Elftes Kapitel

Die Liebe sucht nicht das Ihrige.

Wer den Heiland liebt, sucht sich von allen erschaffenen Dingen loszuschälen.

1. Wer den Heiland von ganzem Herzen lieben will, muß sein Herz von allem losreißen, was nicht Gott, sondern nur seine Eigenliebe verlangt. Dies ist die Bedeutung der Worte: „Die Liebe sucht nicht das Ihrige.“ Sie sucht nicht sich selbst, sondern nur das, was Gott gefällt. Und dies ist es, was Gott von jedem von uns verlangt, da Er spricht: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen“ (Mt 22,37). Um aber Gott aus ganzem Herzen zu lieben, werden zwei Dinge erfordert: man muß vorerst die irdischen Dinge aus dem Herzen hinausschaffen und dann es mit der heiligen Liebe erfüllen. Ein Herz, das noch irgendeine irdische Neigung in sich nährt, kann nie ganz Gott angehören. „So viel Liebe du den Geschöpfen zuwendest, so viel Liebe entziehst Du dem Schöpfer“, sagte der heilige Philipp Neri. Wie kann man aber das Herz von allen irdischen Neigungen reinigen? Man reinigt es durch die Abtötung und durch die Losreißung von allen erschaffenen Dingen. Gewisse Seelen beklagen sich, daß sie Gott suchen und nicht finden können; sie mögen beherzigen, was ihnen die heilige Theresia sagt: „Reiße dein Herz von allen Geschöpfen los und dann suche Gott, und du wirst Ihn finden.“

2. Die Täuschung, von der manche befangen sind, ist die: daß sie heilig werden wollen, aber nach ihrer Weise. Sie wollen den Heiland lieben; aber sie wollen von gewissen Unterhaltungen, von gewissen Eitelkeiten in der Kleidung, von gewissen leckerhaften Speisen nicht lassen. Sie lieben Gott; aber wenn es ihnen nicht gelingt, ein gewisses Amt oder eine gewisse Stellung zu erreichen, sind sie unruhig und unmutig; wenn sie in einem Ehrenpunkte angetastet werden, geraten sie in die äußerste Aufregung; wenn sie von einem körperlichen Leiden, das ihnen Gott geschickt hat, nicht geheilt werden, verlieren sie die Geduld. Sie lieben Gott, aber sie lassen nicht von der Liebe zu den Reichtümern und weltlichen Ehren und von der Eitelkeit, für vornehm, für gelehrt und für besser als andere gehalten zu werden. Solche Personen beten, verrichten Andachtsübungen, gehen zur heiligen Kommunion; da jedoch ihr Herz voll ist von irdischen Neigungen, so haben sie wenig Nutzen davon. Zu solchen Seelen redet der Herr nicht einmal, weil Er weiß, daß seine Worte verloren wären; wie Er dies eines Tages zur heiligen Theresia sagte: „Ich würde zu vielen Seelen reden, aber die Welt macht soviel Geräusch in ihren Ohren, daß sie meine Stimme nicht vernehmen können. O, wenn sie sich doch nur ein wenig von der Welt zurückziehen wollten!“ Wer daher sein Herz an die Güter dieser Welt heftet und es mit irdischen Gelüsten erfüllt hat, ist gar nicht fähig, wenn Gott zu ihm spricht, seine Stimme zu vernehmen; und ist um so mehr zu beklagen, da er leicht dahin kommen kann, daß er zuletzt, von den irdischen Gütern verblendet, selbst jene geringe und unvollkommene Liebe zu Gott, die er noch besitzt, fahren läßt, und um vergängliche Güter nicht zu verlieren, Gott, das unvergängliche und unendliche Gut, für alle Ewigkeit verliert. Die heilige Theresia sagte: „Es ist eine gerechte Strafe, daß wer nach Gütern läuft, die zugrunde gehen, selbst zugrunde geht.“

3. Der Kaiser Tiberius, wie uns der heilige Augustinus berichtet (L.l. cap. 22 de cons.), verlangte von dem römischen Senat, daß Jesus unter die Götter aufgenommen werde; allein der Senat ließ dies nicht zu, weil, wie er sagte, Christus ein hochmütiger Gott sei, Gott, der keine anderen Götter neben sich dulden und ganz allein angebetet werden wolle. Sie sagten die Wahrheit; Gott will allein von uns angebetet und geliebt werden, aber nicht aus Hochmut, was sich von Gott gar nicht sagen läßt, sondern weil Er allein der Anbetung würdig ist, und weil Er uns so sehr liebt. Wegen der großen Liebe, die Er zu uns trägt, will Er alle unsere Liebe, und ist eifersüchtig darauf, daß keine andere Liebe in die Herzen eindringe, die Er ganz für sich haben will. „Jesus ist eifersüchtig“, sagt der heilige Hieronymus, und deshalb will Er nicht, daß wir etwas anderes als Ihn lieben. Und sieht Er, daß ein Herz zwischen Ihm und einem Geschöpfe geteilt ist, so wird er gleichsam neidisch, wie der heilige Apostel Jakobus sich ausdrückt, weil Er keinen Teilnehmer an der Liebe duldet, sondern allein geliebt sein will. „Glaubt ihr, daß die Schrift ohne Grund sagt: Bis zum Neide verlangt nach euch der Geist, der in euch wohnt“ (Jak 4,5). Und in dem Hohenlied sagt der Herr zu seiner Braut, um sie zu loben: „Ein verschlossener Garten bist du, meine Schwester, meine Braut“ (Hl 4,12). Er nennt sie einen verschlossenen Garten, weil eine Seele, die sich Ihm verlobt hat, ihr Herz aller irdischen Liebe verschlossen hält, um darin nur die Liebe zu Jesus zu bewahren. Oder verdient etwa Jesus nicht alle unsere Liebe? Wer dürfte es wagen, daran zu zweifeln? Er verdient sie, weil Er in sich das liebenswürdigste Gut ist, und weil Er uns so sehr liebt. Dies ist es, wovon die Heiligen durchdrungen waren; und darum sagte der heilige Franz von Sales: „Wenn ich wüßte, daß eine Fiber in meinem Herzen nicht für Gott ist, so würde ich sie sogleich herausreißen.“

