Hl. Bernhard von Clairvaux über die Gottesliebe

 

1

Wer immer sich weigert, auf sanfte Weise von Gott sich lenken zu lassen, wird auf peinliche Art von seinem eigenen Willen gelenkt. Und wer das sanfte Joch, die leichte Bürde der Liebe abwirft, muss die unerträgliche Last seines eigenen Willens, selbst gegen seinen Willen, tragen.

2

Da wir fleischliche Wesen sind und aus der Begierlichkeit des Fleisches geboren werden, so muss notwendigerweise unsere Begierlichkeit oder unsere Liebe beim Fleisch beginnen. Erst müssen wir das Bild des irdischen Menschen tragen, ehe wir das Bild des himmlischen tragen. Anfangs also liebt der Mensch sich selbst und wegen sich selbst; denn Fleisch ist er, und weder fasst noch kostet er, was außer ihm liegt. Da er indessen einsieht, dass er durch sich selbst nicht bestehen kann und Gottes Hilfe ihm notwendig ist, so fängt er an, Gott durch den Glauben zu suchen und zu lieben. Und so erreicht seine Liebe zu Gott den zweiten Grad, indem er Gott seines Nutzens wegen, nicht aber um des höchsten Wesens willen selbst liebt. Fängt er nun an, von eigenem Bedürfnis getrieben, ihn zu verehren und durch Gedanken, Lesen, Gebet und Gehorsam mehr und mehr sich ihm zu nähern, dann wird, gleichsam durch allmähliche Vertraulichkeit, sein inneres Licht angefacht, er lernt Gott kennen und schöpft süßen Genuss aus dieser Kunde; und hat er einmal empfunden, wie süß der Herr ist, dann geht er zum dritten Grad über, dass er Gott nicht um des Nutzens, sondern um seiner selbst willen liebt. Lange weilt er in diesem Grad, und ich weiß nicht, ob es je einem sterblichen Menschen hienieden vergönnt ist, den vierten Grad der Liebe vollkommen zu erreichen, kraft dessen der Mensch auch sich selbst nur um Gottes willen liebt.

3

Mancher preist den Herrn, weil er mächtig ist, mancher preist ihn, weil er ihm gut ist, und mancher auch einfach darum, weil er gut ist. Der Erste ist ein Sklave und fürchtet für sich; der Zweite ist ein Söldner und wünscht etwas für sich; der Dritte ist ein Sohn und überlässt das Ganze dem Vater. Daher handeln beide, sowohl der fürchtet als der wünscht, für sich. Nur die Liebe, welche im Sohn ist, sucht nicht ihren Vorteil. Weder die Furcht noch die Eigenliebe wird je die Seele bekehren; wohl werden sie zuweilen den Handlungen eine andere Gestalt geben, aber nimmer werden sie die Neigungen ändern. Auch der Sklave wird zuweilen ein Werk Gottes verrichten; doch weil er es nur aus Zwang verrichtet, so erkennt man, dass er noch in seiner Verhärtung beharrt. Ebenso wird auch der Söldner Gutes tun; aber sein Streben nach Lohn wird bald offenbar, da er nimmer umsonst und aus uneigennützigem Gemüt handelt. Liebe zum Eigentum ist immer mit Eigensinn verbunden; der Eigensinn aber hat immer eigene Ecken und Winkel, und nimmer sind diese rein von Unrat und Rost. Es bleibt dem Sklaven sein Gesetz, die Furcht, wodurch er im Zaum gehalten wird. Es bleibt dem Söldner seine Begierde, wodurch auch er in Schranken gehalten wird, wenn er versucht wird, vom Guten abzulenken. Keine von diesen, weder die Furcht noch die Begierde, ist ohne Makel oder vermag die Seele zu bekehren. Die Liebe aber bekehrt die Seele und lehrt sie freiwillig und gerne handeln.

4

Einen heilsamen Zaum legt, o Mensch, das Gesetz des Lebens und der Mäßigkeit dir an, dass du nicht, nach deiner Begierlichkeit handelnd, zugrunde gehst; nicht mit den Gütern der Natur dem Feind deiner Seele, der Sinneslust, dienst. Ist es nicht gerechter und ehrbarer, dass du diese Güter teilst mit deinem Gefährten, das heißt, mit deinem Nächsten, statt sie an deinen Feind zu vergeuden? Leicht wirst du dann, was du dem Feind deiner Seele entziehst, dem Mitgefährten deiner Natur zuwenden. Mäßig und gerecht wird deine Liebe sein, wenn, was deinem eigenen Vergnügen entzogen wird, den Bedürfnissen deines Bruders nicht vorenthalten wird. Und so wird die fleischliche Liebe in gesellige Liebe umgewandelt.

5

„Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und alles dieses wird euch obendrein gegeben werden.“ [Lk 12,31] Auch dies gehört zur Gerechtigkeit, dass du demjenigen, der teilhat an deiner Natur, auch Anteil gibst an den Gaben, welche die Natur dir verliehen hat.

6

Unbefleckt nenne ich dies Gesetz der Liebe, weil es nicht das mindeste Eigentum sich vorbehält; hat sie aber nichts eigen, so ist offenbar alles, was sie besitzt, Gottes; in Gott aber kann nichts Unreines stattfinden.

7

Jene Liebe ist wahrhaft und aufrichtig und stammt aus einem guten Gewissen und ungeheuchelten Glauben, welche die dem Nächsten verliehenen Gaben wie die ihr selbst verliehenen liebt. Denn wer mehr oder etwa allein das Seinige liebt, der gibt einen offenbaren Beweis, dass er das Gute nicht echt liebe, da er es bloß um des eigenen Nutzens willen, nicht aber aus Liebe zum Guten liebt.

