Sechzehntes Kapitel

Die Liebe hofft alles.

Wer den Heiland liebt, hofft alles von Ihm.

1. Die Hoffnung vermehrt die Liebe, und die Liebe vermehrt die Hoffnung. Daß das Vertrauen auf die göttliche Güte eine größere Liebe in uns weckt, ist gewiß. Der heilige Thomas sagt: „Wenn wir hoffen, daß uns von jemanden Gutes zukommen werde, so fühlen wir uns zu ihm hingezogen, weil er für uns ein Gut ist, und so fangen wir an, ihn zu lieben“ (IIII, 40, 1). Der Herr will nicht, daß wir unser Vertrauen auf die Geschöpfe setzen: „Vertraut nicht auf Fürsten“ (Ps 145,2). Er spricht sogar den Fluch über denjenigen aus, der auf Menschen baut: „Verflucht der Mensch, der sein Vertrauen auf Menschen setzt“ (Jer 17,5). Der Grund aber ist, weil Gott nicht will, daß wir unsere Liebe den Geschöpfen zuwenden. „Wir sollen wohl acht haben“, sagt der heilige Vinzenz von Paul, „uns nicht auf die Gunst und den Schutz der Menschen zu stützen; denn Gott zieht sich zurück, wenn er sieht, daß wir unsere Stütze nicht in Ihm, sondern in den Menschen suchen. Je mehr wir dagegen auf Gott vertrauen, desto mehr werden wir Ihn lieben.“ „Den Weg deiner Gebote bin ich gelaufen, als Du mein Herz erweitert hast!“ (Ps 118,32) O wie läuft derjenige auf dem Weg der Vollkommenheit, dessen Herz sich durch das Vertrauen auf Gott erweitert hat! Er läuft nicht nur, er fliegt; denn da alle seine Hoffnung auf Gott beruht, so ist er nicht mehr so schwach und gebrechlich, wie wir es alle unserer Natur nach sind, sondern er ist stark durch die Kraft Gottes, die der Herr denen verleiht, die auf Ihn ihr Vertrauen setzen: „Die auf den Herrn hoffen, werden neue Kräfte erlangen, sie werden Flügel bekommen wie die Adler, sie werden laufen, ohne zu ermüden, sie werden wandeln und nicht schwach werden“ (Is 40,31). Wenn der Adler sich von der Erde erhebt und sich emporschwingt, kommt er in seinem Flug der Sonne immer näher: und so erhebt sich auch eine durch das Vertrauen auf Gott gestärkte Seele über alle irdischen Dinge, um sich Gott durch die Liebe immer mehr zu vereinigen.

2. Gleichwie aber die Hoffnung die Liebe vermehrt, so stärkt und befestigt hin und wieder die Liebe unsere Hoffnung, weil sie uns zu Kindern Gottes macht. In der natürlichen Ordnung der Dinge sind wir die Werke seiner Hände, in der übernatürlichen Ordnung aber sind wir durch die Verdienste Jesu Christi Kinder Gottes geworden, die Teil haben an der göttlichen Natur, wie der heilige Petrus bezeugt: „Durch den Er uns die größten und kostbarsten Verheißungen geschenkt hat, damit ihr Teilnehmer würdet an der göttlichen Natur“ (2 Petr 1,4). Und wenn die Liebe uns zu Kindern Gottes macht, so macht sie uns auch zu Erben des Himmelreichs; wie der heilige Paulus bezeugt: „Wenn aber Kinder, so sind wir auch Erben“ (Rom 8,17). Nun kommt es aber den Kindern zu, im Hause ihres Vaters zu wohnen, und den Erben kommt die Erbschaft zu: folglich stärkt und vermehrt die Liebe unsere Hoffnung auf das Himmelreich; und darum werden liebende Seelen nicht müde, Gott um die Erfüllung seiner Verheißungen zu bitten und unablässig auszurufen: Zu uns komme dein Reich!

