I.
Das Atmen der Seele
Nicht nur die Lehre vom innerlichen Leben
birgt ihre Geheimnisse, sondern auch die praktische Ausübung und Betätigung des Innenlebens. Abgesehen von den vielen Fehlern, Vorurteilen, Mißverständnissen, falschen Auffassungen und Übertreibungen, die bei den Seelen den Erfolg in Frage stellen und auch bei strebsamen Seelen Klippen bilden können, an denen alles scheitert, gibt es noch Feinheiten des inneren Lebens, kleine Geheimnisse des Erfolges, die erfolgreichst wirken können.
Ein solches Geheimnis — ich möchte es das „Kleine Geheimnis des inneren Lebens“ nennen — soll an den Anfang gestellt werden.
Ich brauche wohl nicht eigens darauf hinzuweisen, daß alle nachfolgenden Darlegungen immer wieder gelesen werden sollen, um sie restlos zu verstehen und so auch wirklich in Fleisch und Blut überzugehen. Wie wertvoll wäre es daher für jene, die wochentags mit Arbeit überladen sind, wenn sie jeden Sonntag auf das Gelesene zurückgreifen wollten, da oft erst nach drei Wochen die volle Schönheit einer innerlichen Anregung sich uns erschließt und erst nach Wochen sich mit der erneuten Lesung die inneren Einsprechungen des Heiligen Geistes verbinden.
Atmen der Seele nennen wir das kleine Geheimnis.
Dies besteht
in der oftmaligen Wiederholung eines recht liebgewordenen Gedankens, besser gesagt: einer Idee, die uns voll und ganz anspricht. Dieser Gedanke sei kurz und klar und beziehe sich in besonderer Weise auf die Liebe, das Grundprinzip des ganzen inneren Strebens. Es kann ein Stoßgebet sein — muß es aber nicht sein — und geht meistens ganz eigene, persönliche Wege. Man kann sich verschiedene Formen wählen, je nach den einzelnen Stufen. Beispielsweise:
„Alles für Dich, heiligstes Herz Jesu!“ — „Jesus, ich habe Dich lieb — ich will Dir Freude machen!“ — „Heiland, Du hast mich lieb!“ — „Mein Herr und mein Gott!“ — „Jesus, ich möchte Dich lieben!“ (durch Maria) — „Jesus, Maria, ich liebe Euch, rettet Seelen!“ — „Heiligstes Herz Jesu, ich glaube an Deine Liebe zu mir!“ — „Herr, den ich tief im Herzen trage, sei Du mit mir!“ — „Heiland, ich will Dein Apostel sein!“ — „Jesus, bleib in meiner Seele!“ — „Heiland, ich schenke Dir meine ganze tiefe Herzensliebe“ (Mannesliebe, Frauenliebe, Jugendliebe) — „Heiland, ich will Dir treu bleiben!“ — „Heiligstes Herz Jesu, ich vertraue grenzenlos auf Dich — auf Deine Liebe!“
Man wähle sich nach reiflicher Überlegung das seinem Stande entsprechende oder entsprechend veränderte, der Seele zusagende und der Seelenverfassung am besten angepaßte Herzensgebet. Dabei bleibe man für längere Zeit, ohne viel zu wechseln mit dem zum „kleinen Geheimnis“ gewordenen Gedanken. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß die auch im Seelenleben so erfrischende Abwechslung unterbunden sei.
Im allgemeinen gilt: Man kommt ganz von selbst und am liebsten auf die gewählte Anmutung zurück: in ihr und durch sie atmet die Seele in der ihr eigenen Weise. Es werden dabei weder die Lippen bewegt noch sonst während der Arbeit auffällige Pausen gemacht, sondern: so rasch wie ein Gedanke geht das kleine Geheimnis durch die Seele. Und wie man tagsüber viele Atemzüge macht, ohne sie zählen zu können, so sollte die Seele viele Atemzüge machen — bei allen Gelegenheiten und bei allen Beschäftigungen, selbst bei der Erholung. Würden dabei irgendwie Sünden begangen, so schließt das natürlich ohne weiteres das kleine Geheimnis aus. Ein Liebesakt, ein Gedanke tiefer Liebesvereinigung verträgt sich mit einer Sünde ebensowenig wie Feuer und Wasser.
Die Kunst besteht nun darin, täglich, ohne uns von den seelischen Witterungen und Launen beeinflussen zu lassen, mit einer lieben Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit, solange wir unsere eigenen Gedanken haben können und haben dürfen, immer wieder bei den verschiedensten Gelegenheiten und in den Pausen zwischen unseren etwa stark ablenkenden (geistigen) Arbeiten aufs kleine Geheimnis zurückzukommen.
