XI.

WIR BRAUCHEN NICHT LANGE ZU SUCHEN

 

Die Anregungen zu einer Betrachtung

brauchen nicht nur aus Büchern geschöpft zu werden. Solche Anregungen können auch aus der Betrachtung eines Bildes sich ergeben. Wie schön deckt sich dann der Begriff „Betrachten“ des Bildes mit „Betrachten“ des geistigen Gehaltes!

So sah ich ein seltsames leeres Kreuz mitten in einem herrlich prangenden Lilienfeld, unten durch Dornen wohlbehütet, oben aber leuchtete es in alle Welt hinaus.

Was will dies mystische Kreuz uns sagen?

Schauen wir in eine höhere Welt hinein. Wir brauchen das Kreuz nicht zu suchen: wir finden es überall, an allen Wegen und Stegen, in unserem Leben, im Tagewerk, im Beruf, in der Not der Zeit, auf der Straße, im Büro, in der Werkstatt, im Haus.

Tage- und nächtelang verfolgt uns das Kreuz — und merkwürdig: es hängt immer der Heiland daran, und wir müssen ihm immer ins Auge schauen, als wollte Er uns das Recht nehmen, zu klagen und zu jammern und zu murren, eben weil Er zuerst daran hing. Daran erinnert mich das schöne IHS-Zeichen in der Mitte. Je länger ich dieses Kreuz im Geiste betrachte, desto mehr ladet es mich ein, eine Betrachtung darüber zu halten.

Gut, probieren wir’s gleich!

Nach dem kurzen Vor- und Leitgedanken stehen wir schon vor dem Hauptgedanken:

Das Kreuz wie ein feuriger Schein inmitten der hochragenden Lilien: helle Strahlen gehen aus nach allen Seiten. Der Heiland hängt nicht daran, aber Sein Zeichen, Seine Einladung steht darauf geschrieben.

Da braucht’s nicht viel zum zündenden Funken: Das Kreuz inmitten der Lilien ist nicht das selbst verschuldete Kreuz, sondern das selbst gewählte — aus Liebe —, aus reinem Lilien-Herzensgrund herausgewachsen.

Dieses Kreuz aus Liebe trägt Erlösergluten in sich.

Flamme: Heiland! Du meinst also, dieses Kreuz soll ich mir zu eigen machen? Du meinst wohl: ich selbst soll meine Hände darbieten und an dieses Kreuz legen: ich soll mich statt Deiner annageln lassen? — Ob verschuldet oder unverschuldet — ob früher gefehlt oder nicht — ganz gleichgültig — aber aus Liebe. — — — Ja, Heiland! Das will ich. Das ist mein Streben, mein Verlangen. Eine Opferseele, „Erlöser“seele sein!

Feuer: Eine Opferseele werden: das ist schon lange mein Wunsch. Nun, da Du mir so lieb Dein Kreuz anbietest, will ich meine Arme ausspannen, will die Nägel, die Dornen, die Opfer nicht mehr fürchten. Die Liebe ist stärker als der Tod! Dein Kreuz ist Dein Bekenntnis — mein Kreuz, das ich liebend umfassen und küssen will, sei mein Glaubensbekenntnis.

Ja, jetzt erkenne ich es: wenn ich nicht murre, beim Einkaufen nicht immer schimpfe über das Warten, die schlechte Laune der Herrschaft geduldig ertrage, die Kränklichkeit, die Schwäche, die Abgespanntheit, die Müdigkeit einfach mit in Kauf nehme, weil das eben so sein muß, so breite ich freiwillig meine Arme aus zum Annageln. Welcher Unterschied zwischen Weltkindern und Gotteskindern! (Stelle dich fünf Minuten in einen Warenladen unter die Einkäufer, und du hast im Nu deren Gesinnung erkannt.)

So will ich denn opfern, immer wieder opfern! Und wenn es mich verdrießen will — wenn ein unheimlicher Unmut erwacht, dann schaue ich dieses Kreuzbild an inmitten der Lilien, Dornen und Feuersgluten. Wie oft habe ich mich dann niedergekniet — in Ergebung — und es ist wieder gut weitergegangen. — Heiland, Du weißt es!

Bewahren: Eine unangenehme Arbeit wartet meiner. Wie hat mich das immer so erregt, so reizbar gemacht. Es ist ein wahres Kreuz. Ich kann es nicht ändern — muß es tragen — nein, ich will es tragen. Mein Geheimnis hilft mir darüber hinweg. Heiland, so nimm denn meine Hände, die ich Dir immer weggezogen habe. Ich lege das Kreuzlein vor mich hin. Mein Blick fällt oft darauf. Mein Kreuz, mein Golgatha, mein Gethsemane. Heiland, Du weißt es!

Bewähren: Erst neulich traf ich wieder so eine recht „schöne Seele“. Welche Kreuze verbergen sich hinter ihrem Leben! Und diese Kreuze haben sie tief und schön und edel gemacht. Mir kommt es vor, als hätte ich auf ihrer Stirne auch dieses Kreuz erblickt. Und alle großen Seelen haben das! Also Vorbilder genug!

