Erstes Kapitel

Wie der Heiland geliebt zu werden verdient wegen der Liebe, die er uns durch sein Leiden bezeugt hat.

1. Alle Heiligkeit und Vollkommenheit einer Seele besteht darin: Jesus Christus, unseren Gott, unser höchstes Gut, unseren Erlöser, zu lieben. Der Herr selbst bezeugte, daß derjenige, der Ihn liebt, von seinem himmlischen Vater geliebt werde: „Der Vater selbst liebt euch, weil ihr mich geliebt habt“ (Jo 16,27). Einige, sagt der heilige Franz von Sales, setzen ihre Vollkommenheit in strenge Bußwerke, andere in das Gebet, andere in den häufigen Empfang der heiligen Sakramente, andere in Werke der Barmherzigkeit, aber sie täuschen sich, denn die Vollkommenheit besteht darin, Gott über alles zu lieben. „Vor allem aber“, sagt der Apostel, „habt die Liebe, welche das Band der Vollkommenheit ist“ (Kol 3,14). Er sagt dies, weil es die Liebe ist, die alle Tugenden, die eine Seele vollkommen machen, vereinigt und bewahrt. Es ist ein Ausspruch des heiligen Augustinus: „Liebe und tue, was du willst.“ Liebe und tue, was du willst; denn wenn eine Seele Gott liebt, so wird eben diese Liebe sie anleiten, nie etwas zu tun, das ihm mißfallen könnte, und dagegen alles zu tun, was ihm wohlgefällig ist.

2. Sollte etwa Gott nicht alle unsere Liebe verdienen? Er hat uns von Ewigkeit her geliebt: „Mit ewiger Liebe liebte ich dich“ (Jer 31,3). Erkenne, o Mensch, spricht der Herr, daß ich dich zuerst geliebt habe: du warst noch nicht auf der Welt, die Welt selbst bestand noch nicht, und ich liebte dich schon. Ich liebe dich, so lange ich Gott bin, und so lange ich mich selbst liebte, liebte ich auch dich. Wie sehr hatte daher die heilige Jungfrau Agnes Recht, als sie den irdischen Bewerbern, die sich um ihre Liebe bemühten, zur Antwort gab: „Ich habe schon einen Bräutigam, der euch zuvorgekommen ist.“ Geht, sprach sie, ihr Liebhaber dieser Welt, und laßt ab, euch um meine Liebe zu bewerben; mein Gott hat mich zuerst geliebt, er hat mich von Ewigkeit geliebt, es ist daher recht und billig, daß ich ihm alle Gefühle meines Herzens schenke und keinen anderen als ihn liebe.

3. Da die Herzen der Menschen durch Wohltaten gewonnen werden, so wollte Gott sie durch seine Gaben an sich ziehen; und deshalb sprach er: „Ich werde sie mit den Stricken Adams ziehen, mit den Banden der Liebe“ (Hos 11,14). Damit die Menschen mich lieben, will ich sie mit jenen Stricken an mich ziehen, von welchen sich der Mensch ziehen läßt: nämlich mit den Banden der Liebe. Solche Bande sind eben die Gaben, mit denen Gott den Menschen beschenkt hat. Er hat die Seele des Menschen mit Kräften nach seinem Ebenbilde begabt: mit der Vernunft, dem freien Willen und dem Gedächtnis, und den Körper mit den Sinnen ausgerüstet. Er hat zugleich wegen des Menschen Himmel und Erde geschaffen und so viele andere Dinge aus Liebe zu ihm: das Firmament, die Gestirne, die Planeten, das Meer, die Flüsse, die Quellen, die Berge, die Täler, die Ebenen, die Metalle, die Früchte der Erde, so viele Gattungen und Arten von Tieren: dies alles aber, damit es dem Menschen diene, der Mensch aber ihn, den Schöpfer, liebe aus Dankbarkeit für so viele Wohltaten. „Der Himmel und die Erde“, rief der heilige Augustinus aus, „und alle Dinge fordern mich auf, Dich zu lieben!“ Herr, sprach der Heilige, alles, was ich auf der Erde und über der Erde erblicke, spricht zu meinem Herzen und mahnt mich, Dich zu lieben, weil alles mir bezeugt, daß Du es aus Liebe zu mir erschaffen hast. Sooft der Abt Rance, der Stifter des Trappistenordens, in seiner

Einsiedelei Blicke auf den Hügeln, den Quellen, den Vögeln, den Blumen, den Sternen oder dem Firmament verweilen ließ, fühlte er sich durch diesen Anblick angetrieben und entflammt, Gott zu lieben, der alles das aus Liebe zu den Menschen erschaffen hat.