4. Der königliche Prophet wünschte sich Flügel, die von aller Last irdischer Neigungen befreit sind, um sich aufzuschwingen und in Gott zu ruhen: „Wer gibt mir Flügel wie einer Taube, und ich werde auffliegen und ruhen“ (Ps 54,7). Viele möchten sich von allen irdischen Banden befreit sehen, um zu Gott aufzufliegen, und sie würden in der Tat einen großen Aufschwung zur Heiligkeit machen, wenn sie sich entschließen könnten, sich von allen Dingen dieser Welt loszuschälen; weil sie aber irgendeine kleine ungeordnete Neigung in ihrem Herzen bewahren und keine Gewalt anwenden, um sich davon loszumachen, fahren sie fort, in ihrem Elend zu schmachten, ohne jemals den Fuß von der Erde zu erheben. Der heilige Johannes vom Kreuz sagte: „Eine Seele, die noch an irgend etwas, wie geringfügig es auch sei, eine Anhänglichkeit nährt, mag noch so viele Tugenden besitzen, sie wird dessenungeachtet nie zur Vereinigung mit Gott gelangen. Es kommt nicht darauf an, ob ein angebundener Vogel mit einem groben oder dünnen Faden gebunden ist; denn so lange er den Faden, mag derselbe noch so dünn sein, nicht zerreißt, bleibt er gefangen und kann sich nicht in die Luft erheben.“ Es flößt wahrhaftig Mitleid ein, wenn man gewisse Seelen betrachtet, die viele geistliche Übungen verrichten und reich an Tugenden sind, aber dennoch nicht zur Vereinigung mit Gott gelangen, weil sie nicht den Mut haben, mit einer kleinen Anhänglichkeit ein Ende zu machen. Und doch bedürfte es nur eines einzigen kräftigen Aufschwunges, um den Faden zu zerreißen, der sie gebunden hält; denn ist eine Seele von jeder irdischen Neigung befreit, so ist es gewiß und unfehlbar, daß Gott sich ihr in der vollkommensten Weise mitteilen wird.

5. Wir müssen uns ganz Gott hingeben, wenn wir wollen, daß Gott sich uns ganz hingebe: „Mein Geliebter ist mein und ich bin sein“, sagt die Braut im Hohenlied (Hl 2,16). Mein Geliebter hat sich mir geschenkt, und ich habe mich Ihm geschenkt. Wegen der großen Liebe, die Jesus Christus zu uns trägt, will Er alle unsere Liebe, und so lange Er nicht alle Liebe besitzt, ist Er nicht zufrieden. Die heilige Theresia schreibt an die Oberin eines ihrer Klöster: „Trachten Sie, Seelen zu erziehen, die von allen erschaffenen Dingen losgeschält sind; denn sie werden erzogen, um die Bräute eines eifersüchtigen Königs zu werden, der will, daß sie alles, auch sich selbst vergessen.“ Die heilige Maria Magdalena von Pazzi nahm einer Novizin ein geistliches Buch bloß deshalb, weil sie bemerkte, daß dieselbe eine zu große Anhänglichkeit daran hatte. Es gibt Seelen, die das innerliche Gebet üben, das heiligste Sakrament besuchen, öfters die heilige Kommunion empfangen: weil sie aber dessenungeachtet eine irdische Neigung in ihrem Herzen nähren, machen sie geringe oder gar keine Fortschritte in der Vollkommenheit, und wenn sie in diesem Zustande verharren, werden sie immerfort ein armseliges Leben führen und dabei noch in der Gefahr schweben, am Ende alles zu verlieren.

6. Wir müssen also mit dem Psalmisten Gott bitten, daß Er unser Herz von aller irdischen Zuneigung reinigen wolle. „Ein reines Herz erschaffe in mir, o Gott!“ (Ps 50,12) Sonst werden wir Ihm nie ganz angehören. Der Herr selbst hat es im Evangelium ausgesprochen, daß keiner sein wahrer Nachfolger sein könne, der nicht allen Dingen auf dieser Welt entsagt: „Wer nicht allem entsagt, was er besitzt, kann mein Jünger nicht sein“ (Lk 14,33). Deshalb pflegten die Altväter in der Wüste, wenn ein Jüngling um die Aufnahme bat, ihm die Frage zu stellen: „Bringst du ein leeres Herz mit, damit der Heilige Geist es erfüllen könne?“ Dasselbe sagte der Herr der heiligen Gertrud, als sie Ihn eines Tages bat, auszusprechen, was Er von ihr verlange: „Ich verlange von dir nichts, als ein von allen Geschöpfen entleertes Herz.“ Wir wollen daher mit mutiger Entschlossenheit zu Gott sprechen: Herr, ich ziehe Dich allen Dingen vor: der Gesundheit, den Reichtümern, den Ehren, den Würden, dem Ruhm, den Wissenschaften, allen Tröstungen, Hoffnungen und Wünschen, und selbst den Gnaden und Gaben, die ich von Dir empfangen könnte. Um alles zu sagen: ich ziehe Dich jedem erschaffenen Gute vor, das nicht Du bist, o mein Gott. Außer Dir selbst genügt mir nichts, was Du mir immer geben mögest; Dich allein verlange ich, sonst nichts.

7. In ein Herz, das von aller Liebe zu erschaffenen Dingen gereinigt ist, geht der Herr sogleich ein, um es mit seiner heiligen Liebe zu erfüllen. „Sobald alle Gelegenheiten, welche die Seele von Gott abziehen, entfernt sind, wendet sie sich sogleich der Liebe Gottes zu“, sagt die heilige Theresia. Und dies darum, weil die Seele nicht leben kann, ohne zu lieben; sie muß lieben, entweder den Schöpfer oder die Geschöpfe, und wenn sie diese nicht liebt, wird sie ganz gewiß den Schöpfer lieben. Mit einem Worte, man muß allem entsagen, um alles zu gewinnen. „Alles für alles“, sagt Thomas von Kempen. Solange die heilige Theresia in ihrem Herzen eine, wenn auch ganz reine Zuneigung zu einem ihrer Verwandten nährte, gehörte sie nicht ganz Gott an; erst nachdem sie einen mutigen Entschluß gefaßt und von dieser Anhänglichkeit sich losgerissen hatte, war sie würdig, die Worte des Herrn zu vernehmen: „Nun, Theresia, bist du ganz mein und ich ganz dein!“ Ein Herz ist zu wenig, um einen so liebreichen und liebenswürdigen Gott zu lieben, der eine unendliche Liebe verdient: und wir wollen dieses Herz noch zwischen Ihm und den Geschöpfen teilen? Der ehrwürdige Ludwig de Ponte scheute sich zu sagen: Herr, ich liebe Dich mehr als alle Dinge, mehr als alle Reichtümer und Ehren, mehr als meine Verwandten und Freunde; denn es schien ihm, als sagte er damit nur: Herr, ich liebe Dich mehr als Kot und Rauch, und mehr als die Würmer dieser Erde.

