Fünfzehntes Kapitel

Die Liebe glaubt alles.

Wer den Heiland liebt, glaubt allen seinen Worten.

1. Liebende glauben alles, was ihnen der Geliebte sagt; je größer daher die Liebe einer Seele zu Jesus Christus ist, desto fester und lebendiger ist ihr Glaube. Als der gute Schacher den sterbenden Heiland am Kreuze betrachtete und sah, wie er schuldlos seine Leiden mit so großer Geduld ertrug, fing er an, Ihn zu lieben, und nachdem diese Liebe sein Herz eingenommen hatte, wurde er von einem Lichtstrahl der göttlichen Gnade erleuchtet, und er glaubte, daß Jesus der wahre Sohn Gottes sei, und sprach: „Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst.“

2. Der Glaube ist das Fundament, auf dem die Liebe beruht, allein die Liebe ist es, welche dann den Glauben vervollkommnet. Je vollkommener die Liebe zu Gott ist, desto vollkommener ist der Glaube; denn die Liebe bewirkt, daß der Mensch nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Willen glaubt. Diejenigen, die nur mit dem Verstand glauben, wie es die Sünder tun, die zwar die Wahrheit des Glaubens anerkennen, aber nicht nach den Geboten Gottes leben wollen, haben einen sehr schwachen Glauben. Wenn sie einen lebendigen Glauben hätten, so würden sie von der Überzeugung durchdrungen sein, daß die Gnade Gottes das größte aller Güter und die Sünde das größte aller Übel sei: und dann würden sie gewiß ihr Leben ändern. Da sie also die elenden Güter dieser Welt der Gnade Gottes vorziehen, so ist dies ein Beweis, daß sie entweder gar keinen oder nur einen sehr schwachen Glauben haben. Wer dagegen nicht bloß mit dem Verstände, sondern auch mit dem Willen glaubt, und daher nicht bloß glaubt, sondern Gott auch liebt und sich seines Glaubens erfreut: der besitzt einen vollkommenen Glauben und ist daher auch bemüht, sein Leben nach den Wahrheiten des Glaubens einzurichten.

3. Der Mangel an Glauben hat jedoch bei denjenigen, die in der Sünde leben, keineswegs seinen Grund in der Dunkelheit des Glaubens; denn wenn auch Gott die Gegenstände des Glaubens unserer klaren Einsicht entziehen und gleichsam in einen Schleier verhüllen wollte, damit unser Glauben verdienstlich sei, so machen doch die augenscheinlichen Kennzeichen der Wahrheit, die der Glaube an sich trägt, ihn so gewiß und einleuchtend, daß es nicht bloß unklug, sondern töricht und gottlos wäre, nicht zu glauben. Die Schwäche des Glaubens entsteht daher aus den verdorbenen Sitten und dem schlechten Lebenswandel. Wer die Freundschaft Gottes verachtet, um sich seiner verbotenen Genüsse nicht zu berauben, möchte, daß es weder ein Gesetz gäbe, das sie verbietet, noch einen Richter, der die Übertreter bestraft, und darum sucht er dem Anblick der ewigen Wahrheiten: des Todes, des Gerichtes, der Hölle und der göttlichen Gerechtigkeit soviel als möglich auszuweichen. Diese Wahrheiten erschrecken ihn und verbittern ihm seine Genüsse, und deshalb fängt er an zu grübeln und sich anzustrengen, um wenigstens scheinbare Gründe aufzufinden, durch die er sich überreden oder viel mehr vorlügen möchte, daß es keine Unsterblichkeit, keinen Gott und keine Hölle gebe, und auf diese Weise des Glaubens entledigt, zu leben und zu sterben wie die Bestien, die keine Vernunft besitzen und für die es kein Gesetz gibt.

4. Die Sittenlosigkeit und der schlechte Lebenswandel sind also die Ursache des Unglaubens und die Quelle, aus welcher so viele Bücher und Systeme der Materialisten, Indifferentisten, Nationalisten, Deisten und Naturalisten entsprungen sind und noch immerfort entspringen. Einige leugnen das Dasein Gottes, andere leugnen seine Vorsehung und sagen, nachdem Gott die Menschen erschaffen habe, kümmere er sich nicht weiter, ob sie Ihn lieben oder Ihn beleidigen, ob sie sich retten oder zu Grunde gehen. Wieder andere leugnen die Güte und die Barmherzigkeit Gottes, und sagen, Gott habe viele Seelen für die Hölle erschaffen und verleite sie selbst zur Sünde, damit sie zu Grunde gehen und Ihn in den Flammen der Hölle durch alle Ewigkeit verfluchen.