3. Ferner liebt Gott denjenigen, der Ihn liebt: „Ich liebe, die mich lieben“ (Spr 8,17), und Er überhäuft mit Gnaden jeden, der Ihn mit einem liebenden Herzen sucht und nach Ihm verlangt: „Gütig ist der Herr der Seele, die Ihn sucht“ (Klgl 3,25). Wer also Gott mehr liebt, hofft mehr von seiner Güte. Das Vertrauen auf die göttliche Güte ist die Quelle, aus der die Heiligen jenen unerschütterlichen Gleichmut schöpfen, der ihnen selbst in den größten Leiden und Widerwärtigkeiten die Heiterkeit des Geistes bewahrt. Denn da sie Gott lieben und wissen, wie freigiebig Gott mit seinen Gnaden gegen alle ist, die Ihn lieben und auf Ihn vertrauen, so finden sie in dieser Überzeugung ihren Trost und ihren Frieden. Von der heiligen Braut im Hohenlied heißt es: „Wer ist die, welche aus der Wüste heraufsteigt, von Wonne überfließend und auf ihren Geliebten gelehnt“ (Hl 8,5). Da die Braut nichts liebte außer ihren Geliebten, stützte sie sich auf Ihn allein, und da sie wußte, wie dankbar Er der Seele, die Ihn liebt, diese Liebe vergilt, wurde sie mit Trost und Liebe erfüllt. O wie wahr ist es, was der Weise sagt: daß die Liebe alle anderen Güter und Gnaden in ihrem Gefolge hat. „Mit ihr sind mir zugleich alle Güter zugekommen“ (Weish 7,11).

4. Der erste und hauptsächliche Gegenstand der christlichen Hoffnung ist Gott selbst, weil uns verheißen ist, daß wir Gott selbst im Himmel besitzen und genießen werden. Wir dürfen jedoch nicht glauben, daß die Liebe durch diese Hoffnung beeinträchtigt werde; denn die Hoffnung auf den Himmel ist unzertrennlich mit der Liebe verbunden, die erst im Himmel sich vervollkommnet und ihre letzte Vollendung erlangt. Die Liebe ist jener unermeßliche Schatz, der uns zu Freunden Gottes macht, wie der Weise bezeugt: „Sie ist den Menschen ein unendlicher Schatz; und wer ihn benutzt, wird der Freundschaft Gottes teilhaftig“ (Weish 7,14). Der engelgleiche Lehrer sagt, daß sich die Freundschaft auf die Mitteilung der Güter gründe; denn da die Freundschaft nichts anderes ist als das gegenseitige Wohlwollen zweier Personen, so sei es notwendig, daß sie sich wechselseitig, so weit es jeder vermag, Gutes erweisen (II n, 65,5). Deshalb sagt der Herr zu seinen Jüngern, daß Er ihnen, als seinen Freunden, alle seine Geheimnisse mitgeteilt habe: „Euch aber habe ich meine Freunde genannt, weil ich euch alles, was ich von meinem Vater gehört, offenbart habe“ (Joh 15,15).

5. „Wenn wir den unmöglichen Fall setzen“, sagt der heilige Franz von Sales, „es könnte eine unendliche Vollkommenheit geben, zu der wir aber in keiner Beziehung stünden und mit welcher auf keine Weise eine Vereinigung oder Mitteilung stattfinden könnte, so würden wir sie gewiß viel höher achten als uns selbst, wir würden auch wünschen, sie lieben zu können; aber wir würden sie nicht lieben. Denn die Liebe strebt nach Vereinigung und beruht auf Freundschaft, das Fundament der Freundschaft aber ist die Mitteilung und ihr letztes Ziel die Vereinigung.“ Deshalb sagt auch der heilige Thomas: „Es gehört zum Wesen der Freundschaft, daß Freunde den wechselseitigen Umgang genießen und sich aneinander zu erfreuen suchen; der Lohn aber, der uns verheißen ist, besteht eben darin: daß wir Gott schauen und durch diese Anschauung Ihn besitzen und genießen werden; die Liebe schließt daher den Lohn nicht nur nicht aus, sondern sie bewirkt vielmehr, daß wir den Lohn immerfort vor Augen haben.“

