Kurze Übersicht der Tugenden, von welchen in diesem Werke gehandelt wurde und welche von allen, die den Heiland lieben, geübt werden sollen.
1. Wir sollen alle Leiden dieses Lebens in Geduld ertragen: Krankheiten, Schmerzen, die Armut, den Verlust unserer Habe, den Tod der Verwandten und Freunde, Beschimpfungen, Verfolgungen und jede Art von Widerwärtigkeiten. Wir sollen überzeugt sein, daß große Trübsale auf dieser Welt ein Zeichen sind, daß Gott uns lieb hat und uns im Himmel haben will, und immer vor Augen haben, daß die unfreiwilligen Abtötungen, die Gott uns zuschickt, Ihm angenehmer sind als die freiwilligen, die wir uns selbst auflegen.
2. In den Krankheiten sollen wir vor allem trachten, uns ganz in den göttlichen Willen zu ergeben; was Gott wohlgefälliger ist als jede andere Andachtsübung. Sind wir nicht imstande, das betrachtende Gebet zu üben, so sollen wir auf den Gekreuzigten blicken, Ihm unsere Leiden aufopfern und sie mit den Leiden vereinigen, die Er am Kreuze für uns erduldet hat. Und wenn man uns ankündigt, daß das Ende unseres Lebens gekommen sei, sollen wir diese Nachricht gefaßt und im Geiste der Opferwilligkeit aufnehmen, das heißt: mit der Meinung, sterben zu wollen, um Gott wohlgefällig zu sein. Durch diese Meinung können wir uns dasselbe Verdienst erwerben, das sich die Märtyrer durch ihren Tod erwarben; wir sollen daher sprechen: Sieh, Herr, hier bin ich; ich will alles, was Du willst; ich will leiden, solange Du es willst, und ich will sterben, wann Du es willst. Verlangen wir dann nicht, noch länger zu leben, auch nicht aus dem Grunde, um Buße für unsere Sünden zu wirken; denn die Annahme des Todes aus den Händen Gottes mit vollkommener Ergebung hat einen größeren Wert als jede andere Buße.
3. Ferner, wenn es der Wille Gottes ist, daß wir arm seien, sollen wir die Armut geduldig und mit Ergebung ertragen und nicht bloß die Armut selbst, sondern auch alles Ungemach, das damit verbunden ist: Kälte, Hunger, schwere Arbeit, Verachtung und Verspottung.
4. Ebenso sollen wir uns ergeben in den Verlust unserer Habe und in den Verlust unserer Verwandten und Freunde, die uns bei einem längeren Leben Gutes erwiesen hätten. Wir sollen uns angewöhnen, sooft uns ein Unfall oder eine Widerwärtigkeit begegnet, zu sprechen und zu wiederholen: Gott hat es so gewollt und so will auch ich es. Was insbesondere den Tod unserer Verwandten betrifft, sollen wir die Zeit nicht mit unnützen Wehklagen verlieren, sondern für die Verstorbenen beten und Gott den Schmerz aufopfern, den wir über ihren Verlust empfinden.
5. Ferner sollen wir uns Gewalt antun, um jede Verachtung oder Kränkung, die uns widerfährt, friedlich und geduldig zu ertragen. Wenn jemand uns beleidigt, sollen wir auf sanfte und freundliche Weise antworten; fühlen wir uns aber aufgeregt, so ist es besser, die Ungebilde zu ertragen und zu schweigen, bis die Aufregung sich gelegt hat. Inzwischen sollen wir uns über die Beleidigung, die uns widerfahren ist, bei anderen nicht beklagen, sondern uns schweigend dem Herrn aufopfern und uns erinnern, daß Jesus Christus unendlich mehr für uns erduldet hat.
6. Ferner sollen wir sanftmütig und freundlich sein gegen alle, gegen Obere und Untergebene, Vornehme und Geringe, Verwandte und Fremde, besonders aber gegen die Armen und Kranken und am meisten gegen diejenigen, die uns abgeneigt sind.
7. Wenn wir jemanden wegen eines Fehlers zurechtweisen müssen, werden wir mit Sanftmut immer mehr ausrichten, als mit allen anderen Mitteln und Methoden, und deshalb sollen wir die Zurechtweisung niemals vornehmen, wenn wir in einer gereizten Stimmung sind; denn dann wird der Beweis immer bitter ausfallen, und wenn die Worte nicht bitter sind, wird es die ganze Art und Weise sein. Dasselbe gilt, wenn der Schuldige gereizt ist, weil dann der Verweis ihn noch mehr aufbringen wird, statt ihn zu sich zu bringen.