Bewachen: Ich will mich zusammennehmen, daß mir dieses Kreuzbild nicht mehr aus dem Sinn kommt.

Heiland, sei Du meine Kreuzesliebe, meine Opferliebe!

 

Ich erinnere mich an ein Bild:

Die brennende Fackel inmitten von Feuerbränden. Was sagt mir das?

Ich denke beim Funken an die Worte des Heilandes: „Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu bringen, und was will ich anderes, als daß es brenne.“

Flamme: „Ja, brenne in mir — in mir. Du heilige Gottesflamme, glüh’ und erlösche nie!“

 

Wie oft sah ich in strahlender Schönheit

das herrliche Bild der aufgehenden Sonne. So ging in mir und in vielen das Ahnen von Innerlichkeit auf. So war’s, als das kleine Geheimnis den Seelengarten gleich einer leuchtenden Sonne überflutete! Die Blumen öffnen sich! Hat die Sonne nicht herrliche Blumen seitdem in deinem Seelengarten hervorgezaubert?

Funke: „Welche Tugendblume hat denn in mir die Sonne hervorgezaubert?“

Flamme: „Seitdem bin ich ein anderer Mensch“, sagst du. „Was steckt hinter diesem Wort für ein reicher Inhalt?“

 

Ein anderes Bild zeigte mir Jesus

mit Seinen ausgebreiteten Armen.

Ja, ganz so kam Er zu uns durchs kleine Geheimnis. Ganz so lernten wir Ihn lieben. Und unsere vielen früheren Lippengebete und Gebetbuchgebetsmühlen schrumpften durchs kleine Geheimnisse zusammen, bis dann im großen Geheimnis — als dem inneren Gebet —, das Reden mit Gott groß wurde und die Seele im Gebet vor dem Tabernakel nur noch stammeln konnte: „Jesus — Jesus.“

Und so wie auf diesem Bild gingen auch dann in der Seele die wundervollen Rosenknospen auf, die der Heiland wachgeküßt hat, und zuvor nie geahnte Sterne begannen am Seelenhimmel zu leuchten.

Funke: „Mein Freund, sprich, hab ich nicht als Dein Heiland einen Himmel voll Seligkeit in Deine Seele hineingezaubert?“

Flamme: „Ja, Heiland, jetzt danke ich Dir so wie die hl. Klara, daß Du mich geschaffen hast; denn Wunderbares hast Du am Himmel meiner Seele geschaffen. Bisher habe ich Dir noch nie gedankt, daß Du mich geschaffen hast, daß ich geboren wurde. Ich war tot. Du hast mich zum Leben erweckt.“

 

Irgendwo las ich

die geheimnisvolle Inschrift: „Ausharren“. Drei Kreuze stehen um dieses Wort wie auf den Märtyrergräbern der Katakomben.

Nur nicht mutlos werden, wenn’s mit dem Geheimnis manche Tage nicht nach Wunsch geht, wenn die Seele gleichsam erdrückt zu werden droht vor Arbeit! Nur im tiefsten Innern die Freundschaft mit dem Geheimnis nicht kündigen! Und wenn tage- und wochenlang ein Ekel auftritt, dann wisse, daß der Teufel es dir verleiden will, und Jesus — schweigt!

Und in diesem Schweigen Christi liegt die große Probe, die jeder durchgemacht haben muß. Was weiß denn einer, der nichts durchgemacht hat! Wie kann es einem das Kostbarste werden, wenn man nicht darum gerungen hat, — so wie Jakob mit dem Engel: eine ganze Nacht.

 

Auf einem anderen Bild

sah ich etwas Erschütterndes: Die Lilie von der Schlange, von Wüstlingen bedroht, von der eigenen bösen Begierde und Leidenschaft bedroht.

Du hast oft mit Gott gehadert durch tausend „Warum...?“ Siehst du das Auge Gottes in der Mitte? „Heiland, Du weißt es, Du wußtest es!“ Die Lilie ohne Kampf — im Glaskasten — ist nicht viel wert! Was weiß der, der für seine Reinheit nichts durchgemacht hat? Und selbst seine Besten, die Märtyrinnen, hat der Heiland nicht geschont. Aber die Lilie blieb unversehrt. Der Heiland wußte es.

Flamme 1: Unnahbar allen, die uns im geringsten nahetreten wollen. Den Tabernakel in uns lassen wir nicht verunehren. Nie! Lieber...

Flamme 2: „Heiland, gib mich nicht meinen Leidenschaften preis!“

 

***

 

So ergibt sich aus unscheinbaren Anregungen oft ein reicher Stoff. Und dies eben ist das Eigentümliche der echten innerlichen Seelen, daß sie nie fertig werden mit dem, was sich in solcher Fülle darbietet. Die anderen aber wissen nicht, was eigentlich ihnen überhaupt noch etwas abgibt: „Wer hat, dem wird noch gegeben.“