6. Von dieser wechselseitigen Mitteilung der Gaben spricht die Braut im Hohenlied, wenn sie sagt: „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein“ (Hl 2,16). Im Himmel gibt die Seele sich ganz Gott, und Gott sich ganz der Seele hin, insoweit sie es fähig ist und nach dem Maß ihrer Verdienste. Da aber die Seele ihr Nichts im Vergleich mit der unendlichen Liebenswürdigkeit Gottes erkennt, da sie folglich erkennt, daß Gott unendlich mehr von ihr geliebt zu werden verdient als sie von Gott, so wünscht sie vielmehr das Wohlgefallen Gottes als ihre eigene Befriedigung. Sie freut sich mehr darüber, daß sie sich ganz Gott ergibt, weil Ihm dies wohlgefällig ist, als daß Gott sich ihr ergibt; und über diese Hingabe Gottes freut sie sich nur insoweit, als sie dadurch noch mehr zur Liebe entflammt und angetrieben wird, sich Gott mit einer noch innigeren und stärkeren Liebe zu ergeben. Sie freut sich über die Glorie, die Gott ihr mitteilt; aber sie freut sich nur, um dieselbe auf Gott zurückzuführen, und auf diese Weise, so viel an ihr ist, die Ehre, den Ruhm und die Herrlichkeit Gottes zu vermehren. Die Seele, die im Himmel Gott anschaut, kann nicht anders als Ihn aus allen Kräften zu lieben; und hinwieder ist es unmöglich, daß Gott eine Seele haßt, die Ihn liebt. Wenn dies aber möglich wäre, und wenn ein Seliger leben könnte, ohne Gott zu lieben, so würde er lieber die Peinen der Hölle unter der Bedingung leiden, daß er Gott liebe, obwohl Gott ihn haßt, als leben wollen, ohne Gott zu lieben, wenn er auch alle Freuden des Himmels genießen könnte. Und dies darum, weil die Seligen erkennen, daß Gott unendlich mehr verdient, geliebt zu werden, als sie es verdienen, und daher ein größeres Verlangen haben, Gott zu lieben, als von Gott geliebt zu werden.

7. Die Liebe hofft alles. Die christliche Hoffnung ist nach der Lehre des Petrus Lombardus und des heiligen Thomas „die zuversichtliche Erwartung der ewigen Seligkeit“. Diese Zuversicht gründet sich auf die untrügliche Verheißung Gottes, seinen treuen Dienern das ewige Leben zu geben. Da nun die Liebe die Sünde, und damit das Hindernis, um zur ewigen Seligkeit zu gelangen, hinweg räumt, so ist es klar, daß in dem Maße, als die Liebe größer ist, auch die Hoffnung die Reinheit der Liebe in keiner Weise beeinträchtigen kann, weil die Liebe, wie der heilige Dionysius der Areopagite sagt, ihrer Natur gemäß, nach Vereinigung mit dem geliebten Gegenstand strebt; und, wie der heilige Augustinus sagt, das goldene Band ist, das die Herzen des Liebenden und des Geliebten vereinigt. „Die Liebe ist wie ein Band, durch welches zwei miteinander verbunden werden.“ Da man sich aber in der Ferne nicht vereinigen kann, so wünschen Liebende sich immer die Gegenwart des Geliebten. Als die Braut im Hohenlied von ihrem Geliebten entfernt war, schmachtete sie nach Ihm und bat ihre Gefährtinnen, Ihm kund zu machen, welche Pein sie leide, damit Er komme und sie durch seine Gegenwart tröste: „Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, wenn ihr meinen Geliebten gefunden habt, Ihm zu melden, daß ich vor Liebe schmachte“ (Hl 5,8). Eine Seele, die eine wahre und große Liebe zu Jesus Christus hat, kann auf dieser Welt nicht leben, ohne zu wünschen und zu hoffen, bald in den Himmel zu kommen, um sich dort mit ihrem geliebten Jesus für immer zu vereinigen.