8. Ferner sollen wir die Großen dieser Welt nicht beneiden um ihre Reichtümer, Ehren, Würden und das Lob, das sie von den Menschen empfangen. Beneiden sollen wir nur diejenigen, die eine größere Liebe zu Jesus Christus tragen, und die gewiß glücklicher und zufriedener sind als alle Fürsten und Könige auf Erden. Auch sollen wir Gott unablässig danken, daß er uns erleuchtet und die Gnade verliehen hat, die Eitelkeit aller irdischen Güter zu erkennen, durch die so viele Unglückselige ewig verloren gehen.
9. Ferner sollen wir in allen unseren Gedanken, Worten und Werken nicht unsere eigene Befriedigung suchen, sondern nur das Wohlgefallen Gottes, und uns daher nicht beunruhigen, wenn uns unsere Unternehmungen nicht gelingen. Haben sie aber einen glücklichen Erfolg, so sollen wir nicht das Lob und den Beifall der Menschen suchen, und ebenso wenn wir Tadel und Widerspruch erfahren, uns hierüber keinen Kummer machen, sondern uns damit trösten, daß wir so gehandelt haben, um Gott, nicht aber den Menschen zu gefallen.
10. Die vorzüglichen Mittel, um zur Vollkommenheit zu gelangen, sind folgende: Erstens sollen wir uns bestreben, jede überlegte Sünde, wie gering sie auch sein möge, zu vermeiden. Sind wir aber so unglücklich gewesen, in einen
Fehler zu fallen, so wollen wir darüber nicht ungeduldig werden und uns nicht wider uns selbst erzürnen, sondern Reue und Leid und einen Akt der Liebe zu Jesus Christus erwecken, Ihm versprechen, den Fehler nicht mehr zu begehen, und Ihn um seinen Beistand anrufen.
11. Zweitens sollen wir wünschen, zur Vollkommenheit der Heiligen zu gelangen und aus Liebe zu Jesus Christus alles zu ertragen. Haben wir dieses Verlangen nicht, so sollen wir den Herrn bitten, daß Er es uns in seiner Barmherzigkeit verleihen wolle, denn ohne ein wahres und aufrichtiges Verlangen, heilig zu werden, werden wir es nie dahin bringen, auch nur einen Schritt auf dem Weg der Vollkommenheit zu machen.
12. Drittens sollen wir nicht bloß wünschen, sondern auch fest entschlossen sein, zur Vollkommenheit zu gelangen. Wer diesen Entschluß nicht gefaßt hat, wird alles nur mit einer gewissen Halbheit tun und nicht imstande sein, die Hindernisse und Schwierigkeiten, die sich ihm entgegenstellen, zu besiegen, während eine entschlossene Seele mit dem Beistand der göttlichen Gnade, die uns niemals fehlt, alles überwindet.
13. Viertens sollen wir täglich durch zwei Stunden oder wenigstens durch eine Stunde das innerliche oder betrachtende Gebet üben und außer dem Falle einer eigentlichen Notwendigkeit es niemals unterlassen, wie groß auch die Trockenheit und der Überdruß oder die Gemütsbewegung, in der wir uns befinden, sein möge.
14. Fünftens soll man mehrmals in der Woche die heilige Kommunion empfangen nach der Vorschrift des Gewissensführers, denn ohne die Einwilligung desselben darf dies nicht geschehen. Dasselbe gilt von den äußerlichen Abtötungen, von dem Fasten, den Bußgürteln, Disziplinen und ähnlichen Bußwerken. Wer sie nach seinem eigenen Gutdünken verrichtet, ist in Gefahr, entweder seine Gesundheit zu zerstören oder in Selbstgefälligkeit und geistlichen Hochmut zu geraten. Deshalb ist es notwendig, einen eigenen geistlichen Führer zu haben, sich seinem Gehorsam zu unterwerfen und mit ihm diese Dinge zu regeln.
