen, anstatt sich in eifrigem Streben und flammender Liebe Gott täglich neu hinzugeben? Wer Gott seinen Willen schenkt, indem er sich immer wieder bemüht, auf den seit der Erbsünde verkehrten Eigenwillen und Eigensinn zu verzichten, der zeigt, daß er Gott wirklich liebt.
Wie sehr müssen wir Gott um die Vermehrung unserer schwachen Liebe bitten, bis die Gottesliebe unsere Eigenliebe überwiegt und wir endlich ohne Wenn und Aber bereit sind zu allem, was Er von uns verlangt.
Zweite Erwägung: die Gegenwart Gottes
In dieser zweiten Stufe betrachten wir, wie Gott als unser Wohltäter uns nicht nur von ferne und unnahbar beschenkt, sondern ganz bei uns ist. Alles Sein erhält Er durch seine geheimnisvolle Gegenwart. Alle Geschöpfe rufen. «Gott ist da!» Durch die wuchtigen Berge erscheint Er uns in seiner Allmacht, in der Blume zeigt Er uns einen kleinen Abglanz seiner Schönheit, durch die Tierlein etwas von seiner Lieblichkeit. Franziskus hat das begriffen: durch alle Wesen der Natur hindurch schaute er Gott. Alle Geschöpfe wurden für ihn zu einem Lobpreis des Herrn. Je höher das Sein, desto intensiver ist seine Gegenwart. Was sollen wir sagen von der unendlichen Herablassung Gottes, da Er nicht nur durch seine Macht, sondern wesenhaft in unserer Seele wohnt und lebt durch die heiligmachende Gnade? «Wir werden kommen und Wohnung bei ihm (in der Seele) nehmen.» (Joh 14, 23) So spricht der Herr selbst. «Und meine Wonne ist es, bei den Menschenkindern zu sein.» (Sprüche 8, 31)
Hier beginnt nun die Freundschaft mit Gott. Meine Antwort sollte sein: Da Gott ganz in mir gegenwärtig ist, so will auch ich leben in seiner Gegenwart und seinem liebenden Blick begegnen, indem ich immer wieder die Sammlung und die innere Stille suche, selbst im Weltgetriebe und in meinen Beschäftigungen. Denn durch seine Gegenwart verlangt Gott auch nach meiner Liebe. So will ich mich ihm weihen und aufs neue betend sprechen: «Nimm hin und nimm Dir, o Herr, meine ganze Freiheit ...»
Dritte Erwägung: das Wirken Gottes für mich
Gott ist in mir gegenwärtig, um zu wirken und tätig zu sein für mich. «In Ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir», sagt Paulus (Apg 17, 27).
Gottes Macht wirkt in allen Geschöpfen. Er gibt der Sonne die Energie, Er sorgt, daß der Baum für mich atmet und Sauerstoff abgibt; seine Kraft belebt die Tiere, damit sie uns nützen. Gott tut dies alles, um mir zu dienen!
Wir haben betrachtet, was der menschgewordene Sohn Gottes alles für uns getan hat. Wie hat Er sich abgemüht für mich und sich ohne Maß hingegeben! «Mein Volk, was habe ich getan für dich; was hätte ich noch mehr tun können und tat es nicht?» spricht das göttliche Herz Jesu.
Und wie wirkt Gott durch seine Vorsehung, wie bemüht Er sich um mich? Wie hat Er mich wunderbar erhalten, mich trotz meiner Irrwege und meiner Untreue langmütig ertragen. Wie oft hat Er mir seine Gnade angeboten. Was mußte Er alles ins Werk setzen, um mich zur wahren Bekehrung zu führen. Wie viele Seelen ließ Er mitwirken und was für Ereignisse hat Er herbeigeführt zu meiner Rettung? Vielleicht mußte Gott Leiden und Prüfungen zulassen, um mich zur Besinnung zu bringen. Immer aber war es seine Liebe, die alles zu meinem Heil lenkte. Ja, wenn ich auch etwas zu leiden habe, so ist es seine Liebe, die mich läutern und heiligen will.
Wie gut ist doch der Herr! — Wie werde ich seine Liebe beantworten? Werde ich mich darauf beschränken, sie wie von ferne zu bewundern?