8. Verlangen, in den Himmel zu kommen und Gott zu schauen, nicht so sehr wegen der Seligkeit, die uns die Liebe zu Gott bereiten wird, sondern viel mehr wegen des Wohlgefallens, das Gott an dieser Liebe hat: dies heißt Gott mit einer reinen und vollkommenen Liebe lieben. Die Seligkeit, welche die Seligen in ihrer Liebe zu Gott empfinden, steht der Reinheit der Liebe nicht entgegen; denn sie ist mit der Liebe unzertrennlich verbunden, und die Seligen freuen sich viel mehr über die Liebe, die sie zu Gott tragen, als über die Seligkeit, die ihnen diese Liebe bereitet. Dagegen könnte eingewendet werden, daß das Verlangen nach der Belohnung eine Liebe, die ihren eigenen Vorteil sucht, und nicht die Liebe des reinen Wohlwollens sei. Allein man muß die zeitlichen Belohnungen, die Menschen uns versprechen, von dem himmlischen Lohne, den Gott uns verheißen hat, wohl unterscheiden. Die Belohnungen, welche die Menschen uns geben, sind immer etwas von ihren Personen Verschiedenes; denn wenn sie unsere Dienste vergelten wollen, geben sie sich nicht selbst, sondern nur etwas von den Gütern, die sie besitzen: der Lohn dagegen, den Gott den Seligen gibt, ist Er selbst: „Ich bin dein übergroßer Lohn“ (Gen 15,1). Nach dem Himmel verlangen und nach Gott verlangen ist daher dasselbe; weil Gott unser letztes Ziel und Ende ist.

9. Ich will hier noch einen Zweifel berühren, der einer Seele aufsteigen könnte, die Gott liebt und sich in allen Dingen mit seinem heiligsten Willen zu vereinigen sucht. Wenn ihr nämlich offenbart werden sollte, daß sie für ewig verworfen sei, wäre sie verbunden, sich darein zu ergeben und sich mit dem Willen Gottes zu vereinigen? Nein, antwortet der heilige Thomas, sie wäre hierzu nicht nur verpflichtet, sondern sie könnte nicht mal darin einwilligen, in einem Zustand zu leben, der notwendig mit der Sünde verbunden, und der Bestimmung, die Gott uns gegeben hat, entgegen ist. Denn Gott erschafft die Seelen nicht für die Hölle, wo sie Ihn hassen, sondern für den Himmel, wo sie Ihn lieben; Er will daher nicht einmal den Tod der Sünder, sondern daß sie sich bekehren und selig werden. Gott will nicht, sagt der englische Lehrer, das irgendeine Seele für ewig zu Grunde gehe, wenn sie sich nicht selbst durch die Sünde in das Verderben stürzt: wer daher in seine Verdammnis einwilligen wollte, würde sich nicht mit dem Willen Gottes, sondern mit dem Willen zu sündigen vereinigen. Wie aber: wenn jemandem der Beschluß seiner ewigen Verwerfung, den Gott in Voraussicht seiner Sünden gefaßt hat, offenbart würde, wäre er dann verpflichtet, in diesen Beschluß einzuwilligen? Auch dann nicht, sagt der englische Lehrer, denn eine solche Offenbarung müßte nicht wie die Ankündigung eines unwiderruflichen Beschlusses, sondern wie eine Drohung betrachtet werden, die nur dann in Erfüllung gehen wird, wenn der Sünder in der Sünde verharrt. (De veritate, qu. 3, art. 8)