8. Der Prophet Jeremias sagt, daß der Herr ganz Güte ist gegen diejenigen, die Ihn suchen: „Gut ist der Herr der Seele, die Ihn sucht“ (Klgl 3). Darunter ist aber jene Seele zu verstehen, die Gott allein sucht. O seliger Verlust, o seliger Gewinn, o seliger Tausch, wodurch man die Güter dieser Welt verliert, die das Herz nicht auszufüllen vermögen und schnell vorübergehen, um ein unendliches und unvergängliches Gut, um Gott zu gewinnen! Von einem frommen Einsiedler wird erzählt, daß er von einem Fürsten, der bei Gelegenheit einer Jagd ihn im Walde hin- und hergehen sah, gefragt wurde, wer er sei und was er hier tue. Der Einsiedler, statt zu antworten, fragte seinerseits: Herr, was machst du denn in dieser Wildnis? Ich jage nach dem Wilde, sprach der Fürst. Und ich, entgegnete der Einsiedler, jage nach Gott, und damit setzte er seinen Weg fort. So soll auch unser ganzes Denken und Streben auf dieser Welt dahin gerichtet sein, alle Liebe zu den Geschöpfen von uns ferne zu halten, um Gott aufzusuchen, um Ihn zu lieben, und seinen heiligsten Willen zu vollbringen. Und wenn irgendein irdisches Gut sich uns vorstellt, und sich um unsere Liebe bewirbt, sollen wir bereit sein, zu sprechen, wie es in den kirchlichen Tagzeiten heißt: „Das Reich der Welt und alle zeitliche Pracht habe ich verachtet um der Liebe meines Herrn Jesu Christi willen.“ Und was ist alle Ehre und Größe dieser Welt anderes als Kot, Rauch und Eitelkeit, die im Augenblicke des Todes verschwinden und sich in nichts auflösen. Glücklich, wer sagen kann: Mein Jesus, aus Liebe zu Dir habe ich alles verlassen; Du bist meine einzige Liebe, Du allein bist mir genug.

9. Wenn die göttliche Liebe eine Seele vollkommen in Besitz genommen hat, dann trachtet sie von selbst, mit dem Beistand der göttlichen Gnade sich aller irdischen Dinge zu entäußern, die sie daran hindern könnten, Gott ganz anzugehören. Der heilige Franz von Sales sagt: Wenn ein Haus in Feuer steht, so wirft der Eigentümer seine Habe zum Fenster hinaus, das heißt: wenn eine Seele von dem Feuer der göttlichen Liebe entzündet ist und sich ganz Gott geschenkt hat, so sucht sie von selbst, ohne von Predigern oder Beichtvätern aufgemuntert zu sein, sich aller irdischen Anhänglichkeiten zu entledigen. Die göttliche Liebe, wie P. Segneri der Jüngere sagt, ist ein Räuber, der uns zu unserem Heile alles raubt, was wir besitzen, damit wir Gott allein besitzen mögen. Ein frommer Mann hatte sich aller seiner Habe entäußert, um aus Liebe zu Jesus Christus arm zu sein; als er nun von einem Freunde gefragt wurde, wie er in solche Armut geraten sei, zog er ein Evangelienbuch aus der Tasche und sprach: „Hier kannst du sehen, wer mir alles geraubt hat. Der Heilige Geist sagt: 'Wenn der Mensch alle Habe seines Hauses für die Liebe hingegeben hat, so wird er es für nichts achten'„ (Hl 8,7). Wenn eine Seele alle ihre Liebe Gott zugewendet hat, so achtet sie alles für nichts, die Reichtümer, Ehren und Freuden dieser Welt, die Herrschaft und selbst die Krone sind ihr nichts; sie will nur Gott und spricht und wiederholt immerfort: Mein Gott, Dich allein will ich und sonst nichts anderes! Der heilige Franz von Sales sagt: „Die reine Liebe Gottes verzehrt alles, was nicht Gott ist, um alles in Liebe umzuwandeln; denn alles, was für Gott geschieht, ist Liebe.“

10. Die heilige Braut im Hohenlied sagt: „Er führte mich in den Weinkeller, Er ordnete in mir die Liebe“ (Hl 2,4). Dieser Weinkeller, sagt die heilige Theresia, ist die göttliche Liebe; wenn sie von einem Herzen Besitz genommen hat, berauscht sie es dergestalt mit Liebe, daß es alle Geschöpfe vergißt. Ein Berauschter ist, was seine Sinne betrifft, wie ein Toter: er sieht nicht, er hört nicht und spricht nicht; ebenso gerät die von der göttlichen Liebe berauschte Seele in einen Zustand, wie wenn sie für die Dinge dieser Welt keine Sinne mehr hätte: sie will an nichts mehr denken als an Gott, von nichts mehr sprechen als von Gott, nichts mehr tun, als Gott lieben und ihm wohlgefällig werden. Im Hohenlied befiehlt der Herr, seine schlafende Braut nicht zu wecken: „Weckt die Geliebte nicht und laßt sie nicht aufwachen“ (Hl 2,7). Dieser selige Schlummer, sagt der heilige Basilius, welchen die mit Jesus verlobten Seelen genießen, ist nichts anderes als ein äußerstes Vergessen aller Dinge: eine freiwillige und auf Tugend gegründete Vergessenheit alles Erschaffenen, um auf Gott allein aufzumerken und mit dem heiligen Franziskus ausrufen zu können: „Mein Gott und mein alles!“ O mein Gott, was sind alle Reichtümer, Ehren, Freuden und Güter dieser Welt? Du bist mir alles in allem! „0 wie süß sind die Worte: mein Gott und mein alles“, sagt Thomas von Kempen, „wer sie versteht, dem ist damit alles gesagt, und dem Liebenden klingen sie so süß, daß er nicht müde wird, zu wiederholen: Mein Gott und mein alles, mein Gott und mein alles!“