4. Auf ähnliche Weise fühlte die heilige Maria Magdalena von Pazzi, wenn sie eine schöne Blume in den Händen hielt, ihr Herz von der Liebe zu Gott entzündet und rief aus: So hat denn mein Gott von Ewigkeit her daran gedacht, aus Liebe zu mir diese Blume zu erschaffen. So ward die Blume für sie gleichsam ein Liebespfeil, der auf liebliche Weise ihr Herz verwundete, und es inniger mit Gott vereinigte. Die heilige Theresia dagegen, wenn sie die Bäume, die Quellen, die Bäche, die Wiesen oder die Küsten des Meeres betrachtete, pflegte zu sagen, daß sie so undankbar sei, und den Schöpfer so wenig liebe, der alles dies erschaffen habe, um von ihr geliebt zu werden. Ähnliches wird von einem frommen Einsiedler erzählt. Wenn derselbe über Land ging, schien es ihm, als ob die Blumen und Kräuter, die er auf dem Wege traf, ihm wegen seiner Undankbarkeit gegen Gott Vorwürfe machten. Er schlug sie dann mit seinem Stabe und sprach: „Schweigt, schweigt, ihr nennt mich einen Undankbaren und sagt mir, daß Gott euch aus Liebe zu mir geschaffen hat und daß ich ihn nicht liebe; aber ich habe euch schon verstanden, schweigt nur und macht mir keine Vorwürfe mehr.“

5. Allein Gott hat sich nicht damit begnügt, uns mit allen diesen Herrlichkeiten zu beschenken, die er zu unserem Dienste erschaffen hat: Er ist, um unsere Liebe zu gewinnen, so weit gegangen, sich selbst uns zu schenken. Der ewige Vater hat uns seinen eigenen und eingeborenen Sohn geschenkt. „Denn also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn hingab“ (Jo 3,16). Als der ewige Vater sah, daß wir alle durch die Sünde dem Tode verfallen und der Gnade beraubt waren, was tat er? In seiner grenzenlosen Liebe, ja, wie der Apostel sagt, aus einem Übermaße von Liebe, sandte er seinen geliebten Sohn, um für uns genugzutun und uns das Leben der Gnade wieder zu erwerben, welches wir durch die Sünde verloren hatten: „Wegen der übergroßen Liebe, mit welcher er uns liebte, hat er uns, die wir tot waren in der Sünde, mitbelebt in Christo“ (Eph 2,4). Indem Er uns aber seinen Sohn schenkte, indem Er seinen eigenen Sohn nicht verschonte, um uns zu verschonen, hat Er uns mit diesem göttlichen Sohne alle Güter gegeben: seine Gnade, seine Liebe, das Himmelreich; denn alle diese Güter, so groß sie in sich selbst sind, sind doch geringer als sein eingeborener Sohn: „Der seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat; wie sollte Er uns nicht alles mit ihm geschenkt haben?“ (Rom 8,32)

6. Und ebenso hat sich auch der Sohn Gottes aus Liebe zu uns ganz für uns hingegeben: „Er hat uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben“ (Gal 2,20). Um uns vom ewigen Tode zu erlösen und uns die göttliche Gnade und das verlorene Paradies wieder zu erwerben, ist er Mensch geworden und hat sich mit unserem Fleisch bekleidet: „Und das Wort ist Fleisch geworden“ (Jo 1,14). So sehen wir einen Gott, der sich selbst seiner Herrlichkeit entäußert: „Er hat sich selbst entäußert, Knechtsgestalt angenommen, und ist im Äußern wie ein Mensch erfunden worden“ (Phil 2,7). Wir sehen den Herrn der Welt, der sich so tief erniedrigt, daß er Knechtsgestalt annimmt und sich allem menschlichen Elend unterwirft.