Ich betone hier eigens: solange wir unsere eigenen Gedanken haben dürfen, also für uns allein sind. Wenn eine Lehrerin von 8 bis 12 und von 2 bis 5 Uhr Schule hat und während dieser Zeit ihr „Geheimnis“ nicht fertigbringt, dann sage ich gar nichts dazu. Diese Zeit, die uns beruflich eben andere Gedankengänge aufnötigt, kann durch eine allgemeine gute Meinung geheiligt werden. Doppelte Gedanken — ein Schielen nach links und rechts — verlangt niemand. Das Bewußtsein der Gegenwart Gottes ist davon zu unterscheiden und auf einer höheren Stufe zu behandeln.
Dienstpersonal, Büro-, Bankangestellte, auch Priester und viele andere befinden sich oft — solange sie beruflich andere Gedankengänge verfolgen müssen — in einer ähnlichen Lage. Drum sage ich: nicht zwangsweise Doppelgedankengänge, aber vorher und nachher: in den Pausen, in der Freizeit, in jenen Stunden und Minuten, bei Geschäften und Arbeiten, Gängen, Besorgungen und Spaziergängen, wo wir unsere eigenen Gedanken haben können und dürfen — besonders aber morgens und abends.
Das alles also nicht zwangsweise mechanisch, sondern so wie die Spiralfeder, die mit einem Gewicht beschwert, gedehnt herabhängt, vom Gewicht befreit, aber ganz von selbst sofort hinaufschnellt: so auch die Seele. Sie mag eine Zeitlang stark abgelenkt gewesen sein (durch eine Rechnung, eine Zeichnung, einen unerwarteten Vorgang oder ein Ereignis), ohne Zwang ganz von selbst, aus Liebe und Eifer denkt sie wieder an das, was ihr am liebsten ist: das kleine Geheimnis. Dies ist gleichsam der Strom zum elektrischen Türöffner der Seele. Darin offenbart sich eben die Kraft Deines Herzensgebetes.
Nur dadurch, daß sich das kleine Geheimnis wie ein roter Faden durch unser tägliches Seelenleben hindurchzieht — nicht ungeordnet, sondern wie ein herrliches rotes Muster, eine Stickerei, Nadelmalerei auf feinem weißem Untergrund —, nur dadurch wird es ein Bestandteil unseres Innenlebens.
Und weil das kleine Geheimnis des Innenlebens nicht eine gedankenlos-mechanische Wiederholung einer Anmutung ist, sondern ein wirkliches Atmen der Seele darstellt, deshalb die großen, überraschenden Wirkungen, wenn man es beharrlich übt. —
Beharrlich muß man hierin sein: nicht Monate, sondern Jahre dauert es, bis das kleine Geheimnis uns zur zweiten Natur geworden ist. Dann aber übt es eine gewaltige Macht aus und vermag alle Bande der Sünde zu brechen: „Steter Tropfen höhlt den Stein!“
Dann wird man sehen und staunen, wie es Wunder seelischer Neuschöpfungen bewirkt. Viele haben gesagt: von da an hätten sie überhaupt erst gelebt. Das ganze Leben vorher sei ein Dahindämmern gewesen.
Das Wunderbarste daran aber ist die Verheißung Jesu an Schw. Consolata Betrone in neuester Zeit („Jesus spricht zur Weltu), daß man durch jeden Liebesakt einen Sünder retten kann.
Nicht übersehen werden darf, daß mit dem Wachsen des kleinen Geheimnisses ganz leise und fein ein gewisser zarter Opfergeist einhergehen muß. Das ist selbstverständlich. Man kann nicht sagen, man liebe einen Besuch, einen Gast, wenn man ihm keine Aufmerksamkeiten erweist. Die Liebe verlangt auch Betätigung: meist Opfer und Verzicht. Das kleine Geheimnis als Liebesgedanke bliebe unfruchtbar ohne das Salzkörnlein eines kleinen Opfers, eines kleinen Verzichts, der sich untertags eben ungesucht oft darbietet.
Einige Beispiele:
1. Anna, ein Kind von zehn Jahren, wählte sich als ihr kleines Geheimnis den Gedanken: „Jesus, ich hab’ dich lieb!“
Wenn Anna am Morgen erwacht, so ist ihr erster Gedanke: „Jesus, ich hab dich lieb!“ Sie denkt sich das recht freudig in ihrem jungen Herzen. Aber nicht bloß einmal. O nein, während sie sich erhobt und ankleidet, sagt sie es zehn-, zwanzigmal. Immerfort denkt sie daran und erweckt diese Anmutung, während sie sich wäscht und herrichtet. Beim Morgengebet, beim Frühstück, beim Gang zur Kirche und Schule denkt sie immer daran. Und wie oft meint ihr nun, bringt Anna das am Morgen allein schon fertig? — Zwanzigmal, wenn nicht öfter.