8

Nimmer wird die wahre Liebe leer ausgehen, jedoch ist sie nicht eine Liebe um Lohn; denn sie sucht nicht ihren Vorteil. Sie ist ein freier Akt unseres Herzens, kein Vertrag. Die Belohnung, die sie erwirbt, rührt von keiner früher eingegangenen Verbindlichkeit her. Aus freiem Antrieb belebt sie und macht den Menschen aus freiem Antrieb handelnd. Die wahre Liebe genügt sich selbst. Sie hat eine Belohnung, aber nur diese, dass sie geliebt wird.

9

Damit es vollkommen sei, den Nächsten zu lieben, muss Gott selbst die Ursache sein. Wie kann sonst der seinen Nächsten rein lieben, der ihn nicht in Gott liebt? In Gott aber kann ihn nicht lieben, wer Gott nicht selbst liebt. Es muss also zuerst Gott geliebt werden, damit in Gott auch der Nächste geliebt werden kann. Gott aber, der alles übrige Gute bewirkt, bewirkt auch, dass man ihn liebe.

10

Und so geschieht es, dass die uns durchdringende Lieblichkeit Gottes mit weit süßerer Gewalt zu seiner Liebe uns führt, als das Bedürfnis, das uns zu ihm leitet.

11

Die Ursache, Gott zu lieben, ist Gott; und das Maß dieser Liebe ist, ihn ohne Maß zu lieben. Und da die Liebe, welche nach Gott zielt, ins Unermessliche, ins Endlose zielt, denn unendlich und unermesslich ist Gott, welche Grenzen können wir unserer Liebe setzen?

12

Was wirst Du jener Seele sein, die Dich findet? Wie wunderbar bist Du! Niemand kann Dich suchen, er habe Dich denn früher gefunden. Du willst also, dass man Dich finde, damit man Dich suche, und dass man Dich suche, auf dass man Dich finde.

13

Hat die Seele endlich erlangt, was allein noch der Gegenstand ihres Wunsches war: Was vermag dann weiter sie zu hindern, dass sie gleichsam aus sich selbst herausgehe und ganz in Gott sich versenke, sich selbst umso unähnlicher werde, je höher ihr die Gabe wird, Gott ganz ähnlich zu werden?

14

O heilige und keusche Liebe, o süße und liebliche Empfindung, o reine und geläuterte Absicht des Willens! Umso reiner und geläuterter, als keine Mischung unseres Eigenwillens darin weilt, umso lieblicher und süßer, als alles in göttliches Gefühl übergeht! Von solchem Gefühl durchdrungen sein heißt vergöttlicht werden. Wie ein Wassertröpfchen, in Wein versenkt, beinahe ganz aufgelöst scheint und Geschmack und Farbe des Weins annimmt, wie ferner das glühende und feurige Eisen ganz ähnlich wird dem Feuer und seine frühere Form verlässt, und wie die vom Sonnenlicht ganz durchstrahlte Luft in dieselbe Klarheit überzugehen scheint, dass sie nicht sowohl erleuchtet, denn vielmehr das Licht selbst zu sein scheint, also wird auch auf unaussprechliche Weise der menschliche Wille in den Seligen aufgelöst und ganz in den Willen Gottes verwandelt werden. Denn wie würde sonst Gott alles in allem sein, wenn im Menschen noch etwas vom Menschen übrig bleibt? Es wird zwar das Wesen bleiben; aber in anderer Gestalt, in anderer Herrlichkeit und in anderer Kraft.

15

Dann berauscht er seine Geliebtesten, dann tränkt er sie aus den Strömen seiner Wonnen. Daher jene Sättigung ohne Ekel, daher jenes unersättliche Verlangen ohne Unruhe, daher jenes ewige und unerklärbare Verlangen, welches keinen Mangel kennt, daher endlich jene nüchterne Berauschung, welche sich mit Wahrheit, nicht mit Wein sättigt, welche nicht von Wein trieft, sondern von Gott glüht. Dort wird Gott aufs Höchste und nur wegen sich selbst geliebt, da wir auch uns selbst nur wegen Seiner lieben, auf dass Er selbst die Belohnung derjenigen sei, die ihn lieben, die ewige Belohnung jener, die ihn ewiglich lieben.

16

Wann wird Fleisch und Blut, wann das Gefäß aus Lehm, die irdische Hülle dies fassen? Wann wird, voll dieser süßen Empfindungen, das Gemüt des Menschen, ganz in seiner Liebe verzückt und seiner selbst vergessend, in Gott sich verlieren und ganz mit Gott vereint nur ein Geist mit Ihm sein? Selig und heilig der, dem verliehen ward, dies hienieden, in diesem sterblichen Leben, zuweilen, oder wenn auch nur ein Mal, nur flüchtig, wenn auch kaum eine Minute hindurch zu empfinden! Denn gleichsam in dir selbst zu zerrinnen, als ob du nicht wärest, ganz leer von dir selbst, ganz in heiliges Gefühl aufgelöst zu sein, das ward dem sterblichen Leben nicht verliehen, es ist ein Zustand der Seligen.

17

In seinem ersten Werk gab er mir mich selbst, im zweiten sich; und indem er sich mir gab, gab er mich selbst mir zurück.

18

Es wird uns nicht sowohl freuen das Ende unserer Trübsal oder die uns zuteil gewordene Glückseligkeit, als vielmehr die Erfüllung seines heiligen Willens in und durch uns zu schauen.

Bernhard von Clairvaux, De diligendo Deo [Über die Gottesliebe]

Johann Peter Silbert, Schriften des heiligen Bernhards, Band 1, Verlag Franz Josef Gaßmann, Solothurn 1824

Johann Baptist Mayer, Drei kleine Schriften des heiligen Bernhard, Verlag Georg Joseph Manz, Regensburg 1842