10. Indessen soll man sich bei solchen traurigen Gedanken nicht aufhalten; denn sie dienen zu nichts, und es ist vielmehr zu besorgen, daß wir dadurch in unserem Vertrauen und in unserer Liebe erkalten könnten. Lieben wir Gott hier auf Erden, so viel wir es vermögen, seufzen wir unablässig danach, in den Himmel zu kommen und zu seiner Anschauung zu gelangen, und, wenn wir den Himmel hoffen, hoffen und verlangen wir ihn hauptsächlich aus dem Grunde, um dort Gott aus allen unseren Kräften lieben zu können. Es ist uns zwar das Gebot gegeben, schon hier auf Erden Gott aus allen Kräften zu lieben: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus allen deinen Kräften“ (Lk 10,27); allein dieses Gebot kann, wie der heilige Thomas sagt, hier auf Erden in seiner ganzen Vollkommenheit nicht erfüllt werden. Nur Jesus Christus, Gott und Mensch zugleich, und Maria, die heiligste Jungfrau, die voll der Gnaden und von der Erbsünde befreit war, haben es vollkommen erfüllt. Wir anderen elenden, sündigen Kinder Adams können Gott nicht lieben ohne Beimischung einiger Unvollkommenheit: erst im Himmel, wo wir Gott von Angesicht zu Angesicht schauen, werden wir Ihn aus allen unseren Kräften lieben, ja wir werden Ihn dort gar nicht anders lieben können.

11. Dies ist also das Ziel, auf welches alle unsere Wünsche, Seufzer und Gedanken und alle unsere Hoffnungen gerichtet sein sollen: in den Himmel zu kommen, um daselbst Gott zu besitzen, Ihn aus allen Kräften zu lieben, und uns über die grenzenlose Seligkeit und Herrlichkeit Gottes zu erfreuen. Allerdings freuen sich die Seligen ihrer eigenen Seligkeit in diesem Reiche ewiger Freude; allein ihre hauptsächlichste Freude, die alle übrigen in sich verschlingt, besteht in der Erkenntnis der unendlichen Glückseligkeit, die ihr geliebter Herr und Gott genießt, weil sie Gott über allen Vergleich mehr lieben als sich selbst. Jeder Selige würde aus Liebe zu Gott lieber auf alle seine Freuden verzichten und jede Pein erleiden wollen, als daß der Glückseligkeit und Herrlichkeit Gottes, wenn dies möglich wäre, auch nur das Allerwenigste mangele. Da sie aber erkennen, daß Gott unendlich glückselig ist und daß seiner Glückseligkeit durch alle Ewigkeit nichts mangeln könne, so ist diese Erkenntnis und dieser Gedanke ihr eigenes Paradies. In diesem Sinne sind auch die Worte zu verstehen, die der Herr zu jeder Seele spricht, die in den Besitz der ewigen Seligkeit geht: „Gehe ein in die Freude deines Herrn“ (Mt 25,21). Die Freude geht nicht in den Seligen ein, sondern der Selige geht in die Freude Gottes ein, weil die Freude Gottes der Gegenstand der Freude des Seligen ist. Die Güter Gottes sind die Güter der Sehgen, der Reichtum Gottes ist ihr Reichtum, die Seligkeit Gottes ist ihre Seligkeit.

12. Sobald eine Seele in den Himmel eingeht und in dem Lichte der Glorie die unendliche Herrlichkeit und Schönheit Gottes ohne Hülle und Schleier schaut, wird sie von Liebe ergriffen und verzehrt; sie geht unter in dem schrankenlosen Meere der göttlichen Vollkommenheit; sie vergißt sich selbst, und von der göttlichen Liebe berauscht, denkt sie nun mehr daran, ihren Gott zu lieben: „Sie werden trunken werden vom Überfluß deines Hauses“ (Ps 35,9). Ein Trunkener achtet nicht auf sich selbst, und so denkt auch die Seele im Himmel nur daran, ihren Geliebten zu lieben und Ihm zu gefeilen; sie wünscht, Ihn ganz zu besitzen, und besitzt Ihn in der Tat ohne die Furcht, Ihn je verlieren zu können; sie wünscht, sich Ihm in vollkommener Liebe hinzugeben, und sie erreicht, was sie wünscht, weil sie sich in der Tat in jedem Augenblick Gott ganz und ohne Vorbehalt hingibt: und Gott wiederum umfangt sie mit unendlicher Liebe und hält sie liebend umfangen und wird sie umfangen halten durch die ganze Ewigkeit.