11. Um also zu einer vollkommenen Vereinigung mit Gott zu gelangen, wird eine gänzliche Losschälung von den Geschöpfen erfordert, und wenn wir ins einzelne gehen, so ist vorerst notwendig, sich von aller ungeordneten Anhänglichkeit an die Verwandten loszusagen. Der Herr sagt im Evangelium: „Wenn jemand zu mir kommt und nicht seinen Vater und seine Mutter und seine Frau haßt und überdies noch seine Seele, der kann mein Jünger nicht sein“ (Lk 14,26). Und wie und warum sollen wir sie hassen? Weil und insofern wir, was unser Seelenheil betrifft, oft keine größeren Feinde haben als unsere Verwandten. „Des Menschen Feinde werden seine Hausgenossen sein“ (Mt 10,36). Der heilige Karl Borromäus sagte, daß er jedesmal, wenn er seine Verwandten besuchte, in dem Geiste der Andacht und in der Liebe zu Gott sich erkaltet gefühlt habe. Und als man den Pater Antonio Mendozza eines Tages fragte, warum er es so sehr vermeide, seine Verwandten zu besuchen, antwortete er: „Weil ich aus Erfahrung weiß, daß Ordensleute an keinem Orte so sehr den Geist der Andacht verlieren, als in dem Hause ihrer Verwandten.“

12. Wenn es sich ferner um die Standeswahl handelt, so ist es gewiß, wie der heilige Thomas lehrt (IIII, 10, 5), daß wir unseren Eltern keinen unbedingten Gehorsam schuldig sind. Wenn ein Jüngling sich zum Ordensstand berufen fühlt, und seine Eltern sich widersetzen, so ist er verpflichtet, Gott zu gehorchen und nicht den Eltern, die sich nur wegen des zeitlichen Vorteils oder aus persönlichen Rücksichten widersetzen; wie gleichfalls der heilige Thomas sagt: „Oft sind unsere Freunde dem Fleische nach die Gegner unseres geistlichen Wohles“ (IIII, 189, 10). Und der heilige Bernhard sagt: Sie wollen lieber, daß ihre Kinder ewig verloren gehen, als daß sie das elterliche Haus verlassen.

13. Man muß in der Tat staunen, wenn man sieht, wie so viele Väter und Mütter, selbst wenn sie sonst gottesfürchtig sind, von der Leidenschaft verblendet, alle möglichen Anstrengungen machen und kein Mittel unversucht lassen, um den Beruf eines Sohnes zu verhindern, der in den Ordensstand eintreten will; was, seltene Fälle ausgenommen, von einer schweren Sünde nicht entschuldigt werden kann. Man wird vielleicht dagegen einwenden: Kann denn ein solcher Jüngling nicht selig werden, wenn er nicht den Ordensstand ergreift? Und gehen denn alle zugrunde, die in der Welt bleiben? Ich antworte: Diejenigen, die nicht von Gott zum Ordensstand berufen sind, wirken in der Welt ihr Heil, wenn sie die Pflichten ihres Standes erfüllen: diejenigen aber, welche berufen sind und die dem Rufe Gottes nicht folgen, könnten zwar ihr Heil wirken, aber sie werden es sehr schwer wirken, weil ihnen die besonderen Gnadenhilfen fehlen, die Gott ihnen im Ordensstand vorbereitet hatte und ohne welche sie das Ziel schwerlich erreichen werden. Ein ausgezeichneter Theologe sagt: „Wer dem Rufe Gottes nicht folgt, wird nur mit großen Schwierigkeiten sein Heil wirken, und immer in dem Körper der Kirche wie ein aus seiner Lage gebrachtes und verunstaltetes Glied sein, das kaum noch Dienste leisten kann.“ Und er macht dann den Schluß: „Obwohl er, wenn man die Sache an und für sich betrachtet, selig werden kann, so wird er doch schwerlich den rechten Weg einschlagen und die zu seinem Heile nötigen Mittel ergreifen“ (Habert, De Ordine cap. 1 § 5).

14. Ludwig von Granada vergleicht die Standeswahl mit dem Hauptrad in einer Uhr. Wenn an dem Hauptrad etwas fehlt, so ist die ganze Uhr in ihrem Laufe gestört, und ebenso verhält es sich, was unser Seelenheil betrifft, mit der Standeswahl: ist hierin gefehlt worden, so gerät auch unser ganzer Lebenslauf in Unordnung. Wie viele arme Jünglinge haben durch die Schuld ihrer Eltern ihren Beruf verloren, nahmen dann ein übles Ende und waren manchmal sogar die Ursache, daß ihre ganze Familie ins Verderben gestürzt wurde. Ein Jüngling war auf Antrieb seines Vaters seinem Berufe zum Ordensstand untreu, geriet aber in der Folge eben mit seinem Vater in Uneinigkeit, und es kam so weit, daß er ihn in einer Aufwallung des Zornes erschlug, worauf er der Gerechtigkeit überliefert und hingerichtet wurde. Ein anderer, der sich in einem Seminar befand, wurde gleichfalls von Gott berufen, die Welt zu verlassen; da er sich aber nicht entschließen wollte, diesem Rufe zu folgen, setzte er zuerst seine gewohnten Andachtsübungen, das Gebet und die Kommunion bei Seite, fiel dann in grobe Laster, und das Ende war: daß er von einem Nebenbuhler überfallen und ermordet wurde, als er nachts aus dem Hause einer schlechten Weibsperson trat. Es eilten zwar einige Priester herbei, um ihm im Sterben beizustehen, allein er war schon tot. O wie viele ähnliche Beispiele könnte ich erzählen!