7. So sehr uns dies in Staunen versetzen muß, so ist es doch

noch nicht das Erstaunlichste. Er konnte uns erlösen, ohne zu leiden und zu sterben; doch nein, er wählte sich ein mühevolles und verachtetes Leben, und den bittersten und schmählichsten Tod, den Tod am Kreuze, die ehrloseste Todesart, womit nur die größten Missetäter bestraft wurden: „Er erniedrigte sich selbst, ward gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze“ (Phil 2,8). Wenn Er uns aber erlösen konnte, ohne zu leiden, warum hat Er den Tod am Kreuze erwählen wollen? Er hat es getan, um uns die unermeßliche Liebe, die Er zu uns trug, zu beweisen: „Er hat uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben.“ Er liebte uns, und weil Er uns liebte, gab Er sich dem Schmerze hin, der Schmach und dem peinlichsten Tode, den je ein Mensch auf Erden erduldet hat.

8. Diese Betrachtung bewog den heiligen Paulus, diesen von Liebe zu seinem göttlichen Meister glühenden Apostel, auszurufen: „Die Liebe Jesu Christi drängt uns“ (2 Kor 5,14). Er wollte damit sagen, daß nicht so sehr dasjenige, was Jesus Christus für uns gelitten, als vielmehr die Liebe, welche er uns durch sein Leiden bewiesen hat, uns verpflichtet, ja uns gleichsam nötigt, ihn wieder zu lieben. Hören wir, wie der heilige Franz von Sales sich über diesen Text ausspricht: „Wenn wir bedenken, daß Jesus Christus, unser wahrer Gott, uns so sehr geliebt hat, daß Er für uns den Tod, den Tod am Kreuze, erleiden wollte, muß dieser Gedanke nicht wie eine Kelter sein, welche unser Herz unwiderstehlich erfaßt und dem Herzen die Liebe mit einer Gewalt erpreßt, die umso stärker ist, je liebenswürdiger sie ist.“ Der Heilige setzt hinzu: „Ach, warum umfangen wir also nicht Jesus, den Gekreuzigten, um auf dem Kreuze mit demjenigen zu sterben, der aus Liebe zu uns sterben wollte?“ Ja, ich will das Kreuz festhalten, soll jeder von uns ausrufen, ich will es nie mehr lassen, ich will mit Jesus sterben, ich will von den Flammen seiner Liebe verzehrt werden: ein und dieselbe Flamme soll den göttlichen Schöpfer und sein armseliges Geschöpf verzehren. Mein Jesus schenkt sich mir, und ich schenke mich Ihm. Ich will leben und sterben an seinem heiligsten Herzen und weder Leben noch Tod sollen mich von Ihm scheiden. O ewige Liebe, meine Seele verlangt nach Dir, sie hat Dich für immer und ewig zu ihrem alleinigen Herrn erwählt. Komm, o Heiliger Geist, entflamme mein Herz mit deiner heiligen Liebe, um zu lieben und zu sterben: jeder anderen Liebe abzusterben, um nur der Liebe Jesu zu leben! O mein Heiland, möge meine Seele jetzt und allezeit und durch die ganze Ewigkeit singen: Es lebe Jesus, ich liebe Jesus! Es lebe Jesus, den ich liebe! Ich liebe Jesus, der lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit!

9. Die Liebe Jesu Christi zu den Menschen war so groß, daß Er sich nach der Stunde seines Todes sehnte, um ihnen zu beweisen, wie sehr Er sie liebte. Deshalb sprach Er lange zuvor: „Ich muß mit einer Taufe getauft werden, und wie drängt es mich, bis es vollbracht ist“ (Lk 12,50). Ich muß mit meinem eigenen Blut getauft werden und ich fühle ein sehnlichstes Verlangen, daß die Stunde meines Leidens bald kommen, und der Mensch bald erkennen möge, wie groß die Liebe ist, die ich zu ihm trage. Darum sagt der heilige Johannes, da er von der letzten Nacht spricht, mit welcher das Leiden des Herrn begann: „Da Jesus wußte, daß seine Stunde gekommen sei, um aus dieser Welt zum Vater zu gehen; und da Er die Seinigen liebte, hat Er sie bis an das Ende geliebt“ (Jo 13,1). Der Heiland nannte diese Stunde seine Stunde, weil die Zeit seines Leidens und Sterbens die von ihm ersehnte Zeit war, wo er den Menschen den letzten Beweis seiner Liebe geben, und für sie von Schmerzen verzehrt an einem Kreuze sterben wollte.