13. Und so ist die Seele im Himmel ganz mit Gott vereinigt, sie liebt Ihn aus allen Kräften mit einer vollkommenen und vollendeten Liebe, mit einer Liebe, die zwar endlich ist, weil kein Geschöpf einer unendlichen Liebe fähig ist, die aber dessen ungeachtet sie so vollkommen sättigt und beseligt, daß ihr nichts zu wünschen übrig bleibt. Gott dagegen teilt sich der Seele mit, Er erfüllt sie mit seiner Liebe und mit seiner Herrlichkeit, insoweit sie es nach Maß ihrer Verdienste fähig ist; Er vereinigt sich mit ihr nicht bloß durch einzelne Gnadengaben, Erleuchtungen und Liebesbezeigungen, wie Er sich hier auf Erden mit den Seelen vereinigt, sondern in seiner Wesenheit. Gleichwie das Eisen im Feuer glühend und leuchtend wird und sich in Feuer zu verwandeln scheint, so wird die Seele von Gott durchdrungen und mit Gott erfüllt; und obwohl sie ihr eigentümliches Sein nicht verliert, so versinkt sie doch dergestalt in dem grundlosen Meere der göttlichen Wesenheit, daß sie sich gleichsam vernichtet fühlt, wie wenn sie es nicht mehr wäre. Dies ist das selige Los, das der Apostel seinen Jüngern wünschte: „Daß ihr erfüllt werden möget mit aller Fülle Gottes“ (Eph 3,19).

14. Und dies ist das letzte Ziel, das Gott uns in seiner unendlichen Güte vorgesetzt hat, und das wir in dem anderen Leben erreichen sollen. So lange daher eine Seele nicht dahin gelangt ist, sich mit Gott im Himmel zu vereinigen, wo die Vereinigung vollkommen ist, kann sie hier auf Erden ihre volle Ruhe nicht finden. Allerdings finden Gott liebende Seelen in der Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes den Frieden, aber nicht die volle Ruhe; denn diese können sie nur erlangen, wenn sie ihr letztes Ziel erreicht haben, wenn sie Gott von Angesicht zu Angesicht schauen und von dem Feuer der göttlichen Liebe durchdrungen und verzehrt werdea Solange sie bei diesem letzten Ziele nicht angelangt sind, haben sie keine Ruhe, sondern schmachten und seufzen und rufen mit dem Propheten: „Siehe, im Frieden meine bitterste Bitterkeit“ (Is 37,17).

15. Ja, mein Gott, ich lebe in diesem Tal der Tränen im Frieden, weil es so dein heiliger Wille ist; aber es ist nicht möglich, nicht die bitterste Bitterkeit zu empfinden, wenn ich sehe, daß ich von Dir entfernt und noch nicht vollkommen mit Dir vereinigt bin, der Du das Leben meines Lebens und mein alles bist und in dem ich allein meine volle Ruhe finden kann. Deshalb seufzten die Heiligen, wiewohl sie von einer glühenden Liebe zu Gott erfüllt waren, unablässig nach dem himmlischen Vaterland. „Wehe mir, daß mein Aufenthalt verlängert ist!“ (Ps 119,5) ruft der königliche Prophet aus. Und: „Ich werde gesättigt werden, wenn deine Herrlichkeit erscheinen wird“ (Ps 16,5). Ebenso rief der Apostel: „Ich habe das Verlangen, mit Christus zu sein“ (Phil 1,23). Und der heilige Franz von Assisi sagte: „Das Gut, das ich erwarte, ist so groß, daß es mir jeden Schmerz in Freude verwandelt.“ Alle diese Äußerungen sind der Ausdruck einer vollkommenen Liebe. Der heilige Thomas lehrt, daß es die höchste Stufe der Liebe ist, die eine Seele in diesem Leben erreichen kann, wenn sie ein sehnliches Verlangen hat, in den Himmel zu kommen, um Gott zu besitzen und sich mit ihm zu vereinigen: „Das Dritte ist, daß der Mensch hauptsächlich danach sich sehne, Gott anzugehören und Ihn zu genießen; und dies ist die Sache der Vollkommenen, die aufgelöst zu werden und mit Christus zu sein verlangen“ (IIII, 24, 9). Dieses Genießen Gottes aber besteht, wie schon oben bemerkt wurde, nicht so sehr in den Freuden, welche Gott der Seele verleiht, als in den Freuden, welche die Seele über die Glückseligkeit Gottes empfindet; denn die Himmelsbewohner lieben Gott mehr als sich selbst.