15. Kehren wir aber zu unserem Gegenstand zurück. Der heilige Thomas ermahnt diejenigen, welche sich zu einem vollkommenen Leben berufen fühlen, sich hierüber nicht mit ihren Eltern zu beraten: „Von einer solchen Beratung sind die Verwandten dem Fleische nach ferne zu halten... denn sie sind in einer solchen Angelegenheit nicht unsere Freunde, sondern unsere Feinde, nach dem Ausspruch des Herrn: Des Menschen Feinde sind seine Hausgenossen“ (Opusc.17, c.7). Sind aber die Kinder, wo es sich um den Beruf zu einem vollkommeneren Leben handelt, nicht verpflichtet, sich mit ihren Eltern zu beraten, so sind sie noch viel weniger verpflichtet, ihre Erlaubnis abzuwarten, ja sie sind nicht einmal schuldig, sie anzusuchen, wenn sie mit Wahrscheinlichkeit voraussehen, daß die Eltern sie ihnen ungerechterweise verweigern und sodann ihren Beruf verhindern würden. Der heilige Thomas von Aquin, Petrus von Alcantara, Franziskus Xaverius, Ludwig Bertrand und so viele andere sind in den Ordensstand eingetreten, ohne früher ihre Eltern auch nur verständigt zu haben.

16. Gleichwie aber große Gefahr läuft, zugrunde zu gehen, wer seinen Eltern zu Gefallen seinem Berufe zum Ordensstand nicht folgt, so ist diese Gefahr nicht minder groß, wenn jemand, um den Wünschen seiner Eltern zu willfahren, den geistlichen Stand ergreift, ohne hierzu von Gott berufen zu sein. Die Zeichen aber, an welchen man den wahren Beruf zu diesem erhabenen Stand erkennt, sind folgende drei: Wissenschaft, die reine auf Gott gerichtete Absicht und ein guter und frommer Lebenswandel. Was insbesondere den Lebenswandel betrifft, so verordnet das Konzil von Trient: „Zu Subdiakonen und Diakonen sollen nur solche geweiht werden, die ein gutes Zeugnis haben und in den niederen Weihen sich erprobt haben“ (Sess.23, cap.13). Dasselbe hatte das kanonische Recht schon früher angeordnet: „Keiner soll geweiht werden, der nicht erprobt würde“ (Can.nullus.dist.24). Es ist zwar hier zunächst von der äußerlichen Prüfung die Rede, welche die Bischöfe hinsichtlich des Lebenswandels der Ordinanden anzustellen haben; allein es kann keinem Zweifel unterliegen, daß das Konzil, nicht nur die äußerliche, sondern auch die innerliche Erprobtheit verlangt, weil jene ohne diese ein Betrug wäre. Dies geht auch daraus hervor: weil das Konzil, nachdem es das erforderliche Lebensalter für den Empfang der höheren Weihen festgesetzt hat, beifügt: „Die Bischöfe sollen jedoch wissen, daß sie nicht alle, die dieses Alter erreicht haben, zu diesen Weihen zulassen sollen, sondern nur diejenigen, die es würdig sind, und deren bewährter Lebenswandel so viel ist wie das höhere Alter“ (Sess.23, cap.12). Und um den Lebenswandel der Ordinanden noch besser erproben zu können, hat das Konzil bekanntlich auch die sogenannten Interstitien oder die Zwischenräume zwischen dem Empfang der einzelnen Weihen festgesetzt: „Damit sie mit dem Alter an Verdiensten und an Wissenschaft zunehmen.“

17. Der heilige Thomas gibt noch näher den Grund an, warum ein bewährter Lebenswandel erfordert wird und warum der geistliche Stand eine größere Heiligkeit als der Ordensstand verlangt: „Weil man durch jede heilige Weihe zu den erhabensten Ämtern bestimmt wird, in welchen man dem Herrn selbst in dem Sakramente des Altars dient; wozu eine größere innerliche Heiligkeit erfordert wird, als der Ordensstand verlangt.“ Ferner sagt er an einem anderen Ort, daß die Weihen die Heiligkeit im voraus verlangen (wo er also offenbar nicht von den bereits Geweihten, sondern von jenen spricht, welche die Weihen erst empfangen sollen), und legt zugleich den Unterschied dar, der in dieser Beziehung zwischen dem geistlichen und dem Ordensstand besteht. Wir lassen seine Worte folgen: „Die heiligen Weihen verlangen im voraus die Heiligkeit, der Ordensstand aber ist ein Stand der Übung, um zur Heiligkeit zu gelangen; die Last der Weihen ist daher auf Mauern zu legen, die durch die Heiligkeit bereits ausgetrocknet sind, während die Last des Ordensstandes die Mauern erst austrocknet, das heißt: die Menschen von der Feuchtigkeit ihrer bösen Neigungen und Gewohnheiten befreit.“ Dasselbe sagt der englische Lehrer auch noch an einem anderen Orte: „Gleichwie diejenigen, welche die Weihen empfangen, dadurch eine Stufe höher gestellt werden als das Volk der Gläubigen, so sollen sie dem Volke auch in dem Verdienst der Heiligkeit vorangehen. Und dieses Verdienst fordert der Heilige schon vor der Weihe, weil er es für notwendig erklärt, nicht bloß um die Ämter und Verrichtungen der erhaltenen Weihe würdig auszuüben, sondern auch um würdig zu sein, in die Zahl der Diener Jesu Christi aufgenommen zu werden: „Und darum wird eine Gnade (d.h. ein Stand der Gnade und des Verdienstes) erfordert, die hinreicht, um sie würdig zu machen, den Dienern Christi beigezählt zu werden.“ Sodann fügte er bei: „Bei dem Empfang der Weihe aber wird ihnen eine reichlichere Gnadengabe verliehen, durch welche sie die Fähigkeit zu größeren Dingen erlangen“ (HI suppl., 35, 1 ad 3). Hier sind die Worte: „zu größeren Dingen“ wohl zu beachten. Damit erklärt der englische Lehrer, daß der Ordinand zwar schon vor der Ordination Gnaden und Verdienste besitzen müsse, die hinreichen, um ihn der Aufnahme unter die Diener Christi würdig zu machen, daß ihm aber dessenungeachtet, wenn er die Weihe empfängt, die Gnade des Sakramentes nicht unnütz sein werde, weil sie ihm größere Gnadenhilfe verleihen wird, um ihn fähig zu machen, sich noch größere Verdienste zu erwerben.