10. Was konnte aber einen Gott bewegen, eine für seine göttliche Majestät so schmachvolle Todesart, die Hinrichtung zwischen zwei Missetätern zu erwählen? „Wer hat dies getan?“ sagt der heilige Bernhard und er antwortet: „Die Liebe hat es getan, die der Würde nicht eingedenk ist.“ Wenn die Liebe sich offenbaren will, sieht sie nicht auf das, was der Würde des Liebenden gebührt, sondern auf das, was geeignet ist, ihre Liebe dem Geliebten kundzutun. Deshalb konnte der heilige Franz von Paula bei dem Anblick eines Bildes des Gekreuzigten nichts als die Worte hervorbringen: „O Liebe, o Liebe, o Liebe!“ Möchten auch wir nach seinem Beispiel, wenn wir Jesus am Kreuze betrachten, mit einem von Liebe entflammten Herzen ausrufen: O Liebe, o Liebe, o Liebe!

11. Wenn wir es nicht durch den heiligen Glauben wüßten, wer würde auf den Gedanken kommen, daß ein allmächtiger, in sich seliger Gott, der Herr aller Dinge, die Menschen so sehr lieben wollte, daß es scheint, er sei aus Liebe zu den Menschen aus sich selbst herausgegangen. „Wir haben gesehen, daß der Weise aus übergroßer Liebe zu einem Toren wurde“, sagt der heilige Laurentius Justinianus. Wir haben gesehen, daß die Weisheit selbst, das ewige Wort, durch das Übermaß von Liebe, die sie zu den Menschen trug, töricht wurde. Dasselbe sagte die heilige Maria Magdalena von Pazzi, als sie eines Tages in einer Entzückung ein Kruzifix ergriff und ausrief: „Ja, mein Jesus, du bist ein Tor der Liebe! Ich sage es, und werde es allzeit sagen: Du bist ein Tor der Liebe, mein Jesus!“ Nein, sagt dagegen der heilige Dionysius von Areopagit, es ist keine Torheit, sondern es ist der göttlichen Liebe eigen, daß der Liebende aus sich selbst herausgeht, um sich ganz dem Gegenstande seiner Liebe hinzugeben. „Das Hinausgehen aus sich selbst wirkt die göttliche Liebe“ (Lib. 4. De divinis nominibus).

12. O möchten die Menschen, wenn sie Jesus den Gekreuzigten betrachten, bei der Liebe verweilen, welche Er für jeden aus ihnen trägt! „Werden wir“, sagt der heilige Franz von Sales, „bei dem Anblicke des von Liebe entflammten Herzens unseres Erlösers nicht auch von Liebe entzündet werden?“ Welch ein Glück, von demselben Feuer ergriffen zu sein, von welchem unser Gott entbrannt ist! Welche Seligkeit, mit Gott durch die Bande der Liebe vereinigt zu sein!“ Der heilige Bonaventura nannte die Wunden Jesu Christi Wunden, die auch die gefühllosesten Herzen verwunden und die kältesten Seelen entzünden: „Wunden, welche harte Herzen verwunden und eiskalte Gemüter entflammen.“ O wie viele Liebespfeile gehen aus diesen Wunden hervor, welche die härtesten Herzen durchbohren! Wie viele Flammen gehen aus dem von Liebe entbrannten Herzen Jesu hervor, welche die kältesten Herzen entzünden! Wie viele Bande gehen aus seiner heiligsten Seitenwunde hervor, welche auch die widerspenstigsten Herzen zu fesseln vermögen!

