Schweizerisches Katholisches Sonntagsblatt, Nr. 22, 25. Oktober 2020
Als die Ärzte noch an Wunder glaubten
Heilung eines Kindes mit zwei Zungen
In der Nationalbibliothek zu Paris befindet sich unter 796 Bänden Kanonisationsakten, die Napoleon von der Ritenkongregation (Rom) nach Paris überführen ließ, auch die Akte Nr. H 912, zur Heiligsprechung Franz von Sales' (1567-1662).
Die ersten elf Blätter betreffen die folgende Heilung: Der Vater des geheilten Kindes, Jacob Richard, Bauer aus dem Dorfe Courbet in der Diözese Genf, berichtet: Am 1. Mai 1653 schenkte Gott mir ein Kind, das den Namen «Johannes Klaudius» erhielt. Bald nach der Entbindung, als die schlimmsten Schmerzen vorüber waren, wollte meine Frau ihm die Brust geben. Da konnte der Ärmste nur mit großer Mühe und Schwierigkeit die Brustwarze bekommen.
Sie (meine Frau) wollte wissen, warum es nicht ging, und sie öffnete Johannes Klaudius den Mund. Das tat auch in meiner Gegenwart die Hebamme Klaudia Travers, und sie stellten fest, dass er eine zweite Zunge hatte, nämlich unter der gewöhnlichen Zunge noch eine andere, die nach Form und Gestalt wie die erste war, nur dass sie nicht ganz so groß war. Dies war die Ursache für unglaubliche und überaus große Schwierigkeiten beim Saugen. Am meisten war zu beklagen, dass diese zweite Zunge von der Geburt an täglich wuchs und so groß wurde, dass jeder befürchtete, sie werde im Laufe der Zeit ihm den Schlund völlig verstopfen. In diesem Zustand blieb das Kind bis zum 7. September 1654. An diesem Tag kam ein berühmter Operateur, namens «Herr Hyazinth» in unser Dorf Courbet, Pfarrei Gruffy. Und weil dieser Operateur im Rufe stand, Krankheiten zu heilen, von denen die anderen Ärzte keine Ahnung hatten, brachten wir, meine Frau und ich, unser Kind zu ihm. Herr Hyazinth untersuchte sorgfältig das Bübchen in Gegenwart des Schlossherrn Franz Richard und anderer Personen, deren Namen ich nicht mehr weiss. Nachdem er sich die zweite Zunge genau angesehen hatte, sagte er, eine solche Operation sei etwas Außerordentliches, dass er sie nicht wage ohne Konsultation seines Kollegen, Herrn Darbanne. Ich sollte das Kind nach Annecy bringen.
Im gleichen Monat trugen meine Frau und ich das Kind nach Annecy, begleitet von meinem Schwager Jacob Plountier. Die beiden Operateure hatten den Mund des Kindes untersucht, und nachdem sie miteinander überlegt hatten, sagten sie zu meiner Frau und mir, sie könnten die Behandlung dieses Kindes nicht auf sich nehmen. Sie hätten wegen des gegenwärtigen Ablassfestes in Annecy an diesem Morgen gebeichtet, sie wollten uns nichts vortäuschen und sagen, sie können unseren Sohn heilen, um uns unser Geld aus der Tasche zu ziehen. Sie fänden diese Krankheit unheilbar, weil diese Zunge sich an einer Stelle befinde, dass es unmöglich sei, in sie zu schneiden, ohne den Kleinen in Lebensgefahr zu bringen, sie wüssten keine andere Hilfe, als zu Gott Zuflucht zu nehmen. Als wir das Haus der Operateure verließen, fühlten wir uns, meine Frau und ich, in gleicher Weise angetrieben, unser Kind zum Grabe des Dieners Gottes Franz von Sales zu bringen. Denn es hieß überall, Gott höre nicht auf, immer wieder Wunder zu wirken. Wir gingen also zusammen mit großem Vertrauen auf die Verdienste und die Fürbitte dieses Dieners Gottes in die Kirche des Heimsuchungsklosters. Wir hörten dort gegen 10 Uhr die Messe in der «Kapelle der Unschuldigen Kinder», wo er begraben ist. Gegen 11 Uhr baten wir, die Oberin dieses Klosters zu sprechen. Sie selbst sah die zwei Zungen. Wir baten sie um eine Sache, die dem Diener Gottes gehörte, denn wir hofften, dass bei einer Berührung damit unser Kind nicht sterben muss. Die Mutter Oberin gab meiner Frau ein Stückchen von dem Sarg, in dem der Leichnam des Dieners lag. Meine Frau nahm es mit großem Vertrauen und steckte das Stückchen Holz in den Mund unseres Jungen. Sogleich schmolz diese zweite Zunge dahin, ohne dass auch nur ein Schatten übrig blieb. Wir öffneten den Mund, und die Oberin sowie einige andere Schwestern, die zugegen waren, sahen es auch, ferner mein Schwager Jacob Plountier und der Patenonkel Anton Roland.
Von diesem Augenblick an hat unser Kind diese Beschwerde nicht mehr gehabt und erfreut sich heute noch bester Gesundheit.
(Quelle : Positio super aliis sex mi
carulis post obitum, Romae
1662
/
W.
Scbiamoni, 1976, S. 183-185)