18. Ich habe mich in meiner Moraltheologie (L.6, c.2, n.63) ausführlich über diesen Gegenstand ausgesprochen und bewiesen, daß diejenigen, welche eine heilige Weihe empfangen, ohne sich früher durch eine längere Erfahrung in einem tugendhaften Lebenswandel bewährt zu haben, von einer schweren Sünde nicht entschuldigt werden können, weil sie in einen so erhabenen Stand eintreten, ohne von Gott berufen zu sein; denn unmöglich kann von einem göttlichen Berufe die Rede sein, wenn einer zu den heiligen Weihen hinzutritt und von einem Laster, das ihm zur Gewohnheit geworden ist, noch nicht befreit ist; besonders wenn es sich um die Unkeuschheit handelt. Ein solcher kann allerdings fähig sein, das Sakrament der Buße zu empfangen, wenn er sich durch eine aufrichtige Reue gehörig hierzu vorbereitet hat; allein deshalb ist er noch nicht fähig, in diesem Zustand die heiligen Weihen zu empfangen, weil hierzu ein tugendhafter Lebenswandel, der sich durch längere Zeit bewährt hat, erfordert wird. Wer dessenungeachtet in einem solchen Zustand zu den heiligen Weihen hinzutritt, kann von einer schweren Schuld nicht frei gesprochen werden: vorerst wegen der schweren Vermessenheit, mit welcher er sich ohne göttlichen Beruf in das heilige Amt eindrängt; wie der heilige Anselm bezeugt: „Wer sich eindrängt und seine eigene Ehre sucht, begeht einen Raub an der Ehre Gottes und empfängt keinen Segen, sondern den Fluch.“ Sodann weil er sich einer großen Gefahr, ewig zugrunde zu gehen, aussetzt; wie der Bischof Abelly bezeugt: „Wer wissentlich, ohne sich um den göttlichen Beruf zu kümmern (wie dies derjenige tut, der von einer sündhaften Gewohnheit noch nicht befreit ist, und dennoch die heiligen Weihen empfängt) in das Priestertum eindrängt, stürzt sich ohne Zweifel in die augenscheinliche Gefahr, verloren zu gehen.“ Dasselbe sagt Soto, wo er von den heiligen Weihen handelt und die positive Heiligkeit der Ordinanden für ein göttliches Gebot erklärt: „Wiewohl reine und tadellose Sitten nicht zur Wesenheit des Sakramentes gehören, so sind sie doch notwendig wegen des göttlichen Gebotes... Die Erfordernisse aber, welche für die Ordinanden festgestellt sind, bestehen nicht bloß in jener allgemeinen Vorbereitung und Verfassung, die zum Empfang eines jeden Sakramentes erfordert wird, um der sakramentalen Gnade kein Hindernis entgegen zu setzen; denn da man bei diesem Sakrament nicht bloß die Gnade zur standesmäßigen Heiligkeit empfängt, sondern auch auf eine höhere Stufe erhoben wird, so wird hierzu Reinheit der Sitten und der Glanz der Tugenden verlangt“ (In 4. Sent. dist.2, qu.l, n.3). Dasselbe sagt Sanchez (Consil. cap.l, cl. 46, n. 1); dasselbe Holzmann (De Sacr. Ord.); dasselbe sagen die Salmantizenser (De Sacr. Ord. c.5. n.46): und so ist das, was ich in meiner Moraltheologie behauptet habe, nicht bloß die Meinung eines einzelnen Autors, sondern die allgemeine Meinung, die sich auf die Lehre des heiligen Thomas gründet.

19. Es lädt aber nicht nur der Ordinand eine schwere Schuld auf sich, der sich weihen läßt, ohne durch längere Zeit in einem tugendhaften Wandel verharrt zu haben, sondern auch der Bischof, der ihn weiht, ohne sich früher durch eine genaue Untersuchung über den Lebenswandel des Ordinanden eine moralische Gewißheit verschafft zu haben. Dieselbe schwere Schuld lädt ferner der Beichtvater auf sich, welcher einen Ordinanden losspricht, der die Weihen empfangen will, bevor eine längere Erfahrung seine gänzliche Heilung von einer Gewohnheitssünde bewiesen hat. Endlich begehen auch jene Eltern eine schwere Sünde, welche, obgleich ihnen die üble Aufführung ihrer Söhne bekannt ist, sich dennoch bemühen, sie weihen zu lassen, damit sie dann ihre Familie unterstützen. Jesus Christus hat den geistlichen Stand nicht eingesetzt, um weltliche Familien zu unterstützen, sondern um die Ehre Gottes und das Heil der Seelen zu befördern. Manche sehen den geistlichen Stand wie ein weltliches Amt oder Gewerbe an, durch welches man zu Ehren und zeitlichen Gütern gelangt; allein sind sie in einem großen Irrtum. Wenn daher Väter oder Mütter den Bischof mit der Bitte belästigen, einem unwissenden oder sittenlosen Sohn die heiligen Weihen zu erteilen, und als Grund anführen, daß sie arm seien und daß sie sich sonst nicht zu helfen wüßten, so soll ihnen der Bischof antworten: Nein, meine Lieben, der geistliche Stand ist nicht dazu da, um arme Familien zu versorgen, sondern er ist zum Wohle der Kirche eingesetzt. Und mit diesem Bescheid soll er sie für immer abweisen und ihnen weiter kein Gehör geben; denn solche unwürdigen Subjekte richten dann gewöhnlich nicht nur ihre eigenen Seelen zugrunde, sondern sie ziehen auch noch die Seelen ihrer Verwandten und des Ortes, wo sie sich aufhalten, in das Verderben.