Das war erst am Morgen. Wenn nun Anna sich in der Kirche befindet, dann ist das erste, daß sie Jesus im heiligen Sakrament grüßt und recht viele Grüße ihm hinsendet, indem sie oft im Herzen die Anmutung erweckt: „Jesus, ich hab dich lieb!“
Ich habe kaum ein Mädchen gesehen, das andächtiger beten kann als die Anna. Wißt ihr jetzt warum?
In der Schule ist sie sehr aufmerksam, und dennoch denkt sie oft an ihr kleines Geheimnis; denn wie eingangs erwähnt, geht das so rasch wie ein Atemzug. Und dabei ist die Seele so glücklich. In der Pause spielt Anna mit ihren Kameradinnen, liebt aber dabei Jesus unaufhörlich. So handelt sie auch nachmittags bis in die Abendstunden hinein.
Für manche Schulkinder sind die Hausaufgaben eine schwere Sache. Bei weitem nicht alle obliegen dieser Aufgabe mit besonderer Freude. Vielleicht tun sie es sogar mit Widerwillen, mit einem mürrischen Gesicht und sind ärgerlich, wenn sie dabei gestört werden.
Anna war früher auch so, aber seitdem sie das kleine Geheimnis kennt, hat sie sich ganz verändert. Während sie ihre Aufgaben macht, hat sie nämlich viel Zeit, zwischenhinein immer wieder zu denken: „Jesus, ich hab dich lieb!“
Wenn sie auch jetzt einmal eine halbe oder dreiviertel Stunde so in Anspruch genommen ist, daß sie zu keinem anderen Gedanken kommt, das macht gar nichts. Aber sobald sie frei ist und ihre eigenen Gedanken haben kann, denkt sie nur immer wieder dieses kleine, liebe Geheimnis.
Anna hat diesen Gedanken an Jesus so lieb gewonnen, daß sie am Abend, bevor sie sich zur Ruhe begibt, sich eigens in ein Zimmer zurückzieht, dort voll Ehrfurcht niederkniet und nach dem Abendgebet noch einige Male ihr kleines Geheimnis betet. Dann leuchten ihre Augen, wenn sie sich zur Ruhe legt. Und wenn sie sich schon zur Ruhe begeben hat, so denkt sie immer noch das eine liebe Geheimnis: „Jesus, ich hab dich lieb!“ Mit diesem Gedanken schläft sie ein.
Wie hat nun das alles auf das Seelenleben Annas eingewirkt? Seitdem sie dies kleine Geheimnis so fleißig übt, hat ihr Tugendleben einen ungeahnten Aufschwung genommen.
Früher fiel ihr das Aufstehen am Morgen immer schwer. Jetzt bringt sie gern dieses erste Morgenopfer; sonst könnte sie ja nicht sagen: „Jesus, ich hab dich lieb!“ Wenn ihr etwas schwer vorkommt, kann sie sich herzhaft überwinden: denn sofort denkt sie: Wenn ich mich jetzt nicht überwinde, kann ich Jesus nicht liebhaben.
Der Gehorsam hat ihr früher manchmal zu schaffen gemacht, jetzt wundert sich die Mutter selbst über ihre Anna. Ja, wenn die Mutter das Geheimnis von all dem wüßte! Manchmal sagt sie erstaunt: „Anna, jetzt bist du ganz anders als früher. Woher kommt das nur?“ Anna lächelt und denkt sich: „Mein kleines Geheimnis gehört mir und meinem Jesus. Das wird nicht verraten.“
Neulich handelte es sich darum, durch eine kleine Lüge sich einen Vorteil zu verschaffen. Viele andere hätten es unbedenklich getan. Anna dachte an ihr kleines Geheimnis, und sofort stand bei ihr fest: Gelogen wird nicht! Ich kann nicht sagen: „Jesus, ich hab’ dich lieb“, und dabei lügen.