13. Der ehrwürdige Johannes von Avila hatte eine so zärtliche Liebe zum Gekreuzigten, daß er in keiner seiner Predigten unterlassen konnte, von der Liebe Jesu Christi zu den Menschen zu sprechen. In einer seiner Schriften, in welcher er eben diese Liebe unseres göttlichen Schöpfers behandelt, spricht er die nachstehenden feurigen Gefühle aus, die so schön sind, daß ich mich nicht enthalten konnte, sie hier aufzunehmen. Er sagt:

14. „O mein göttlicher Erlöser! Du hast den Menschen so sehr geliebt, daß man diese Liebe nicht betrachten kann, ohne Dich wieder zu lieben; weil deine Liebe den Herzen Gewalt antut, wie der Apostel sagt: 'Die Liebe Jesu Christi drängt uns.' Die Quelle aber, aus welcher die Liebe Jesu Christi zu den Menschen entspringt, ist seine Liebe zu Gott; darum sprach er bei dem letzten Abendmahle: 'Damit die Welt erkenne, daß ich den Vater liebe, stehet auf und laßt uns gehen.' Und wohin? Um für die Menschen am Kreuze zu sterben!“

15. „Kein menschlicher Verstand ist imstande, die Größe dieser Liebe und der Glut, von welcher das Herz Jesu Christi verzehrt wird, zu erfassen. Wäre Ihm aufgetragen worden, nicht einmal, sondern tausendmal den Tod für uns zu leiden, so würde seine Liebe auch den tausendfachen Tod auf sich genommen haben. Wäre Ihm aufgetragen worden, für das Heil eines einzigen Menschen das zu leiden, was Er für uns alle gelitten hat, so würde Er für diesen Einen getan haben, was Er für alle tat. Und wäre es notwendig gewesen, statt der drei Stunden bis zum jüngsten Gerichte am Kreuze zu verharren, so wäre seine Liebe so unerschöpflich gewesen, auch dies zu vollbringen. So liebte Jesus viel mehr, als er gelitten hat. O Liebe meines Gottes, wie warst du innerlich viel größer, als du äußerlich erschienst! Diese namenlosen Leiden, diese Wunden, diese Beulen verkündigen allerdings eine große Liebe; aber sie sprechen nicht die ganze Größe dieser Liebe aus, weil sie im Inneren viel mehr in sich verschloß, als sie äußerlich erscheinen ließ. Es war dies nur ein Funke aus dem Brande, ein Tropfen aus dem Meer unermeßlicher Liebe. Es ist allerdings ein Zeichen der größten Liebe, wenn man sein Leben für seine Freunde hingibt, aber dieses Zeichen ist nicht der erschöpfende Ausdruck der Liebe Jesu Christi.“

16. „Diese Liebe ist es, welche fromme Seelen außer sich bringt und sie in ein sprachloses Staunen versetzt, wenn sie sich ihnen zu erkennen gibt. Daraus entspringt die unauslöschliche Glut im Innersten der Seele, das Verlangen nach dem Martyrium, der freudige Mut im Leiden; daraus die Kraft, auf einem glühenden Roste zu frohlocken und auf glühenden Kohlen zu wandeln, wie wenn es Rosen wären, nach Schmerzen und Peinen sich zu sehnen, sich über das zu freuen, was die Welt fürchtet, und zu umfassen, was die Welt verabscheut. Der heilige Ambrosius sagt, daß eine Seele, die sich am Kreuze mit Jesus Christus verlobt hat, ihren größten Ruhm darein setzt, die Abzeichen des Kreuzes an sich zu tragen.“

17. „O mein Heiland, der du mich so sehr liebtest, wie werde ich Dir deine Liebe vergelten? Gebührt es sich nicht, daß Blut mit Blut vergolten werde? O möchte ich mich mit diesem Blute besprengt und an dieses Kreuz genagelt sehen! O heiliges Kreuz, nimm auch mich auf! Erweitere dich, o Dornenkrone, damit auch mein Haupt darunter Platz finde! Löset euch los, ihr Nägel, von den unschuldigen Händen meines Herrn und durchbohrt mein Herz mit heiliger Zerknirschung und heiliger Liebe! Du bist darum gestorben, o mein Jesus, wie dein Apostel sagt, um über die Lebenden und die Toten zu herrschen, nicht durch Strafen und Züchtigungen, sondern durch die Macht der Liebe: 'Dazu ist Christus gestorben und auferstanden, daß Er über die Toten und die Lebenden herrsche' (Rom 14,9).“ |