20. Was ferner die Priester betrifft, die bei ihren Familien leben und öfters von ihren Verwandten aufgefordert werden, sich nicht so sehr auf die Verrichtung ihres heiligen Amtes als vielmehr darauf zu verlegen, der Familie Ehre und Einkünfte zu verschaffen, so sollen sie auf ein solches Ansinnen das antworten, was der Herr der heiligsten Jungfrau und dem heiligen Joseph sagte, als sie ihn im Tempel fanden: „Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?“ (Lk 2,19). Sie sollen daher antworten: Ich bin Priester; meines Amtes ist es nicht, Geld zu gewinnen und Ehre zu erwerben, auch nicht, die Geschäfte des Hauses zu führen, sondern ein eingezogenes Leben zu führen, zu beten, zu studieren und für das Heil der Seelen zu arbeiten. Und wenn eine eigentliche Notwendigkeit eintritt, der Familie zu Hilfe zu kommen, so sollen sie tun, was sie können, aber ohne deshalb zu unterlassen, ihre erste und vornehmste Pflicht zu erfüllen: an ihrer eigenen und an der Heiligung des Nächsten zu arbeiten.

21. Wer Gott ganz angehören will, muß ferner von allem Verlangen, von der Welt hochgeachtet und geehrt zu werden, losgeschalt sein. O wie viele verleitet diese unselige Ehrsucht, von den Wegen Gottes abzuweichen, und wie viele, Ihn ganz zu verlassen! Wenn sie z. B. hören, daß man von einem Fehler spricht, den sie begangen haben, was tun sie nicht alles, um sich zu rechtfertigen und glauben zu machen, daß alles falsch und bloße Verleumdung sei. Wenn sie dagegen etwas Gutes getan haben, wie bemühen sie sich nicht, es allenthalben auszuposaunen? Sie möchten, daß es die ganze Welt erfahre, und sie deshalb lobe. Die Heiligen tun gerade das Gegenteil; sie möchten, daß die ganze Welt ihre Fehler erfahre, damit man sie für das halte, für was sie sich selbst halten. Wenn sie dagegen ein gutes Werk verrichtet haben, so möchten sie, daß Gott allein es wisse, weil sie nur Gott zu gefallen suchen. Dies ist auch der Grund, warum sie so sehr das verborgene Leben lieben, eingedenk der Worte des Herrn im Evangelium: „Wenn du aber Almosen gibst, so soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut. Und: Wenn du betest, gehe in deine Kammer und schließe die Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen“ (Mt 6,3.6).

22. Vor allem aber muß man von sich selbst, das heißt: von seinem eigenen Willen losgeschält sein. Wer gelernt hat, sich selbst zu überwinden, wird jeden anderen Widerstand mit Leichtigkeit besiegen. „Überwinde dich selbst“, war der Rat, den der heilige Franziskus allen gab, die sich an ihn wandten. Und der Herr selbst sagt: „Wenn mir jemand nachfolgen will, so verleugne er sich selbst“ (Mt 16,24). Hier haben wir kurzgefaßt vor Augen, was wir tun müssen, um uns zu heiligen: wir müssen uns selbst verleugnen und unserem eigenen Willen nicht folgen: „Gehe deinen Begierden nicht nach und wende dich ab von deinem eigenen Willen“ (Eccl 18,30). „Die größte Gnade“, sagt der heilige Franziskus von Assisi, „die einer von Gott erhalten kann, ist die: sich selbst zu überwinden und seinen Willen zu verleugnen.“ „Laßt die Menschen ihren Eigenwillen ablegen, und es wird für sie keine Hölle geben“, ist ein Ausspruch des heiligen Bernhard. Ein anderer Ausspruch desselben Heiligen lautet: „Ein großes Übel ist der Eigenwille; denn er macht, daß das Gute, das du tust, für dich kein Gutes ist.“ Wenn z.B. jemand gegen den Willen seines geistlichen Führers fasten, die Disziplin nehmen oder eine andere Abtötung verrichten wollte, so wäre diese Abtötung, durch die er nur seinen eigenen Willen befriedigt, für ihn kein gutes Werk, sondern vielmehr ein Fehler. O welch ein elendes Leben führt derjenige, der ein Sklave seines Eigenwillens ist; denn er wird sich viele Dinge wünschen, die er nicht erreichen kann, und im Gegenteil wird er vieles, was ihm mißfällt, nicht erdulden wollen und es doch tragen müssen: „Woher Krieg und Streit in euch? Kommt er nicht von euren Gelüsten, die in euren Gliedern streiten? Es gelüstet euch, und ihr erreicht es nicht“ (Jak 4,1.2). Der Krieg kommt vorerst von den Gelüsten nach sinnlichen Vergnügungen: beseitigen wir die Gelegenheiten, halten wir unsere Augen in Zucht, empfehlen wir uns dem Schutze Gottes, und der Krieg wird aufhören. Der Krieg kommt ferner vom Ehrgeiz: lieben wir die Demut und das verborgene Leben, und der Krieg wird aufhören. Der Krieg, und zwar der gefährlichste, kommt endlich von dem Eigenwillen: ergeben wir uns in allem, was uns begegnet, in den Willen Gottes, und der Krieg wird aufhören. Wenn wir jemanden unruhig und verwirrt sehen, so können wir, wie der heilige Bernhard sagt, immer den Schluß machen, daß die Ursache die sei: weil sein Eigenwille nicht befriedigt wurde: „Woher alle Unruhe, als weil wir unserem eigenen Willen folgen.“ Dies ist es auch, worüber sich der Herr einmal in einem Gespräch mit der heiligen Maria Magdalena von Pazzi beklagte: „Gewisse Seelen verlangen mit meinem Geiste erfüllt zu werden, aber sie wollen dies in der Art und Weise, die ihnen gefällt, und dadurch machen sie sich unfähig, ihn zu empfangen.“