Ein anderes Mal verlangte die Mutter ein ziemlich großes Opfer. Es war ein schulfreier Nachmittag und dazu herrliches Wetter. Sonst nahm die Mutter sie immer mit, wenn sie fortging, diesmal nicht. „Anna, du mußt zu Hause bleiben.“ Und Anna wäre so gern mitgegangen! Wie schwer fügte sie sich. Es gab Bitten und Tränen, aber es half nichts. Kaum war die Mutter fort und das Kind in Versuchung, schmollend die Zeit totzuschlagen, da fiel Anna plötzlich wieder ihr kleines Geheimnis ein. Sie war fast erschrocken und glaubte in ihrem Innern die Worte Jesu zu hören: „Anna, du willst Mich liebhaben und kannst nicht einmal dieses kleine Opfer für Mich bringen! Schäme dich!“
Und Anna schämte sich wirklich, und das wandelte sie augenblicklich um. Als die Mutter heimkam, fand sie Anna nicht verdrossen im Schmollwinkel, wie es früher immer der Fall war, nein, es war wirklich zum wundern: mit leuchtenden Augen und mit so lieber Zärtlichkeit begrüßte Anna die Mutter. Das kleine, für ein Kind große Opfer hatte ihrem Wesen einen eigentümlichen Liebreiz gegeben.
Durch ihr kleines Geheimnis hatte sie dies erste Meisterstück fertiggebracht. Seitdem ist Anna Meisterin geworden, wenn es gilt, kleine Opfer zu bringen und der Mutter die Wünsche von den Augen abzulesen.
Es ging nicht ohne Kämpfe ab, bis Anna so wurde. Nun ist sie ein Engel der Liebe und Geduld, der Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit. Alle Versuchungen zur Sünde kann sie jetzt mit Leichtigkeit überwinden. Sie ist bewußt engelrein, sonst könnte sie ja nicht sagen: „Jesus, ich hab dich lieb!“ Sie hilft ihren Geschwistern, wo sie nur kann, und, seit sie das kleine Geheimnis kennt, tut sie all das mit einer Selbstverständlichkeit und einem Liebreiz, der stille Bewunderung abnötigt. Sie verzichtet auf vieles, weil sie sich denkt: Jetzt kann ich gleich beweisen, daß ich Jesus liebe.
Wenn man sie fragt: „Anna, was ist dein erster Gedanke am Morgen und dein letzter Gedanke am Abend?“, dann lautet die selbstverständliche Antwort: „Mein kleines Geheimnis.“
Anna war als Ferienkind aus der Stadt aufs Land gekommen. Nach drei Wochen kam die Bäuerin verwundert zu Annas Mutter und sagte: „Was haben Sie mir denn für ein Kind geschickt? Die hat ja meine Kinder ganz bekehrt. Der folgen sie mehr als mir. Jetzt beten meine Kinder wie sonst nie zuvor. Das haben sie alles der Anna abgeguckt.“
— Ja, das kleine Geheimnis!
Ist’s da zu verwundern, wenn man hört, Anna habe — inzwischen älter geworden — bei der letzten großen Volksmission ehemalige Mitschülerinnen, die auf Abwege geraten waren, bekehrt? — Ja, das kleine Geheimnis!
2. Drüben auf der Straße geht eben eine Frau vorbei. Sie ist innerlicher als man Frauen für gewöhnlich findet und hat wohl auch eine feinere Seelenverfassung. Niemand sieht ihr an, was sie denkt. Nur der Eingeweihte weiß, daß ein liebes Geheimnis sie von morgens bis abends begleitet, zu Hause und auf der Straße: „Jesus, bleib in meiner Seele!“ In diesen Gedanken war sie oft schon nach der heiligen Kommunion versunken. Dies ihr Geheimnis begleitet sie wie ein Schutzengel. Fragt sie selbst, ob sie — seitdem sie so das Atmen der Seele gelernt hat — nicht glücklich ist!
3. In der Maschinenfabrik einer größeren Stadt Bayerns ist ein mir gut bekannter Techniker angestellt. Er war nicht immer religiös, besser gesagt, seine Religion war ihm eine Zeitlang vollständig Luft. Wie sich seine Bekehrung vollzogen hat, brauche ich hier nicht zu schildern, aber nach seiner Bekehrung hatte er auch sein Geheimnis und hat es auch gelebt. Das weiß sonst niemand, das vermutet keiner, da er während seiner Berufsarbeiten in nichts auffällt. Und sein Geheimnis? Darf ich’s verraten? „Heiland, ich will Dein Apostel sein!“
Gewundert hat’s schon manchen, warum gerade dieser so überaus fleißig ist, alles sich auf ihn verlassen kann, warum er herzwarm-religiös ist und zuweilen sich auf seinem Angesicht eine Begeisterung ablesen läßt, die sonst nicht des Durchschnittsmannes Art ist. Und selbst die Priester, die diesen Mann als Laienapostel ungemein hochschätzen, wissen es nicht, was ihn innerlich so hervorragend gemacht hat. Das ist sein Geheimnis und das verrät er nicht einem jeden.