16. Die größte Pein, welche die heiligen Seelen im Fegefeuer zu leiden haben, ist ihre Sehnsucht nach dem Besitz Gottes; und diese Pein empfinden insbesondere diejenigen Seelen, die in diesem Leben ein geringes Verlangen hatten, in den Himmel zu kommen. Der Kardinal Bellarmin sagt, es gebe im Fegefeuer einen Kerker, welcher „der ehrenvolle Kerker“ genannt wird und wo die Seelen keine Peinen der Sinne erleiden, sondern nur den Schmerz über die Beraubung der Anschauung Gottes (Lib. 2. De Purg. c. 7). Der heilige Gregor, der heilige Vinzenz Ferrer, die heilige Brigitta und der ehrwürdige Beda führen mehrere Beispiele dieser Art an. Und diesen Schmerz erleiden die Seelen nicht als Strafe für begangene Sünden, sondern wegen der Kälte, womit sie den Himmel betrachteten, ohne sich danach zu sehnen. Viele Seelen streben nach Vollkommenheit, und doch sehen sie ihr letztes Ziel mit Gleichgültigkeit an, und es ist ihnen ebenso so lieb, noch länger auf dieser Welt zu leben; allein das ewige Leben, das uns Jesus Christus durch sein bitteres Leiden und Sterben verdient hat, ist ein zu großes Gut, als daß Er jene Seelen nicht strafen sollte, die hier auf Erden ein geringes Verlangen danach getragen haben.

Gebet

O mein Gott, mein Schöpfer und mein Erlöser, du hast mich für den Himmel erschaffen, du hast mich von der Hölle erlöst, um mich in dein ewiges Reich aufzunehmen: und ich habe Dich schon so oft beleidigt, ich habe Dir so oft erklärt, daß ich auf den Himmel verzichte und ewig verdammt sein wolle. Aber gebenedeit sei für immer deine unendliche Barmherzigkeit, die mich so oft dem Abgrund entrissen hat und, wie ich hoffe, mir verziehen hat. Ach mein Jesus, hätte ich Dich doch niemals beleidigt, hätte ich Dich doch immer geliebt! Mein einziger Trost ist, daß mir noch Zeit gegeben ist, Dich zu lieben. Ja, ich liebe Dich, o Leben und Liebe meiner Seele, ich liebe Dich aus dem Grunde meines Herzens, ich liebe Dich mehr als mich selbst. Ich sehe und habe es klar vor Augen, daß Du mich im Himmel haben willst, um Dich in diesem Reich der Liebe durch die ganze Ewigkeit zu lieben. Ich danke Dir, ich preise deine Barmherzigkeit, und ich bitte Dich, mir mit deiner Gnade beizustehen; denn ich will Dich lieben in dem Leben, das mir noch verbleibt, und zwar mit einer großen Liebe, damit ich Dich auf gleiche Weise durch die ganze Ewigkeit lieben möge. Ach, mein Jesus, wann wird der Tag kommen, wo ich mich von der Gefahr, Dich zu verlieren, befreit sehen, wo ich so von Liebe verzehrt sein werde, daß es mir unmöglich sein wird, Dich nicht zu lieben? O süße Notwendigkeit, o selige, o geliebte, o ersehnte Notwendigkeit, die mich von aller Furcht, Dir zu mißfallen, befreien und mich nötigen wird, Dich aus allen meinen Kräften zu lieben! Die Stimme meines Gewissens erschreckt mich; denn sie sagt mir: Wie kannst du den Himmel ansprechen? Allein deine Verdienste, mein geliebter Erlöser, sind meine Hoffnung. O Maria, Königin des Himmels, auf deine alles bei Gott vermögende Fürsprache vertraue ich.