23. Man muß also Gott auf die Weise lieben, wie es Ihm gefällt, und nicht, wie es uns gefällt. Gott will, daß die Seele sich aller Dinge entäußere, damit Er sie mit sich vereinigen und mit seiner heiligen Liebe erfüllen könne. Die heilige Theresia sagt in dieser Beziehung: „Das Gebet der Vereinigung scheint mir nichts anderes zu sein als ein Absterben für alle Dinge dieser Welt, um nur Gott allein zu besitzen. So viel ist gewiß: je mehr wir uns aus Liebe zu Gott von den Geschöpfen losschälen, und je mehr wir unser Herz von allen Geschöpfen entleeren, desto mehr wird es mit Gott erfüllt werden, und desto mehr werden wir mit Gott vereinigt sein.“ Viele Personen, die ein geistliches Leben führen, möchten zur Vereinigung mit Gott gelangen; aber dann wollen sie nicht die Widerwärtigkeiten, die Gott ihnen zuschickt; sie wollen die Krankheiten und körperlichen Übel nicht, an denen sie zu leiden haben; sie wollen die Armut nicht, die sie bedrückt, sie wollen die Unbilden nicht, die ihnen zugefügt werden: wenn sie sich jedoch nicht entschließen, sich in alles zu ergeben, werden sie niemals zur vollkommenen Vereinigung mit Gott gelangen. Ich kann nicht umhin, hier nochmals anzuführen, was die heilige Katharina von Genua hierüber sagt: „Um zur Vereinigung mit Gott zu gelangen, sind Leiden und Widerwärtigkeiten notwendig; denn sie sind die Mittel, deren sich Gott bedient, um uns von unseren bösen Gelüsten und ungeordneten Neigungen nach innen und nach außen zu reinigen. Verachtung, Beschimpfung, Abwendung unserer nächsten Verwandten und Freunde, Beschämungen, Versuchungen und ähnliches sind die Mittel, deren wir bedürfen, um durch unablässige Kämpfe und Siege alle bösen Gelüste in uns zu ersticken und aus unseren Herzen hinauszuschaffen. Solange wir nicht dahin gelangt sind, daß uns die Widerwärtigkeiten nicht mehr bitter, sondern Gott zuliebe süß vorkommen, werden wir die vollkommene Vereinigung mit Gott nicht erreichen.“

24. Ich füge noch die praktische Lehre bei, die uns der hl. Johannes vom Kreuz über diesen Gegenstand gibt. Er sagt: Um zur vollkommenen Vereinigung mit Gott zu gelangen, „bedarf es einer gänzlichen Abtötung der Sinne und der Neigungen. Was die Sinne betrifft, so muß jede Befriedigung, die nicht rein zur größeren Ehre Gottes gereicht, aus Liebe zu Jesus Christus sogleich zurückgewiesen werden. Wenn uns z. B. die Lust anwandelt, Dinge zu sehen oder zu hören, die uns nicht zu Gott führen, so müssen wir sie sogleich unterdrücken. Was ferner die Neigungen betrifft, so müssen wir uns bemühen, allezeit mehr zu dem geneigt zu sein, was das schlechtere ist, was uns unangenehm ist und was mehr der Armut entspricht, ohne etwas anderes zu wünschen, als zu leiden und verachtet zu werden.“ Mit einem Worte: wer eine wahre Liebe zu Jesus hat, verliert die Neigung zu allen irdischen Gütern und sucht sich von allem loszureißen, um mit Jesus allein vereinigt zu sein. Sein ganzes Verlangen ist auf Jesus gerichtet; er denkt immer an Jesus; er seufzt immer nach Jesus; er will nur Jesus gefallen zu allen Zeiten, an allen Orten und bei allen Gelegenheiten. Um aber diese Stufe zu erreichen, muß man eine unablässige Aufmerksamkeit darauf verwenden, sein Herz von jeder Neigung zu reinigen, die nicht auf Gott gerichtet ist. Fragt man nun, welche Übungen die vollkommene Hingabe einer Seele an Gott in sich begreift, so antworte ich, daß drei Übungen hierzu erforderlich werden. Zuerst, daß sie alles vermeide, was Gott mißfällt, und immer das tue, was Ihm am wohlgefälligsten ist, ferner, daß sie alles ohne Ausnahme aus der Hand Gottes annehme, was Er ihr zuschickt, wie hart oder bitter es auch sein möge, und endlich, daß sie in allen Dingen den Willen Gottes ihrem Willen vorziehe. Dies ist es, was eine Seele zu üben hat, die ganz Gott angehören will.

Gebet

Mein Gott und mein alles, ich sehe und fühle es, daß Du trotz meines Undankes und meiner Nachlässigkeit in deinem Dienste doch nicht müde geworden bist, mich zu deiner Liebe zu berufen. Siehe, o Herr, hier bin ich; ich will Dir nicht länger widerstehen; ich will alles verlassen, um ganz dein zu sein; ich will nicht mehr mir selbst, sondern nur Dir leben: Du hast ja so unendlich viele und große Ansprüche auf meine Liebe. O mein Jesus, meine Seele liebt Dich und seufzt nach Dir! Wie sollte ich auch nur etwas anderes lieben als Dich, wenn ich gedenke, das Du dein Leben für mich hingabst, um mich zu erlösen, und wie könnte ich auf das Kreuz hinblicken, an dem Du von Schmerz verzehrt für mich sterben wolltest, ohne Dich aus dem Grunde meines Herzens zu lieben? Ja, ich liebe Dich aus ganzer Seele, und ich habe kein anderes Verlangen, als Dich zu lieben in diesem Leben und durch die ganze Ewigkeit. O mein Gott, meine Liebe, meine Hoffnung, meine Stärke und mein Trost, gib, daß ich Dir treu bleibe; gib mir Licht, damit ich erkenne, von welchen Dingen ich mich losreißen muß, und gib mir die Kraft, es zu vollbringen; denn ich will Dir in allem gehorchen. O Liebe meiner Seele, ich opfere Dir alles auf, was ich bin und was ich habe, um deinem Verlangen, dich mit mir zu vereinigen, zu genügen, und um mich mit Dir, o mein Gott und mein alles, auf das Vollkommenste zu vereinigen. Ach, ich komme, mein Jesus, nimm meine Seele in Besitz und ziehe mich an Dich, mit allen Gedanken und mit allen Gefühlen meines Herzens. Ich entsage allen meinen Wünschen und Neigungen, allen meinen Freuden und Tröstungen, allen erschaffenen Dingen: Du allein bist für mich alles. Gib mir die Gnade, an nichts anderes zu denken als an Dich, nach nichts anderem zu verlangen als nach Dir, nichts anderes zu suchen als Dich, mein Geliebter und mein alles. Und Du, o Mutter meines Herrn, Maria, erbitte mir die Gnade der Beharrlichkeit.