XII.

UNENTWEIHT

 

Hat die unentweihte Seele

überhaupt schon viel den anderen voraus in Erfassung dessen, was Gott ist, so lohnt es sich, die unentweihte Seele selbst zum Gegenstand der Betrachtung zu machen.

Ein gar anmutiges Bild sah ich da einmal: Eine Seerose, glänzend weiß, darüber eine Krone im Strahlenschein schwebend. Man könnte es nennen:

 

„Das Geheimnis des Königs.“

Funke: Es ist, als spräche der Heiland zur Seele: „Diese Blume ist noch würdig, wie sie ist, in Gottes Garten gepflanzt zu werden, worin der Herr wandelt und sich sagen kann: Sie blühte noch keinem anderen als Mir; keiner pflückte sie mit frevelhafter Hand; sie senkte noch nie ihr Köpfchen weich und farblos unter dem vergifteten Hauch der Nacht. Sie ist ganz Mein — ganz rein.“

Flamme: Ja, Heiland, dieses Wort will ich mir zu eigen machen: Ganz Dein — ganz rein! Und war früher ein Frost über die schöne Seerose während einer Nacht gekommen, dann soll das Geheimnis des Königs heißen: Die nicht mehr — nie mehr entweihte Seele. Ich weiß, Du bist damit zufrieden.

Feuer: Über junge Seelen kommen Versuchungen, oft recht stürmisch, recht leidenschaftlich. Ich weiß, es handelt sich um ein Blümlein „Rühr mich nicht an“, wenn es nicht notwendig ist oder keinen vernünftigen Grund hat. Aber die Gedanken! O diese Marter!

Jugendlich-ringende Seelen könnten da ganz trostlos werden, wenn in ihnen der Wille zur Reinheit da ist. Ich weiß, was ich tue. So wie die schönen weißen Blumen um die Seerose im Lichtglanz sich winden, so soll mein Inneres nur von solchen übernatürlich-schönen Blumen ausgeschmückt sein. Meine Gedanken sollen sein wie eine Kette von Blumen.

Ich will nur das denken, was dem Heiland Freude macht.

Das ist die wahre Innerlichkeit.

So der Segen des innerlichen Lebens!

So das Atmen innerlicher Seelen.

Bewahren: Gut, das will ich heute gleich durchführen. Mein kleines Geheimnis soll mir dazu verhelfen. Wie schön müßte das sein, wenn ich einmal gar nichts anderes mehr denken dürfte, denken könnte als nur mein Geheimnis. Ich glaube, das wäre oder ist schon der Himmel.

Hat nicht gerade dieses „Beharrlich-an-den-Heiland-denken“ oft alle Versuchungen siegreich niedergeschlagen? Sofort, fast augenblicklich ist der Friede und die Ruhe in meiner Seele hergestellt. Ja, wie ganz anders als früher. Jetzt kann ich gar nichts anderes mehr denken, als was dem Heiland Freude macht. Meine Seele wird und bleibt ein klarer engelreiner Spiegel. Ich weiß bestimmt, daß dieses Königsgeheimnis wunderbar hilft. Andere Gedanken kommen einfach nicht auf.

Bewähren: Borkowski erzählt in seinem Werk „Reifendes Leben“ von jenem geheimnisvollen Gefühl heiliger Scheu und Ehrfurcht, das den Menschen überkommt, wenn er ein noch nie betretenes Stück Erde zuerst mit dem Fuß berührt oder in einen Wald eindringt, den auch zuvor noch niemand betreten hat. Es ist ihm, als störe er die geheimnisvolle Weihe und verscheuche den Geist Gottes, der bisher allein über diesem „jungfräulichen Stück Land“ schwebte. Der feinfühlende Mensch denkt dabei an jene heilige Ehrfurcht, die unbewußt in seiner Brust verborgen lag: an die Liebe zur Jungfräulichkeit, Keuschheit und Unversehrtheit: Ehrfurcht und heilige Scheu, die er empfindet bei der Nähe eines Leibes, der sich der Keuschheit anvermählt hat, in der Gegenwart einer Seele, die nur reine Gedanken und Wünsche hegt, weil sie eben nie anders dachte, als was dem Heiland Freude machen konnte.