18.0 Räuber unserer Herzen, die Gewalt deiner Liebe ist so groß, daß sie auch die Härte unserer so harten Herzen zu brechen wußte; Du hast die ganze Welt mit deiner Liebe entzündet! O liebreicher Herr, berausche unsere Herzen mit dem Weine deiner Liebe, verwunde sie mit dem Pfeile deiner Liebe! Dein Kreuz ist zu einem Bogen geworden, dessen Geschosse die Herzen durchbohren. Die ganze Welt soll es wissen, daß auch mein Herz verwundet ist. O Jesus, meine süßeste Liebe, was hast Du getan? Du bist gekommen, um mich zu heilen, und Du hast mich verwundet; Du bist gekommen, um mich die wahre Lebensweisheit zu lehren, und Du hast mich zu einem Toren gemacht. O weiseste Torheit, möge ich niemals leben ohne Dich. Alles, o Herr, was ich an dem Kreuze erblicke, lädt mich ein, Dich zu lieben: das Kreuz selbst, die Gestalt, die Wunden deines allerheiligsten Leibes; vor allem aber fordert deine Liebe mich auf, Dich zu lieben und deine Liebe nie zu vergessen.

19. Um aber zur vollkommenen Liebe Jesu Christi zu gelangen, muß man auch die geeigneten Mittel ergreifen. Diese Mittel sind aber nach der Lehre des heiligen Thomas von Aquin (Opusc. De dilect. Dei, § 1) folgende. Erstens: das beständige Andenken an die Wohltaten Gottes, die allgemeinen sowohl als auch die besonderen, die man empfangen hat. Zweitens: die Betrachtung der unendlichen Güte unsres Gottes, der unablässig damit beschäftigt ist, uns Gutes zu erweisen, und in jedem Augenblicke uns liebt und sich um unsere Liebe bewirbt. Drittens: die sorgfältigste Vermeidung auch der geringsten Dinge, die ihm mißfallen könnten. Viertens: die Verzichtleistung auf die Güter dieser Welt, Reichtümer, Ehren und sinnliche Vergnügungen. Tauler fügt noch ein fünftes vorzügliches Mittel, um zur vollkommenen Liebe Jesu Christi zu gelangen, hinzu: die Betrachtung seines Leidens.

20. Niemand kann in Abrede stellen, daß die Andacht zum Leiden Jesu Christi unter allen Andachten die nützlichste, die zärtlichste, die Gott wohlgefälligste, diejenige ist, welche die Sünder am meisten tröstet und die liebenden Seelen zu einer größeren Liebe entflammt. Ist das Leiden Jesu Christi nicht die Quelle, aus welcher uns so viele Güter und Gaben zufließen? Schöpfen wir daraus nicht die Hoffnung der Verzeihung unserer Sünden, die Kraft und die Stärke in Versuchungen, das Vertrauen, die ewige Seligkeit zu erlangen? Und ist nicht das Leiden Jesu Christi die Quelle so vieler Erleuchtungen, durch die wir die Wahrheit erkennen, so vieler liebreicher Einsprechungen und Antriebe, uns zu bessern und unser Leben zu ändern, so vieler Wünsche und Vorsätze, uns ganz Gott zu schenken? Mit Recht sprach daher der Apostel den Bann über jeden aus, der Jesus Christus nicht liebt: „Wenn jemand unsern Herrn Jesus Christus nicht liebt, der sei im Banne“ (1 Kor 16,22).