Nein, auch ich will meine Liebe zu Gott in tätigem Wirken beweisen. Auch ich will Ihm dienen, Ihn loben im Gebet, mich für Ihn abmühen in meinen Standespflichten, in Werken der Nächstenliebe, in der Geduld im Leiden.
So wie Gott liebt und gleichsam im Überfließen seiner Liebe tätig ist für uns, so ähnlich sollen wir immer wieder auf Gottes Liebe schauen und uns dann überlegen, wie auch wir Ihm durch die Liebe Freude machen können.
Vierte Erwägung: die Liebe Gottes selbst
Nachdem wir durch die Erkenntnis der Wohltaten gleichsam nur zu Gott aufgeschaut haben, erheben wir unser Herz, um Gott selbst, den Ursprung alles Guten, zu betrachten. Der hl. Ignatius sagt, wir sollen schauen, wie alles Gut, jede Gabe und alle Vollkommenheit absteigt von oben, von Gott, dem ewigen Sein. Alles Gute, das wir an den Geschöpfen bewundern, wie auch unsere beschränkte Kraft, kommt von der höchsten und unendlichen Vollkommenheit Gottes. All unsere Tugend, unsere Gerechtigkeit, Güte, Frömmigkeit, Barmherzigkeit, usw. kommt von Gott, der die Gerechtigkeit, die Güte usw. selbst ist, ähnlich wie die Strahlen, die von der Sonne ausgehen und wie die Wasser, die vom Quell ausströmen.
Wir sollen nicht bei den Geschöpfen stehenbleiben und uns zu sehr an ihnen ergötzen, sondern uns von ihnen lösen und sie transzendieren, d. h. durch sie zum unvergleichlich höheren, zum ewigen Gut, zu Gott, emporsteigen. Wie könnten wir uns bei schwachen Geschöpfen aufhalten, die nur eine Spur und ein schwaches Abbild der Güte Gottes sind. Wie könnten wir in der Selbstbetrachtung von uns eingenommen bleiben, deren Vollkommenheit im Vergleich zu Gott sich geradezu armselig ausnimmt! «Tu solus sanctus, tu solus Dominus! Du allein bist der Heilige, Du allein bist der Herr!» Ist es denn möglich zu sagen, «ein Geschöpf genügt mir», wenn mir Gott sein Verlangen offenbart, sich als das höchste Gut mir ganz zu schenken? Nein! Wir wollen uns lösen von jeder ungeordneten Anhänglichkeit an ein Geschöpf und an uns selbst.
Wenn es durch die Gnade dieser Betrachtung gelingt, daß die Seele im Staunen und in der Anbetung vor der Unbegreiflichkeit Gottes niedersinkt, einen Strahl seiner Liebe erfährt und Ihn im Innersten der Seele gleichsam berührt, kann sie sprechen:
mit dem heiligen Bruno: «O Bonitas — O Güte!»
mit dem heiligen Franziskus: «Mein Gott und mein Alles!»
mit der heiligen Theresia: «Gott allein genügt!»
mit der allerseligsten Jungfrau Maria: «Magnificat — hochpreiset meine Seele den Herrn!»
Die Erfahrung der Liebe Gottes wird uns helfen, Gott nicht nur aus ganzem Herzen zu lieben, sondern von dieser Liebe beseelt, Ihm zu dienen in der Treue zu seinen Geboten und in der immer wieder erneuerten und gelebten Hingabe unserer selbst.
Die Gottesliebe ist die eigentliche Lebenskunst, die wahre Beseligung und das höchste Glück für uns Menschen.
«Nimm Dir, Herr, und nimm an meine ganze Freiheit, mein Gedächtnis, meinen Verstand und meinen ganzen Willen, mein ganzes Haben und Besitzen. Du hast es mir gegeben, zu Dir, Herr, wende ich es zurück; das Gesamte ist Dein; verfüge nach deinem Willen, gib mir nur Deine Liebe und Gnade, das ist mir genug.»
«Preise meine Seele den Herrn! Alles in mir lobpreise seinen hl. Namen! Preise meine Seele den Herrn, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan!»
(Aus dem 102. Psalm)