Wie wunderbar ist dieses Geheimnis! Wer es bei sich trägt — Tag und Nacht —, der bewahrt das Lilienwappen völlig unentweiht, Gottes Siegel bleibt unerbrochen. Ja, so will ich’s machen: bei Tag und Nacht es in mir tragen.

Bewachen: Da muß ich an ein nettes Geschichtchen denken. Klein-Mariechen hat bei einer Tante um die Weihnachtszeit Besuch gemacht und am Schluß zum Abschied ein wohlverpacktes Paketchen als Geschenk mit der Weisung bekommen: „Kind, gib Obacht, daß du nichts zerbrichst, es sind feine, zarte Sachen!“ Wie wird da das Kind diese kostbare Last so vorsichtig tragen! Auf dem ganzen Nachhausewege denkt es daran, welche Überraschung es fürs Mütterlein und die Geschwister sein wird, sobald sie das Auspacken anfängt. Der Arm wird nicht müde vom Tragen, das Herz nicht matt vom hurtigen Gang: Es ist eine süße Last, ein liebes Geheimnis.

Dort kommt auf der Straße ein Trupp Arbeiter, die den ganzen Gangsteig einnehmen. Schnell ist Mariechen drüben auf der anderen Seite der Straße. „Es könnte ein Arbeiter unbedacht oder unfein ihr Paketchen beschädigen und dann —.“ Sie mag es gar nicht ausdenken, was dann für eine Trauer wäre. Lieber macht sie einen weiten Bogen, als ihr herrliches Geschenk in Gefahr zu bringen.

Richtig, dort ist eine Schar Straßenbuben und Gassenmädchen, da heißt’s erst recht weit aus dem Wege gehen. Und Mariechen schlägt eine Seitenstraße ein. Diese Gassenkinder könnten sie anhalten, sie ausfragen, ihr Paketchen untersuchen wollen oder gar wegnehmen. Und dann — es wäre zum Weinen traurig.

Nun muß sie noch mit der Straßenbahn fahren. Aber, o weh, der Wagen ist so voll, und sie weiß, die Menschen nehmen oft auf ein zartes Kind keine Rücksicht; sie drücken und stoßen und sind gar nicht fein. Wie wird das gehen? Aber es bleibt nichts übrig, wenn sie mitkommen will. So steigt sie denn ein. Sie spricht ein kurzes Gebet zum Schutzengel. Oh, dieser liebe Engel, sie weiß es, der trägt gewiß Sorge. Aber sie selbst will auch nichts außer acht lassen. Mit beiden Händen schützt und umklammert sie ihren kostbaren Schatz. Es geht hart — aber es geht.

Endlich am Ziel. Oh, dieses Glück! Und die Mutter! Und die Schwestern! Alle mit leuchtenden Augen — und am allermeisten freut sich Mariechen.

Ihr Geschenk in zerbrechlichem Gefäß, zart und fein, hat sie durch alle Gefahren hindurch siegreich in Sicherheit gebracht. Und deshalb jetzt dieser Jubel, diese Freude.

Warum habe ich diese Geschichte erzählt?

Weil jedes ein Geschenk vom Himmel erhalten hat — zart und fein und gut verwahrt vor den frechen Blicken und Berührungen anderer: Das ist die heilige Reinheit.

 

Jetzt will ich noch einmal

das Ganze überdenken und damit in mir die jetzt gewonnene Erkenntnis vom Himmelsgeschenk aus dem Paradies, das als Siegel eine Lilie im Wappen hat — bestärken. Und dann will ich damit vergleichen — Zug um Zug — die Gefahren, die auch meiner „Lilie“ drohen.

Heiland, sei Du meine Reinheit!

Man fühlt, daß es sich bei all dem um göttliche Werte handelt!