5. O Undank, o Bosheit der Menschen! Gott hat sie aus Barmherzigkeit erschaffen, um sie ewig glückselig zu machen; Er hat sie mit so vielen Wohltaten, Gnaden und Erleuchtungen überhäuft, um sie in den Stand zu setzen, sich die ewige Herrlichkeit zu erwerben; Er hat sie zu diesem Ende mit so unendlicher Liebe unter so unsäglichen Schmerzen erlöst: und sie geben sich alle mögliche Mühe, nichts zu glauben, um ungestört ihr lasterhaftes Leben fortzusetzen! Doch nein, welche Mühe sie sich auch geben mögen, es wird ihnen nie gelingen, sich der Vorwürfe ihres bösen Gewissens und der Furcht vor den Gerichten Gottes zu entledigen. Ich habe vor kurzem ein Buch unter dem Titel: „Die Wahrheit des Glaubens“ herausgegeben, worin ich die Unnahbarkeit aller Systeme dieser modernen Ungläubigen auf das Klarste nachgewiesen habe. O möchten sie ihrem lasterhaften Leben entsagen, und sich auf die Liebe Jesu Christi verlegen: sie wurden dann gewiß die Wahrheiten des Glaubens nicht länger in Zweifel ziehen, sondern alles annehmen und glauben, was Gott uns offenbart hat.

6. Wer den Heiland von ganzem Herzen liebt, hat unablässig die ewigen Wahrheiten vor Augen und richtet danach seine Handlungen und sein ganzes Leben ein. Wer den Heiland wahrhaft liebt, o wie gründlich erkennt er die Wahrheit des Ausspruches: Eitelkeit über Eitelkeit, und alles ist Eitelkeit; wie sehr ist er von der lebendigen Überzeugung durchdrungen, daß alle irdische Größe nichts ist als Dunst, Kot und Täuschung; daß unsere Glückseligkeit einzig und allein darin besteht, unseren Schöpfer zu lieben und seinen heiligsten Willen zu vollbringen; daß wir nur das sind, was wir vor Gott sind; daß es nichts nützt, die ganze Welt zu gewinnen, wenn dabei die Seele verloren geht; daß alle Güter der Welt das menschliche Herz nicht befriedigen können und daß nur Gott es auszufüllen vermag: kurz, daß man alles verlassen muß, um alles zu gewinnen.

7. Die Liebe glaubt alles. Andere Christen sind nicht so verkehrt und verworfen wie die eben Genannten, die nichts glauben wollen, um ungestört und mit größerer Freiheit ein lasterhaftes Leben zu führen. Diese Christen glauben zwar, aber sie haben einen matten Glauben: sie glauben die hochheiligen Geheimnisse unserer Religion, sie nehmen die offenbarten Wahrheiten an: die Dreieinigkeit, die Erlösung, die Sakramente usw.; aber sie glauben nicht alles, was Jesus Christus uns lehrte. Der Herr sagt im Evangelium: Selig sind die Armen. Selig sind die Trauernden. Selig sind die Hungernden. Selig sind die Verfolgung leiden. Selig seid ihr, wenn man euch verflucht und alles Böse wider euch redet. So spricht der Herr im Evangelium. Wie kann man nun sagen, daß diejenigen dem Evangelium glauben, welche im Gegenteil sprechen: Selig sind die Reichen, selig sind, die nichts zu leiden haben, selig sind, die ein angenehmes Leben führen; unselig aber sind, die von den Menschen verachtet, verfolgt und mißhandelt werden? Die so sprechen, glauben dem Evangelium entweder gar nicht oder nur zum Teil: wer dagegen alles glaubt, der sieht es als ein Glück und als eine Gnade Gottes an, auf dieser Welt arm, krank, abgetötet zu sein und von den Menschen verachtet, verfolgt und mißhandelt zu werden. So glaubt und spricht, wer alles annimmt, was der Herr uns gelehrt hat, und wer ihn wahrhaft liebt.

Gebet

O mein geliebter Erlöser, o Liebe und Leben meiner Seele, ich glaube, daß Du das einzige Gut bist, das all unserer Liebe würdig ist. Ich glaube, daß niemand mich mehr liebt als Du, nachdem Du in deiner Liebe soweit gegangen bist, von Schmerzen verzehrt am Kreuze für mich zu sterben. Ich glaube, daß es in diesem und in dem anderen Leben keine größere Seligkeit gibt, als Dich zu lieben und deinen Willen zu vollbringen. Ich glaube dies mit einem festen unerschütterlichen Glauben, und darum entsage ich allen irdischen Dingen, um ganz dein zu sein. Ich bitte Dich durch die unendlichen Verdienste deines bitteren Leidens, komme mir mit deiner Gnade zu Hilfe und verwandle mich in einen neuen Menschen, der ganz nach deinem Willen und deinem Herzen geschaffen sei. O untrügliche Wahrheit, ich glaube an Dich; o unendliche Barmherzigkeit, ich hoffe auf Dich; o unendliche Liebe, ich liebe Dich, und so wie Du Dich mir geschenkt hast in deinem Leiden und in dem Sakramente des Altars, so schenke auch ich mich Dir ganz und ohne Vorbehalt. O Mutter meines Herrn, Maria, Zuflucht der Sünder, deiner mütterlichen Fürsprache empfehle ich mich!