15. Sechstens endlich sollen wir unablässig beten und in allen Nöten und Anliegen Jesus Christus um seinen Beistand bitten, und auch unseren Schutzengel, unsere heiligen Schutzpatrone, besonders aber die allerseligste Jungfrau Maria, durch die Gott alle Gnaden verteilt, um ihre Fürsprache anrufen. Es wurde schon am Schluß des achten Kapitels gezeigt, daß von dem Gebete unser Heil und unser geistlicher Fortgang abhängt. Vorzüglich sollen wir Gott täglich um die heilige Beharrlichkeit bitten: wer darum bittet, erhält sie, und wer nicht darum bittet, erhält sie nicht und geht zugrunde. Ferner sollen wir Gott um seine heilige Liebe bitten und um die vollkommene Gleichförmigkeit mit seinem heiligsten Willen und alle diese Gnaden im Namen und in der Kraft der unendlichen Verdienste Jesu Christi begehren. Diese Bittgebete aber sollen wir zuerst des Morgens, wenn wir aufstehen, verrichten, und sie dann bei der Betrachtung, bei der heiligen Kommunion, bei der Besuchung des allerheiligsten Sakramentes und abends bei der Gewissenserforschung wiederholen. Am nötigsten aber ist es, zur Zeit der Versuchung Gott um seinen Beistand zu bitten, um widerstehen zu können, besonders wenn es eine Versuchung gegen die Reinheit ist, und alsdann öfters die heiligen Namen Jesus und Maria anzurufen. Wer betet, überwindet, und wer nicht betet, ist schon überwunden.
16. Was die Demut betrifft, so sollen wir uns auf Reichtum, hohe Geburt, Ehrenstellen, Talente oder andere natürliche Vorzüge, die wir besitzen, nichts einbilden, und umso mehr gilt dies von den geistlichen Vorzügen, und uns immer erinnern, daß alle, besonders aber die letzteren, reine Geschenke Gottes sind. Wir sollen uns vielmehr für die schlechtesten von allen Menschen halten und uns daher freuen, wenn wir verachtet werden, und es nicht machen wie einige, die zwar dasselbe sagen, aber dann doch besser als alle anderen behandelt werden wollen. Wir sollen daher die Verweise, die uns gegeben werden, demütig annehmen und uns nicht entschuldigen, selbst wenn wir unschuldig sind, es müßte denn sein, daß die Rechtfertigung notwendig wäre, um Ärgernis zu vermeiden.
17. Um so mehr sollen wir uns hüten, vor der Welt erscheinen zu wollen und nach Ehre und Auszeichnung zu streben, und uns immer die große Wahrheit vor Augen halten, die der heilige Franziskus mit wenigen Worten ausgesprochen hat: „Wir sind das, was wir vor Gott sind.“ Noch schlimmer wäre es, wenn ein Ordensmann nach Ehrenämtern oder nach der Stelle eines Oberen in seinem Orden trachten wollte; denn ein Ordensmann hat seine Ehre darein zu setzen, der Demütigste von allen zu sein; der Demütigste ist aber derjenige, der die Demütigungen am willigsten und freudigsten annimmt.
18. Wir sollen unser Herz von allen Geschöpfen losschälen. Jede irdische Anhänglichkeit, wie geringfügig auch der Gegenstand sein möge, ist ein Hindernis, uns zu Gott aufzuschwingen und uns vollkommen mit Ihm zu vereinigen.
19. Insbesondere sollen wir keine ungeregelte Liebe zu unseren Verwandten tragen. „Alle Liebe, die wir den Geschöpfen zuwenden, entziehen wir Gott“, sagte der heilige Philipp Neri. Und handelt es sich um die Standeswahl, so müssen wir uns ganz besonders vor unseren Verwandten in acht nehmen, weil diese dabei mehr ihren zeitlichen Vorteil als unser geistliches Wohl vor Augen haben. Ferner sollen wir uns von allen menschlichen Rücksichten, von der Anhänglichkeit an die Hochachtung der Menschen und am meisten von der Anhänglichkeit an unseren eigenen Willen losschälen. Man muß alles verlassen, um alles zu gewinnen. „Alles für alles“, sagt Thomas von Kempen.
20. Wir sollen uns niemals erzürnen, was uns auch begegnen möge, und wenn uns zuweilen der Zorn überrascht, sogleich Gott um seinen Beistand anrufen und in diesem Zustande weder sprechen noch handeln, bis wir gewiß sind, daß die Aufwallung vorüber ist. Wir sollen uns deshalb bei dem innerlichen Gebete auf die widrigen Zufälle, die uns zustoßen können, schon im voraus vorbereiten, damit wir uns dann nicht verfehlen, und uns an das Geständnis des heiligen Franz von Sales erinnern: „Ich bin nie aufgeregt gewesen, ohne es später bereut zu haben.“
21. Alle Heiligkeit besteht darin, daß wir Gott lieben, alle Liebe Gottes aber besteht darin, daß wir seinen heiligsten Willen vollbringen. Wir müssen uns daher unbedingt und ohne Vorbehalt in alle Fügungen Gottes ergeben, alles Tröstliche oder Schmerzliche, das uns begegnet, aus seinen Händen annehmen, nach jener Vollkommenheit streben, die Gott von uns verlangt, und alle unsere Gebete auf das eine Ziel hinrichten, daß wir den heiligsten Willen Gottes in allen Dingen erfüllen mögen. Um aber gewiß zu sein, den Willen Gottes zu tun, sollen Ordensleute ihren Ordensoberen, Weltliche aber ihrem Gewissensführer gehorchen und für gewiß halten, was der heilige Philipp Neri sagte: „Über alles, was wir im Gehorsam tun, werden wir Gott keine Rechenschaft ablegen.“ Immer jedoch, wie sich von selbst versteht, unter der Bedingung, daß das Gebotene nicht augenscheinlich eine Sünde sei.
