V.

Das große Geheimnis

 

Zum großen Geheimnis

wird man erst nach Jahren treuer Übung des kleinen Geheimnisses übergehen, wenn man nicht schon längere Zeit hindurch oder seit Jahren überhaupt ein hochstehendes Seelenleben geführt hat.

Das große Geheimnis zeigt sich hauptsächlich durch das Gebet der Ruhe, jenes erhabene Gebet, bei dem der Mensch eher schweigt und dabei seltsam tief ergriffen ist. Manche Seelen äußern dann die Befürchtung: sie könnten nicht mehr beten, brächten nichts mehr fertig, und wenn sie ein Gebetbuch zu Hilfe nehmen wollen, dann gelingt’s erst recht nicht. Warum? Der Heiland selbst beginnt gleichsam in diesen Seelen zu beten. Und dieses Gebet ist unvergleichlich schön. Die Seele braucht diesmal nur dem Zuge Gottes sich hinzugeben, zu lauschen. Dieses Gebet nähert sich mehr und mehr — wenn es auch nur hie und da eintritt — dem Engelsgebet. Das untrügliche Kennzeichen dieses Zustandes besteht in einem Hingerissensein zu Gott — schon beim Gedanken an Jesus: Gott, Heiland, Liebe usw., und man kann dann eine viertel, eine halbe Stunde lang nichts denken als diesen einen Gedanken der tiefen Liebe.

Es ist ein Zustand des Liebens, und beim großen Geheimnis findet die Liebe keine Worte mehr — sie schweigt, während innerlich der Heiland tätig ist. Der äußere Mensch findet sich in erhabener Gebetsverfassung.

Und man beachte: Hier handelt es sich nicht um Gebetsstimmungen, Gefühlsanwandlungen, sondern regelmäßig gibt Gott diese Art Begnadigung auf große Treue und große Opfer hin. Außerdem wird in diesem Zustand des Hingerissenseins zu Gott meist ein Sehnen nach Leiden, Opfern, Entäußerungen, Hingabe und Verzicht wachgerufen, ja sogar Entschlüsse heroischer Art werden gezeitigt, die vom Martyrium im Grad der Liebe nicht weit entfernt sind.

 

„Worte belehren, Bespiele reißen hin!“

Wir wollen die Gesinnungswelt strebsamer Menschen kennenlernen, indem wir einige von ihren Äußerungen hier folgen lassen.

 

1.   „Der liebenden Aufmerksamkeit des Heilandes gefiel es, mir jenes kleine Geheimnis der Liebe durch gottliebende Seelen zu offenbaren. Es machte einen großen Eindruck auf meine nach Liebe suchende Seele; denn in diesem schönen Geheimnis konnte ich Liebe finden und auch Liebe geben. Es war anfangs etwas schwer, öfter an dieses Geheimnis zu denken und es durch kleine Opfer zur Verwirklichung zu bringen. Mit Gottes Gnade aber trug ich doch den Sieg davon. Durch das Beispiel der kleinen Anna angeeifert, gelang es mir, die Zahl steigern zu dürfen. Mit der Zahl steigerte sich auch dessen Wirkung. Immer besser verstand ich die Worte: ,Mein Jesus, ich hab Dich lieb!‘

Des Heilands Liebe senkte sich tief — ja tief in mein Inneres durch dieses Geheimnis. Durch treues Üben dieses kleinen Geheimnisses machte ich Fortschritte im Innenleben. Es wurden echte Atemzüge der Seele, die mich im Kampf mit der Sünde am sichersten zum Sieger machten.

Dieses kleine Geheimnis der unendlichen Liebe ist mir nun zum großen Geheimnis geworden. Es ist ein ununterbrochenes Beten und Lieben in der ewigen Liebe.“

Jetzt verstehe ich das Wort Jesu: „Ihr sollt allzeit beten und niemals nachlassen“ (Lk 18, 1). — Damit ist das Herzensgebet gemeint.

Ja, ein ununterbrochenes Beten und Lieben in der ewigen Liebe!

 

2.      „Das kleine Geheimnis zu erlernen war für mich zunächst keine besonders große Kunst, denn ich hatte schon lange den stillen Wunsch: Jesus auf meine eigene, besondere Weise zu lieben. Natürlich hat mir da gerade die Idee dieses lieben Geheimnisses gleich zugesagt. Die Ausführung schien mir nicht schwer. Ich fühlte mich gedrängt, Jesus Freude zu machen. Allerdings habe ich in meinen ersten Anfängen öfter auf diesen lieben Gedanken vergessen. Aber innerhalb kurzer Zeit kam es ganz von selbst, so daß ich mich immer mehr mit dem kleinen Geheimnis vertraut machte. ‚Ganz von selbst’, sage ich; denn der liebe Heiland hat mein Herz mit seiner heiligen Liebe entflammt. — Für diese empfangene Liebe konnte ich auch nicht anders, als Ihm Liebe zu beweisen.

Ich habe bei diesen ersten Übungen des kleinen Geheimnisses viel innere Freude erfahren. Von ihr getragen, überflog ich — unbewußt — so manche Schwierigkeiten, die sich eingestellt haben. Gar bald kamen Tage der Prüfung, und da schien mir die Übung des kleinen Geheimnisses schwer. Es mußte erkämpft werden. Aber wenn man guten Willens ist, wird auch der härteste Kampf leicht. Mit aller Willensanspannung suchte ich von dem Irdischen abzusehen, um nur mehr an mein kleines Geheimnis zu denken. Es war schwer, aber es gelang mit der Gnade Gottes nach und nach durch viel, viel Gebet.