21. Der heilige Bonaventura sagt, daß es keine Andachtsübung gebe, die geeigneter wäre, eine Seele zu heiligen, als die Betrachtungen des Leidens Jesu Christi: er gibt daher allen, die in der Liebe Gottes zunehmen wollen, den Rat, es täglich zu betrachten. „Wenn Du diese Fortschritte machen willst, so betrachte täglich das Leiden des Herrn; denn nichts ist imstande, in der Seele eine so allgemeine Heiligung zu bewirken, als diese Betrachtung.“ Schon vor ihm sagte der heilige Augustinus, wie Bernardin von Busti anführt, daß eine bei der Betrachtung des Leidens Jesu Christi vergossene Träne vor Gott einen höheren Wert habe, als das strengste Fasten in jeder Woche. „Ein größeres Verdienst erwirbt sich, wer bei der Erinnerung an das Leiden des Herrn eine einzige Träne vergießt, als wenn er in jeder Woche bei Wasser und Brot fasten würde.“ Deshalb waren die Heiligen unablässig in diese Betrachtung versenkt, und dies war das Mittel, welches den heiligen Franziskus von Assisi in einen irdischen Seraph verwandelte. Als ihn eines Tages ein angesehener Mann weinend und schluchzend antraf und ihn um die Ursache fragte, erwiderte er: „Ich weine über das Leiden meines Herrn und über die Unbilden, die Ihm zugefügt wurden; was mir aber einen noch größeren Schmerz verursacht, ist: daß die Menschen, für die er dies alles gelitten hat, fortleben, ohne dieser Leiden zu gedenken.“ Bei diesen Worten flössen seine Tränen noch reichlicher, so daß der andere, der ihm die Frage gestellt hatte, mit ihm zu weinen anfing. Wenn er ein Lamm blöken hörte, oder sonst ihm etwas begegnete, was ihn an das Leiden des Herrn erinnerte, überfiel ihn jedesmal eine solche tiefe innerliche Rührung, daß er in Tränen ausbrach. Als man ihm einst in einer Krankheit vorschlug, sich aus einem frommen Buche vorlesen zu lassen, erwiderte er: „Mein Buch ist Jesus, der Gekreuzigte.“ Deshalb war auch nichts, was er seinen Brüdern mit größerem Eifer an das Herz legte, als die immerwährende Betrachtung des Leidens Jesu Christi. Mit Recht sagt ein frommer Schriftsteller: „Wer sich nicht angetrieben fühlt, Gott zu lieben, wenn er den sterbenden Heiland am Kreuze betrachtet, der wird wohl nie zur Liebe Gottes gelangen.“

Gebet

O Jesus, Du ewiges Wort des ewigen Vaters, Du hast 33 Jahre unter Leiden und Mühseligkeiten zugebracht; Du hast dein Blut und dein Leben hingegeben, um die Menschen zu erlösen; Du hast nichts gespart und Dich in nichts geschont, um ihre Liebe zu gewinnen und doch gibt es Menschen, die dies wissen und die Dich dennoch nicht lieben. Und ach, auch ich gehöre zu diesen Undankbaren; aber ich erkenne jetzt, o mein Jesus, die Größe der Unbilden, die ich Dir zugefügt habe: erbarme Dich meiner. Ich bringe Dir jetzt mein undankbares Herz dar, ein undankbares, aber ein reumütiges Herz. Ja, mein Heiland, es schmerzt mich über alles, daß ich deine Liebe verachtet habe. Ich bereue es und liebe Dich aus dem Grunde meines Herzens. O meine Seele, liebe einen Gott, der für dich wie ein Verbrecher gebunden, einen Gott, der für dich wie ein Sklave gegeißelt, einen Gott, der für dich wie ein eingebildeter König verspottet, einen Gott endlich, der für dich wie ein Missetäter an das Kreuz geheftet wurde und für dich den schimpflichsten Tod erlitt. Ja, mein Heiland, mein Herr, mein Gott, ich liebe Dich, ich liebe Dich. Erinnere mich immerfort an alles, was Du für mich gelitten hast, damit ich keinen Augenblick vergesse, Dich zu lieben. Ihr Stricke, die ihr Jesus gebunden habt, bindet mich an Jesus! Ihr Dornen, mit welchen Jesus gekrönt wurde, verwundet mich mit der Liebe zu Jesus! Ihr Nägel, die ihr Jesus durchbohrtet, heftet mich an das Kreuz meines Jesus, damit ich mit Jesus vereint leben und sterben möge! O kostbares Blut meines Jesus, berausche mich mit der heiligen Liebe! O Tod meines Jesus, mache, daß ich allen irdischen Neigungen absterbe! O ihr durchbohrten Füße meines Herrn, ich umfasse euch, um der Hölle zu entgehen, die ich verdient habe! In der Hölle könnte ich Dich nicht mehr lieben, mein Jesus; und ich will Dich lieben jetzt und allezeit und durch die ganze Ewigkeit. O mein geliebter Heiland, rette mich, ziehe mich an Dich, und laß nicht zu, daß ich jemals wieder von Dir geschieden werde. Du aber, o Maria, Mutter meines Herrn und Zuflucht der Sünder, stehe einem Sünder bei, der seinen Gott lieben will und sich deinem Schutze empfiehlt; komme mir zu Hilfe um der Liebe willen, die Du zu deinem göttlichen Sohne trägst.