22. Es gibt zwei Mittel gegen die Versuchungen: die Ergebung und das Gebet. Die Ergebung: denn wenn die Versuchungen zur Sünde auch nicht von Gott kommen, so läßt Er sie doch zu unserem Besten zu; und deshalb sollen wir niemals ungeduldig und zornig werden, so lästig sie uns auch sein mögen, sondern uns in den Willen Gottes ergeben, der diese Versuchungen zuläßt, und um sie zu überwinden, uns mit dem Gebete waffnen, das unter allen Waffen die stärkste und sicherste ist, um alle unsere Feinde zu besiegen. Böse Gedanken, wie abscheulich oder gottlos sie auch sein mögen, sind keine Sünden, sie werden nur dann zu Sünden, wenn man darein einwilligt. Wenn wir immer sogleich die heiligsten Namen Jesus und Maria anrufen, werden wir niemals unterliegen. Gut und heilsam ist es auch, zur Zeit der Versuchung den Vorsatz zu erneuern, lieber sterben zu wollen als Gott zu beleidigen, ferner sich öfters mit dem heiligen Kreuzzeichen oder Weihwasser zu bezeichnen, wie auch die Versuchung seinem Beichtvater zu offenbaren; allein das Notwendigste ist und bleibt immer: daß man bete und Jesus und Maria um ihren Beistand und um die Kraft zum Widerstand anrufe.
23. In der Trostlosigkeit und geistlichen Verlassenheit sind es hauptsächlich zwei Tugenden, die wir zu üben haben: die Demut und die Ergebung. Wir sollen uns vor Gott demütigen und bekennen, daß wir es verdient haben, so behandelt zu werden, und wir sollen uns zugleich ganz in den Willen Gottes ergeben und in die Arme seiner Barmherzigkeit werfen. Wenn Gott uns mit seinem Trost heimsucht, bereiten wir uns auf große Trübsale, die gewöhnlich auf große Tröstungen folgen: und wenn Er uns mit der Trostlosigkeit heimsucht, vereinigen wir uns demütig mit seinem heiligsten Willen, und wir werden dann durch die Trostlosigkeit mehr gewinnen als durch die Tröstungen.
24. Endlich sollen wir uns noch gewisse Maximen oder geistliche Kernsprüche einprägen, die uns allezeit und in allen Lagen unseres Lebens den rechten Weg zum ewigen Leben zeigen werden: Alles auf Erden hat ein Ende, die Freuden wie die Leiden; die Ewigkeit aber endigt niemals. - Was nützen auf dem Sterbebette alle Reichtümer, Würden und Ehren dieser Welt? - Alles, was von Gott kommt, Glück und Unglück, Tröstliches und Schmerzliches, ist gut, und dient zu unserem Besten. - Man muß alles verlassen, um alles zu gewinnen. - Es ist unmöglich, ohne Gott einen wahren Frieden zu genießen. - Nur eines ist notwendig: Gott lieben und seine Seele retten. - Nur eines soll man fürchten: die Sünde. - Wer Gott verliert, hat alles verloren. - Wer nichts auf dieser Welt verlangt, ist der Herr der ganzen Welt. - Wer betet, wird selig; wer nicht betet, geht verloren. - Tun, was Gott wohlgefällig ist: und sterben. - Es möge kosten, was es wolle, der Himmel ist niemals zu teuer erkauft. - Demjenigen, der die Hölle verdient hat, kommt jede Strafe und jede Pein leicht vor. - Blicke auf Jesus am Kreuz, und du wirst alles dulden und ertragen. - Alles, was man nicht aus Liebe zu Gott tut, wird zur Plage und zur Pein. - Wer nichts will als Gott, ist reich an allen Gutem. - Selig, wer von Herzen sagen kann: Mein Jesus, Dich allein will ich und sonst nichts. - Wer Gott liebt, wird in allen Dingen Trost und Freude finden, und wer ihn nicht liebt, wird in nichts Trost und Freude finden.