Ich hatte mich mit dem kleinen Geheimnis nach kurzer Zeit so vertraut gemacht, daß ich nicht mehr anders konnte. ,Mein Jesus, ich hab Dich lieb‘, dieser Gedanke war der erste am Morgen, der letzte am Abend. Immerfort mußte ich daran denken, an dieses liebe Gebet, bei all meinen Berufsarbeiten, in meinen Erholungs- und Ruhepausen.

Ich fühlte mich so froh und zufrieden, und niemand ahnte, was in meinem Innern vor sich ging. Niemand wußte von meinem Geheimnis.“

 

3.   „Was das innerliche Leben anbelangt, strebe ich darnach, alles möglichst einfach zu machen und in allem, was ich tue, das eine große Ziel vor Augen zu haben: den Heiland.

Ja, all mein Arbeiten und Mühen an mir selbst und an ändern soll nur für den Heiland sein, und deshalb sage ich oft untertags: ,Jeder Pulsschlag, Herr, für Dich — liebster Heiland, segne mich!“

,Treue im Kleinen’ ist jetzt mein Partikulare. Das soll meine Lebensaufgabe sein: alles, auch das Unscheinbarste, möglichst treu zu verrichten, um in allen Dingen Jesus zu verherrlichen. Jeden Tag will ich mir kurz notieren, wie der Tag verlaufen ist; ebenso wenn ich besondere Aufmerksamkeiten vom Heiland empfangen habe.

Neuestens kommt es mir vor, als würde ich gar nichts mehr fertigbringen. Je mehr ich die Treue im Kleinen üben will, desto schwieriger wird die Arbeit, desto unzufriedener bin ich mit mir selbst. Manchmal möchte ich weinen, habe es auch schon getan, weil ich gar nichts fertigbringe, und ich komme mir manchmal als ein recht unnützes, undankbares Geschöpf vor. Solche Augenblicke können mich aber nur ganz kurze Zeit entmutigen. Dann fange ich mit heiligem Eifer wieder an. Wenn ich dann einen prüfenden Blick in mein Inneres werfe, so sehe ich, daß der Grundgedanke doch immer der Heiland ist.

Eigenartig ist mein Gebet. Ich weiß nicht, wie ich mich da ausdrücken soll. Eine Betrachtung wie früher bringe ich nicht mehr fertig. Ich kann stundenlang mit einem Gedanken beschäftigt sein. Vor und nach der heiligen Kommunion ist es hauptsächlich ein Gedanke, der mich fesselt, in den ich mich vollständig verliere: ,Jesus, Du in mir und ich in Dir’. Es kommt mir diese Art Gebet, die ich da pflege, vor wie ein Ruhen im Heiland.

Ich bin in Gedanken bei Jesus, weiß aber nicht recht, was ich da bete. Habe schon das Gebetbuch zu Hilfe genommen, komme aber nicht weit. So verliere ich mich wieder in dem einen Gedanken: , Jesus’. (Das eben ist das Schöne und Eigenartige am höheren Gebet.) Nach der heiligen Kommunion bin ich jetzt meist trocken; fühle nichts mehr wie sonst, aber ich bin glücklich in dem Gedanken: Der Heiland will es so. Viele und große Aufmerksamkeiten vom Heiland sagen mir, daß Er mich liebt, obwohl ich Seiner Liebe nicht wert bin. Oh, wenn ich nur recht viel den Heiland verherrlichen darf.“

Wie schön! Wie tief! Wie ergreifend! Und während wir’s lesen, ist unser Herz entbrannt wie bei den Jüngern von Emmaus, wir fühlen es brennen in Herzen und Händen. Überwältigt von diesem Eindruck danken wir dem Heiland, daß es in unserer Zeit noch so herrliche Seelen gibt, und wir fügen das heilige Bittgebet an, auch etwas von dieser Tiefe zu erlangen: „Heiland, laß mich tief werden!“

 

Wie Feuer brennt es hinein,

Flammenworte sind’s, die jetzt auf einmal unsere Seele von selbst findet und spricht:

„Heiland, ich möchte Dich auch verherrlichen!“

Wir lauschen tief ergriffen dieser Sprache. Das war wieder ein großes Stück Himmel! — Ich glaube, viele lesen es zehnmal und können es nicht ergründen und ausschöpfen, was alles darin liegt. War’s nicht auch eine tiefe Betrachtung, die innerlich leuchtet und wärmt und auch uns antreibt, um jeden Preis dieses innerliche Leben zu erlernen?

Wir wollen all dem, was uns so tief ergreift, nichts anderes hinzufügen, als jenes Gebet, das alle Fortgeschritteneren und jene mit dem großen Geheimnis täglich morgens langsam — innig — und tief auswendig, kniend beten. Wir wollen uns auch niederknien und es zum ersten Male mit ganzer Innigkeit beten:

„O mein Gott, der Du mir so ganz nahe und gegenwärtig bist, ja sogar in mir armseligem Geschöpf zu wohnen Dich würdigst, siehe: ich gebe mich Dir jetzt hin mit meinem ganzen Wesen und vereinige mich mit Dir. — Bitte, lasse mich näher zu Dir und an Dein heiliges Herz kommen!

Gib mir die Gnade, ein braves, demütiges, vor der Welt verborgenes, engelreines Leben zu führen und für andere ein Schutzengel zu sein! Bitte, vermehre in mir die Gnade der Geduld, der Opferliebe und der Opferfreudigkeit, daß ich Dich immer mehr lieben darf — Dich, mein einziges, innigst geliebtes, höchstes Gut! ,Mein Jesus, ich hab’ Dich lieb!’ Dies mein Geheimnis möchte ich so oft wiederholen, als ich atme, um Dir meine ständige Liebe und Hingabe zu beweisen. Amen.“